Betreuung von Kindern mit Behinderung in Kindertagesstätten ohne Beteiligung eines Trägers der Eingliederungshilfe zulässig

AG Bergisch Gladbach, Urteil vom 22. Mai 2020 – 61 C 138/20

Die Betreuung von Kindern mit Behinderung in Kindertagesstätten ist gem. § 2 Abs. 6 Satz 1 CoronaBetrV ohne Beteiligung eines Trägers der Eingliederungshilfe zulässig.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Der Beklagte wird verpflichtet, dem gemeinsamen Kind der Kläger, K.M., geboren am XX.XX.XXXX, den Zugang zu den Räumlichkeiten der Beklagten in Str. , 51XXX C, zum Zwecke der Kindertagesbetreuung in der Zeit von montags bis freitags von 08:00 Uhr bis 12:30 Uhr, jedoch längstens bis zum Beginn des Mittagessens, zu gewähren.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand
1
Die Kläger sind die Eltern des minderjährigen Kindes K.M., geboren am XX.XX.XXXX. Der Beklagte ist Träger einer integrativen Kindertagesstätte. In der Kindertagesstätte werden behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam betreut. Der Grad der Behinderung von K.M. beträgt ausweislich des Bescheides des Rheinisch-Bergischen Kreises vom XX.XX.XXXX, Geschäftszeichen 55TPXXXXXX, 30 (dreißig). Die Behinderung führt zu einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit. Es liegen folgende Beeinträchtigungen bei K.M. vor: Beidseitige Aphakie mit Kontaktlinsenversorgung nach OP eines beidseitigen congenitalen Cataract, Nystagmus und Amblyopie. Die umgangssprachlich als „Grauer Star“ bezeichnete Beeinträchtigung kann, soweit sie unbehandelt bleibt, zur Erblindung führen. K. M. trägt seit drei Jahren eine Aphakie- bzw. Starbrille. Hierbei handelt es sich um eine Brille mit lupenartigen Gläsern.

2
Am 30.11.2016 schlossen die Parteien einen mit „Betreuungsvertrag“ überschriebenen Vertrag über die Aufnahme von K. M. in der Einrichtung Str. , 51XXX C im Umfang von 35 Stunden mit Mittagessen.

3
Das Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen informierte am 11.05.2020 Eltern, deren Kinder u.a. in Kindertageseinrichtungen betreut werden, und Träger, Leitung und Personal von Kindertageseinrichtungen u.a. wie folgt:

4
„Ab dem 14.05.2020

(…)

5
Zudem dürfen Kinder mit Behinderungen und Kinder, die von einer wesentlichen Behinderung bedroht sind, und bei denen dies von einem Träger der Eingliederungshilfe festgestellt wurde, wieder in Kindertageseinrichtungen oder in Kindertagespflegestellen betreut werden. (…)“

6
Das Land Nordrhein-Westfalen, Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen, informierte auf der Internetseite www.land.nrw/de/wichtige-fragen-und-antworten-zum-corona-virus über die aktuelle Rechtslage in Bezug auf die Kinderbetreuung u.a. wie folgt:

7
„Gelten Kinder mit Sprachentwicklungsverzögerungen auch als Kinder mit Behinderung?

8
Nicht per se. Entscheidend ist, dass bei Kindern mit Behinderungen oder bei Kindern, die von einer wesentlichen Behinderung bedroht sind, dies von einem Träger der Eingliederungshilfe festgestellt wurde.

9
Gelten Kinder, die Frühförderung bekommen, auch als Kinder mit Behinderung?

10
Nicht per se. Entscheidend ist, dass bei Kindern mit Behinderungen oder bei Kindern, die von einer wesentlichen Behinderung bedroht sind, dies von einem Träger der Eingliederungshilfe festgestellt wurde.“

11
Mit Email vom 12.05.2020 lehnte die Beklagte den Antrag der Kläger, K.M. ab dem 14.05.2020 in der Kita zu betreuen, nach Rücksprache mit dem Jugendamt und dem LVR mit der Begründung ab, K habe aktuell keinen Bescheid für eine Eingliederungshilfe und somit keinen Platz mit einem erhöhten Betreuungsbedarf. Er falle nicht unter die Ausnahme vom Betretungsverbot nach § 2 Abs. 1 und 6.

12
Die Kläger sind der Ansicht, K.M. falle unter die Ausnahmeregelung in § 2 Abs. 6 Satz 1 CoronaBetrVO NRW.

13
Die Kläger beantragen,

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den Beklagte bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung fälligen Ordnungsgeldes bis zu 25.000 EUR, ersatzweise Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, oder einer Ordnungshaft bis zu 6 Monaten, zu verpflichten, dem gemeinsamen Kind der Verfügungskläger, K.M., geboren am XX.XX.XXXX, den Zugang zu den Räumlichkeiten der Beklagten zum Zwecke der Kindertagesbetreuung von montags bis freitags von 08:00 Uhr bis 12:30 Uhr, jedoch längstens bis zum Beginn des Mittagessens, zu gewähren.

15
Der Beklagte beantragt,

16
den Antrag zurückzuweisen.

17
Der Beklagte ist der Ansicht, die Kläger seien nicht prozessführungsbefugt, weil sie im eigenen Namen ein fremdes Rechts geltend machten. Die Kläger machten eine Ausnahme zum behördlichen Betretungsverbot bezogen auf ihren Sohn K.M. geltend.

18
Der Beklagte ist weiter der Ansicht, bei K.M. lägen die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 6 Satz 1 CoronaBetrVO NRW nicht vor. Neben der Behinderung sei als weitere Voraussetzung erforderlich, dass ein Bescheid des Trägers der Eingliederungshilfe vorliege, in dem der zusätzliche Förderungsbedarf festgestellt worden sei, was bei K.M. unstreitig nicht der Fall ist. Dass diese Interpretation dem Willen des Verordnungsgebers entspreche, ergebe sich bereits aus den Ausführungen auf www.land.nrw/de/wichtige-fragen-und-antworten-zum-corona-virus und aus § 2 Abs. 6 CoronaBetrVO in der Fassung vom 09.05.2020.

19
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien und die sonstigen zur Akte gereichten Unterlagen.

Entscheidungsgründe
20
Der Antrag ist zulässig und begründet.

21
Die Kläger sind prozessführungsbefugt. Die Kläger sind berechtigt, über das streitige Recht einen Prozess im eigenen Namen zu führen. Die Prozessführungsbefugnis entspringt der behaupteten Inhaberschaft des geltend gemachten Rechts (Vollkommer, in: Zöller, ZPO, 31. Auflage, Vor § 50 Rn. 18). Das von den Kläger geltend gemachte Recht resultiert aus dem zwischen den Parteien geschlossenen Betreuungsvertrag und nicht aus § 2 CoronaBetrVO. Die Kläger sind Parteien des Betreuungsvertrags, aus dem sich ihr Anspruch gegen die Beklagte auf Aufnahme von J M in der Einrichtung der Beklagten ergibt.

22
Der Antrag ist begründet.

23
Die Kläger haben einen Verfügungsanspruch durch Vorlage des Bescheides des Rheinisch-Bergischen Kreises vom 04.11.2019, Geschäftszeichen 44S0555444, von eidesstattlichen Versicherungen der Kläger vom 13.05.2020, des Betreuungsvertrages vom 30.11.2016 und der außergerichtlichen Emailkorrespondenz der Parteien glaubhaft gemacht. Die Kläger haben gegen den Beklagten einen Anspruch auf Betreuung ihres Sohnes K.M. im beantragten Umfang aus dem am 30.11.2016 geschlossenen Betreuungsvertrag. Der Anspruch ist nicht durch § 275 Abs.1 BGB i.V.m. § 2 Abs.1 CoronaBetrVO ausgeschlossen. Nach letzterer Bestimmung haben zwar alle Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflegestellen und Heilpädagogischen Kindertageseinrichtungen in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich Kindern im Alter bis zur Einschulung, Schülerinnen und Schülern sowie deren Erziehungsberechtigten bzw. Betreuungspersonen den Zutritt zu Betreuungsangeboten zu untersagen. Zugunsten der Betreuung von K. M. greift indes die Ausnahme gemäß § 2 Abs. 6 Satz 1 CoronaBetrVO. Von Absatz 1 ausgenommen sind danach in Kindertageseinrichtungen oder in Kindertagespflegestellen betreute Kinder mit Behinderungen und Kinder, die von einer wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn dies von einem Träger der Eingliederungshilfe festgestellt wurde. Die Voraussetzungen von § 2 Abs. 6 Satz 1 CoronaBetrVO liegen im Fall von K.M. vor. K.M. ist ausweislich des Bescheides des Rheinisch-Bergischen Kreises vom 04.11.2019 ein Kind mit Behinderung. Da der Verordnungstext insoweit nicht zwischen wesentlicher und unwesentlicher Behinderung differenziert, genügt dieser Voraussetzung auch ein Grad der Behinderung von 30.

24
Anders als von der Beklagtenseite ausgeführt, setzt die Ausnahme nach § 2 Abs. 6 Satz 1 CoronaBetrVO bei Vorliegen einer Behinderung nicht voraus, dass der Träger der Eingliederungshilfe zusätzlichen Förderungsbedarf in Bezug auf das zu betreuende Kind festgestellt hat. Der Zusatz „wenn dies von einem Träger der Eingliederungshilfe festgestellt wurde“ bezieht sich schon rein sprachlich lediglich auf „Kinder, die von einer wesentlichen Behinderung bedroht sind“ und nicht auf Kinder mit Behinderung. Sollte anderes der Fall sein, lautete der Wortlaut für Kinder mit Behinderung wie folgt: Ausgenommen sind Kinder mit Behinderung, wenn dies von einem Träger der Eingliederungshilfe festgestellt wurde. Rein sprachlich würde sich „dies“ dann auf das Ausgenommensein beziehen, bei gewolltem Bezug auf die Behinderung müsste es „diese“ heißen. Eine solche Regelung ergäbe im Übrigen auch inhaltlich wenig Sinn. Denn wie die Parteien übereinstimmend in der mündlichen Verhandlung vom 20.05.2020 vorgetragen haben, stellt der Träger der Eingliederungshilfe nicht eine Behinderung fest, sondern den zusätzlichen Förderungsbedarf eines Kindes. Ein solcher ist als Bezugspunkt des „dies“ in der Norm aber gar nicht erkennbar. Vom Träger der Eingliederungshilfe ist damit nur zu beurteilen, ob ein Kind ohne Behinderung bei ausbleibender Betreuung von einer wesentlichen Behinderung bedroht ist.

25
Soweit sich der Beklagte für seine Auslegung auf die Information des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen sowie die Auskünfte unter www.land.nrw/de/wichtige-fragen-und-antworten-zum-corona-virus bezieht, können diese schon deshalb nicht für einen etwaigen Willen des Verordnungsgebers herangezogen werden, weil sie nicht vom Verordnungsgeber stammen. Verordnungsgeber ist das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales. Eine frühere Fassung der Verordnung mit einem den Informationen des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen entsprechenden Wortlaut vermochte das Gericht darüberhinaus nicht zu finden.

26
§ 2 Abs. 6 Satz 2 CoronaBetrVO steht dem Anspruch der Kläger nicht entgegen. Die Beklagte führt keine heilpädagogische Kindertagesstätte. Unter heilpädagogischer Einrichtung versteht man sog. Sonderkindergärten, in denen ausschließlich Kinder mit Behinderung betreut werden (Verena Göppert/Markus Leßmann, in: Praxis der Kommunalverwaltung, § 1 KiBiz, 2.1.4). Die Beklagte betreut Kinder mit und ohne Behinderung.

27
Die Kläger haben durch Vorlage der eidesstattlichen Versicherungen vom 13.05.2020 einen Verfügungsgrund glaubhaft gemacht. Der Verfügungsgrund besteht grundsätzlich in der Besorgnis, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Gläubigers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, § 935 ZPO. Einstweilige Verfügungen sind gemäß § 940 ZPO auch zum Zwecke der Regelung eines einstweiligen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, sofern diese Regelung, insbesondere bei dauernden Rechtsverhältnissen zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die Kläger haben durch ihre eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht, dass für K. M. wegen seiner Behinderung die Interaktion mit gleichaltrigen Kindern sowie die räumliche Wahrnehmung besonders wichtig sind. Die Beklagte bietet besondere heilpädagogische Förderung gerade auch im Hinblick auf die Behinderung von K.M.. Die Einrichtung hat heilpädagogische Materialien und Spiele angeschafft, die in besonderer Weise geeignet sind, die Motorik und optische Wahrnehmung zu fördern und die aus der Behinderung resultierenden körperlichen und motorischen Defizite zu kompensieren. Die weitere Vorenthaltung kann zu erheblichen Rückschlägen in der weiteren Entwicklung von K.M. führen.

28
Dem Antrag der Kläger, der Beklagten Ordnungsgeld bzw. Ordnungshaft anzudrohen, war nicht zu entsprechen, da sich die Vollstreckung des einstweiligen Verfügungsurteils nach § 887 ZPO und nicht nach § 890 ZPO richtet.

29
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Einer Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit bedarf es nicht. Dieser bedarf es nur bei Urteilen, die einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückweisen, § 708 Nr. 6 ZPO.

30
Streitwert: 2.000 EUR (reduzierter Regelstreitwert)

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