Zur Frage, welche Stromleitungen die Bahn bei Brückenbauarbeiten abzuschalten verpflichtet ist

BGH, Urteil vom 28.09.1993 – VI ZR 183/92

Zur Verpflichtung der Bahn, bei Brückenbauarbeiten über den Gleisen den Strom nicht nur in der Fahrleitung, sondern auch in der von der Arbeitsstelle seitlich entfernteren Speiseleitung abzuschalten.

(Leitsatz des Gerichts)

Tatbestand
1
Im Zusammenhang mit der Verlegung der B 6 in B. mußten über der Bahnstrecke von B. nach O. Brückenbauarbeiten ausgeführt werden. Den Zuschlag für diese Arbeiten erhielt eine Arbeitsgemeinschaft (ARGE), an der die O. KG beteiligt war.

2
Zur Vorbereitung der Brückenarbeiten war im April/Mai 1984 ein Leergerüst über den Gleisen errichtet worden. Dabei hatten Mitarbeiter der ARGE mit der Deutschen Bundesbahn und dem Amt für Straßen- und Brückenbau Absprachen über die Abschaltung der stromführenden Oberleitungen getroffen. Nach Abschluß der Brückenarbeiten sollte das Gerüst im August/September 1984 wieder abgebaut werden. In der Nacht vom 25./26. August 1984 fiel bei diesen Arbeiten eine Holzbohle von dem Baugerüst auf die etwa fünf Meter entfernt verlaufende Speiseleitung. Zu dieser Zeit war lediglich die stromführende Fahrleitung abgeschaltet. Der Polier der O. KG wies den Arbeiter J. an, die Bohle zu entfernen. Als dieser sich der unter Strom stehenden Speiseleitung näherte, sprang ein Funke über und verletzte J. schwer.

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Die Klägerin nimmt die beklagte Bundesbahn aus übergegangenem Recht des J. (§ 116 SGB X) für die von ihr erbrachten Leistungen in Höhe von 97.551,31 DM auf Schadensersatz in Anspruch und begehrt außerdem die Feststellung, daß die Beklagte auch für den weiteren Schaden einzustehen habe.

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Das Landgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat sie nur zu 2/3 für gerechtfertigt gehalten; im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Mit der Revision erstrebt die Beklagte die volle Abweisung der Klage.

Entscheidungsgründe
I.

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Das Berufungsgericht nimmt an, daß die Beklagte dem Arbeiter J. und damit der klagenden Berufsgenossenschaft aus übergegangenem Recht zum Ersatz des bei dem Unfall entstandenen Schadens nach § 2 HaftpflichtG, §§ 823, 831 BGB verpflichtet ist, und zwar bis zur Höhe der Quote, für die die für den Arbeitsunfall ebenfalls verantwortliche O. KG im Innenverhältnis einzustehen hätte, wenn sie sich als Arbeitgeberin des J. nicht auf das Haftungsprivileg der §§ 636, 637 RVO berufen könnte. Diesen Haftungsanteil der Beklagten im Verhältnis zur O. KG bemißt das Berufungsgericht auf 2/3. Es ist der Auffassung, daß sowohl die Beklagte als auch die O. KG an der Entstehung des Schadens ein Verschulden trifft, daß aber der Haftungsanteil der Beklagten als Betreiberin der Anlage höher einzuschätzen sei. Das Verschulden der Beklagten sieht das Berufungsgericht darin, daß sie zur Unfallzeit nur die Fahrleitung und nicht auch die Speiseleitung abgeschaltet habe. Dazu sei die Beklagte aber unabhängig von etwaigen Einzelabsprachen mit Mitarbeitern der O. KG wegen des hohen Risikos verpflichtet gewesen, wenn Arbeiten durchgeführt wurden, bei denen die Bauteile über der Oberleitung bewegt wurden.

II.

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Das Rechtsmittel der Beklagten ist begründet.

7
Der rechtliche Ausgangspunkt für die Einstandspflicht der Beklagten ist allerdings zutreffend. Dagegen wendet sich die Revision auch nicht. Jedoch hält die Begründung, mit der das Berufungsgericht ein Verschulden der Beklagten bejaht, revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand.

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Das Berufungsgericht stellt bei der von ihm angenommenen Pflicht zur Abschaltung beider Leitungen zu Unrecht allein auf den vertikalen Abstand der Gerüstteile zu den darunter befindlichen Stromleitungen ab, ohne dem seitlichen Abstand der Gerüstarbeiten zu der Speiseleitung eine Bedeutung beizumessen.

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1. Im Anschluß an die Aussage des Zeugen A. hält das Berufungsgericht für unstreitig, daß die Entfernung zwischen den Gerüstteilen, die es zu beseitigen galt, und den Oberleitungen (Fahr- und Speiseleitung) nur je 35 cm im Zwangspunkt betrug, also dem absoluten Mindestabstand entsprach. Diese Feststellung steht entgegen der Auffassung der Revision nicht im Widerspruch zu dem beiderseitigen Parteivortrag. Es ist zwar richtig, daß die Parteien übereinstimmend stets davon ausgegangen sind, daß die Entfernung zwischen den Gerüstteilen, an denen gearbeitet wurde, und der Speiseleitung 5 Meter betrug, was auch das Berufungsgericht im Tatbestand seines Urteils als unstreitig wiedergibt. Damit ist jedoch der seitliche Abstand der an diesem Tage durchgeführten Gerüstarbeiten zu der Speiseleitung gemeint, während das Berufungsgericht mit seiner Feststellung, die Entfernung habe unstreitig nur jeweils 35 cm betragen, ersichtlich den Höhenabstand zwischen den Gerüstteilen und den jeweiligen Leitungen im Auge hatte. Gegen die Richtigkeit dieser Höhendifferenz wendet sich die Revision nicht.

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2. Angesichts dieses geringen Höhenabstandes war es nach Auffassung des Berufungsgerichts erforderlich, beide Leitungen abzustellen, wenn Arbeiten durchgeführt wurden, bei denen die Bauteile über der Oberleitung bewegt wurden. Die Notwendigkeit hierzu entnimmt es dem Umstand, daß Gerüstarbeiten in unmittelbarer Nähe der unter einer Spannung von 15.000 Volt stehenden Leitungen hoch gefährlich seien, was sich auch in den “Schutzregeln zur Verhütung von Unfällen” vom 1. Januar 1976 widerspiegele, in deren Nr. 82 die Beklagte einen Schutzabstand von mindestens 1,50 Metern empfehle.

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Damit stellt das Berufungsgericht bei der Beurteilung der Gefährlichkeit der hier auszuführenden Arbeiten allein auf den vertikalen Abstand der zu beseitigenden Gerüstteile zu den Oberleitungen ab, ohne auf die horizontale Entfernung der Gerüstarbeiten von der Speiseleitung einzugehen. Das ist nicht richtig. Die von der Elektrizität ausgehenden Gefahren haben zwar großes Gewicht. Der Betreiber einer Stromanlage muß daher dafür sorgen, daß sich diese Gefahren nicht verwirklichen. Aus der Tatsache allein, daß der Arbeiter J. hier durch Stromüberschlag zu Schaden gekommen ist, läßt sich jedoch nicht entnehmen, daß die Gefahren für die Arbeiter der O. KG in der Unfallnacht von vornherein so groß waren, daß ohne Rücksicht auf anderweitige Absprachen zwischen der Beklagten und der O. KG in jedem Fall für die Abschaltung aller in einem größeren Umkreis liegenden Leitungen gesorgt werden mußte.

12
Daß die vorgesehenen Arbeiten in unmittelbarer Nähe der unter Strom stehenden Speiseleitung stattfanden, wie das Berufungsgericht anzunehmen scheint und woraus es die Notwendigkeit zum Abschalten aller Oberleitungen entnimmt, läßt sich bei einem seitlichen Abstand von 5 Metern nicht ohne weiteres sagen. Für die Einschätzung der Gefahren maßgebend ist vielmehr, ob im Zuge der hier auszuführenden Arbeiten damit zu rechnen war, daß Arbeiter – wenn auch aus Unachtsamkeit – in Erfüllung des für diese Nacht festgesetzten Demontageplanes leicht in den Gefahrenbereich dieser Leitungen geraten. Nur wenn das der Fall war, kann eine Verpflichtung der Beklagten zum Abschalten aller Oberleitungen bejaht werden. Andernfalls können Absprachen zwischen der Beklagten und der O. KG, auf die sich die Revision beruft, sehr wohl Bedeutung gewinnen. Nach der Behauptung der Beklagten war für das hier maßgebliche Wochenende ausdrücklich nur das Abschalten der Fahrleitung vereinbart; die Speiseleitung sollte erst für einen weiteren Bauabschnitt am darauffolgenden Wochenende abgestellt werden.

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Feststellungen dazu, ob bei Ausführung der vorgesehenen Gerüstarbeiten mit einer Annäherung von Arbeitern an die stromführende Speiseleitung zu rechnen war, hat das Berufungsgericht nicht getroffen. Fest steht lediglich, daß im Zuge der im Bereich der Fahrleitung ausgeführten Gerüstarbeiten eine Bohle auf die ca. 5 Meter entfernt verlaufende Speiseleitung fiel, wobei unklar ist, wie es dazu kam, und daß der Polier der O. KG den Arbeiter J. anwies, diese Bohle zu entfernen. Die Annäherung des J. an die Speiseleitung, bei der es zu dem Stromüberschlag kam, geschah also aufgrund einer besonderen Weisung. Aus der Tatsache, daß ein Arbeiter auf besondere Weisung in den Gefahrenbereich der Stromleitung geschickt worden ist, kann aber nicht ohne weiteres entnommen werden, daß die an diesem Tage vorgesehenen Arbeiten in gefährlicher Nähe der stromführenden Speiseleitung stattfanden. Davon könnte, wie bemerkt, nur dann die Rede sein, wenn bei der Art der vorgesehenen Abrüstarbeiten die Annäherung eines Arbeiters an diese Leitung vorauszusehen war. Nur in diesem Fall könnte eine Pflicht der Beklagten zum Abschalten auch der Speiseleitung bejaht werden. Sollte sich dagegen im Streitfall keine solche mit der Arbeitsstelle unmittelbar verbundene Gefahr verwirklicht haben, dann kann es auf die von der Beklagten behaupteten Absprachen über das Abstellen des Stroms in der weiteren Umgebung des Arbeitsbereichs ankommen. Denn in diesem Fall konnte die Beklagte erwarten, daß solche Absprachen, sofern sie klar genug waren, von der O. KG und ihren Arbeitern beachtet wurden. Selbst bei Berücksichtigung der verschuldensunabhängigen Haftung der Beklagten aus § 2 HaftpflG könnte dann ihre Einstandspflicht gemessen am Schädigungsbeitrag der O. KG zu Gunsten der Beklagten anders zu gewichten sein. Insoweit rügt die Revision zu Recht, daß das Berufungsgericht der von der Beklagten behaupteten Abrede keine Bedeutung beigemessen hat.

III.

14
Das angefochtene Urteil muß daher auf die Revision der Beklagten aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden. Dabei wird das Berufungsgericht – erforderlichenfalls mit Hilfe eines Sachverständigen – die Frage klären müssen, welche Gefährdungen bei der Vornahme der hier in Rede stehenden Gerüstarbeiten in Betracht kommen und wie das Abschalten der Fahr- und der Speiseleitung bei dem abschnittweisen Abbau von Leergerüsten üblicherweise gehandhabt wird.

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