Zur Eingliederungshilfe für Minderjährige in Form einer Lerntherapie

VG Potsdam, Urteil vom 27.03.2019 – 7 K 4455/17

Zur Eingliederungshilfe für Minderjährige in Form einer Lerntherapie

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, zu tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit leistet.

Tatbestand
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Der am … geborene Kläger begehrt vom Beklagten Eingliederungshilfe gemäß § 35a Sozialgesetzbuch – Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) in Form einer Lerntherapie.

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Die Eltern des Klägers beantragten am 20. Dezember 2016 beim Beklagten eine Lerntherapie, weil ausweislich eines Untersuchungsbefunds der poliklinischen Ambulanz des psychologischen Instituts der Universität Potsdam vom 3. November 2016 beim Kläger eine kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (ICD-10 F 81.3) diagnostiziert worden war. Nachdem die vom Kläger besuchte Grundschule am 30. Januar 2017 die sich aus dem Begleitschreiben vom 24. Januar 2017 im Einzelnen ergebenden Unterlagen und die Eltern des Klägers am 1. Februar 2017 weitere Unterlagen (u.a. einen ausgefüllten Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen sowie eine Erklärung zur Entbindung von der Schweigepflicht) eingereicht hatten, die nochmals am 16. März 2017 von der Grundschule des Klägers ergänzt worden waren, und am 2. Mai 2017 ein Gespräch mit den Eltern des Klägers im Jugendamt des Beklagten stattgefunden hatte, lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31. Mai 2017 die beantragte Hilfe mit der Begründung ab, es liegen zwar Teilleistungsstörungen beim Kläger vor, gleichwohl sei aber seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft weder beeinträchtigt noch sei eine solche Beeinträchtigung zu erwarten. Den hiergegen am 7. Juni 2017 eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2017, dem Kläger zugestellt am 15. Juli 2017, zurück.

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Der Kläger hat am 3. August 2017 Klage erhoben.

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Er meint unter Inbezugnahme zweier Protokolle über Elterngespräche am 29. September 2017 und am 7. November 2017, seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sei schon deshalb erheblich beeinträchtigt, weil die bei ihm diagnostizierten Teilleistungsstörungen vorliegen. Aus den Protokollen ergebe sich, dass Förderbedarf in den Grundrechenarten bestehe und eine Förderung in Mathematik durch die von ihm besuchte Schule nicht möglich sei. Des Weiteren sei ihm im Schuljahr 2016/2017 auf Beschluss der Klassen-/Jahrgangsstufenkonferenz vom 15. September 2016 ein Nachteilsausgleich gewährt worden. Aus dem von seinen Eltern ausgefüllten Elternfragebogen vom 15. Januar 2017 ergebe sich, dass er unmotiviert sei und die Sorge bestehe, dass er den Anschluss an die Klasse verliere. Darüber hinaus werde seine Sorge vor Ausgrenzung und seine Mutlosigkeit beschrieben. Aus einem Protokoll vom 23. Mai 2017 über eine Fallberatung ergebe sich, dass er eher zurückhaltend und seine Motivation zur schulischen Arbeit eher gering sei. Außerdem werde beschrieben, dass er durch die Teilleistungsstörungen häufig deprimiert sei und lernen müsse, mit Misserfolgen umzugehen. Ferner verweist er auf einen Bericht vom 17. März 2017 über eine ergotherapeutische Behandlung, in dem deutliche Unsicherheiten im Umgang mit Zahlen und Buchstaben festgestellt werden und eine Weiterührung der Therapie mit Schwerpunkt der Stärkung des Selbstwertgefühls und Förderung des räumlichen konstruktiven Denkens als sinnvoll erachtet wird. Schließlich verweist er noch auf einen Untersuchungsbefund der poliklinischen Ambulanz des psychologischen Instituts der Universität Potsdam vom 7. November 2017, in dem seine schulische Entwicklung wegen seiner Teilleistungsstörungen als stark gefährdet beurteilt wird und festgestellt wird, dass sich seine emotionalen Belastungen durch die wahrgenommenen Defizite und Misserfolgserlebnisse zunehmend in einem Vermeidungsverhalten und einem negativen Selbstbild manifestieren. Der Befund empfehle eine sofortige Förderung im Schreiben und Rechnen durch eine integrative Lerntherapie sowie auch weiterhin einen Nachteilsausgleich in Deutsch und Mathematik.

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Der Kläger beantragt (sinngemäß),

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den Bescheid des Beklagten vom 31. Mai 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juli 2017 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in Form von außerschulischen Fördermaßnahmen (Lerntherapie) zu gewähren.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er meint, selbst wenn zugunsten des Klägers davon ausgegangen werde, dass bei ihm eine seelische Störung vorliege, so sei dennoch dadurch nicht seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt oder zumindest bedroht.

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Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 9. Juli 2018 gemäß § 6 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die vom Gericht beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Klägerin und den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe
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Der Einzelrichter entscheidet aufgrund des Übertragungsbeschlusses vom 9. Juli 2018 gemäß § 84 Abs. 1 VwGO nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.

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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid vom 31. Mai 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 10. Juli 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).

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Die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII liegen nicht vor. Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35 a Abs. 1 S. 2 SGB VIII).

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Daraus ergibt sich, dass eine Teilleistungsstörung in Bezug auf schulische Fertigkeiten, die als solche eine Beeinträchtigung der Gesundheit darstellt, für sich genommen weder eine seelische Behinderung im Sinne von § 35a SGB VIII begründet, noch eine solche indiziert. Vielmehr müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein (OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 7. März 2011 – OVG 6 M 21.11 und vom 17. Juni 2008 – 6 S 2.08 -; OVG NRW, Beschluss vom 13. Juli 2011 – 12 A 1169/11 – und Urteil vom 14. März 2003 – 12 A 1193/01 -, beide juris; Bayerischer VGH, Urteil vom 20. Oktober 2010 – 12 B 09.2956 – juris; Hessischer VGH, Urteil vom 20. August 2009 – 10 A 1874.08 – juris; Sächsisches OVG, Beschluss vom 09. Juni 2009 – 1 B 288/09 – juris). Das Vorliegen einer seelischen Behinderung ist in drei Schritten festzustellen. Es muss eine Teilleistungsstörung vorliegen, die Hauptursache für eine – weitergehende – seelische Störung ist und außerdem zu einer Beeinträchtigung bei der Eingliederung in die Gesellschaft führt oder dies erwarten lässt. Ob die erstgenannte Voraussetzung – eine Teilleistungsstörung, die ein Abweichen von der seelischen Gesundheit im Sinne von § 35 a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII darstellt – vorliegt, ist anhand einer Stellungnahme einer in § 35a Abs. 1 a S. 1 SGB VIII genannten Person auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) zu beurteilen (§ 35a Abs. 1 a S. 2 SGB VIII). Zusätzlich sind die Sekundärfolgen zu prüfen. Die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft muss bereits beeinträchtigt sein oder es muss eine solche Beeinträchtigung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Nicht erforderlich ist allerdings, dass bereits der Eintritt einer völligen Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung oder ein Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder die Vereinzelung in der Schule festzustellen ist, um eine drohende Behinderung zu begründen.

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In Anwendung vorstehender Maßstäbe gehört der Kläger nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis. Vorliegend ist zwar unstreitig, dass er unter einer kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (ICD-10 F 81.3) leidet. Jedoch lässt sich den vorliegenden Unterlagen nicht entnehmen, dass als Folge davon eine weitergehende seelische Störung mit Behinderungsrelevanz vorliegt.

17
Aus den beiden vom Kläger in Bezug genommenen Protokollen der Elterngespräche ergibt sich allenfalls, dass – was indes unstreitig ist – der Kläger Förderbedarf bei den Grundrechenarten hat. Auch der Mitteilung der Klassenlehrerin vom 15. September 2016, wonach Schwierigkeiten beim Schreiben und Rechnen bestehen und deswegen dem Kläger bis zum 19. Juli 2017 ein Nachteilsausgleich gewährt wird, lässt sich nichts weiteres, über diese Feststellung Hinausgehendes entnehmen. Ebenso enthält der von den Eltern des Klägers ausgefüllte Elternfragebogen allenfalls Aussagen dazu, dass sich diese Sorgen darüber machen, dass der Kläger unmotiviert und mutlos werden, den Anschluss an die Klasse verlieren und ausgegrenzt werden könne. Gleichzeitig wird aber das gute Sozialverhalten des Klägers, seine Hilfsbereitschaft und sein Interesse als das beschrieben, was den Eltern des Klägers am besten gefalle. Aus dem Protokoll der Fallberatung am 23. Mai 2017 ergibt sich, dass der Kläger eher zurückhaltend ist und seine Motivation zur schulischen Arbeit sowie sein Eigenantrieb eher gering sind und er selten nach Hilfe frage, angebotene Hilfe aber annehme. Zugleich wird er jedoch als fröhlicher, wenn auch etwas schüchterner Schüler beschrieben, der altersgerecht agiert, gut in die Klasse integriert und respektiert ist, sich mit einem (seinerzeit bevorstehenden) Wechsel in eine neue Klasse auseinandersetzen müsse und durch die bestehenden Teilleitungsstörungen häufig deprimiert sei, aber lernen müsse, mit Misserfolgen umzugehen und Lob und Impulse als fördernd anzunehmen. Der Stellungnahme der Ergotherapeutin des Klägers vom 17. März 2017 lässt sich ebenfalls nur entnehmen, dass „deutliche Unsicherheiten im Umgang mit Zahlen und Buchstaben zu erkennen“ sind und eine Weiterführung der Therapie „mit Schwerpunkt Stärkung des Selbstwertgefühls und Förderung des räumlich-konstruktiven Denkens … sinnvoll“ sei. Allen vorbezeichneten Erkenntnisquellen lässt sich indes nicht entnehmen, dass als Folge der beim Kläger vorliegenden Teilleistungsstörung eine weitergehende seelische Störung mit Behinderungsrelevanz vorliegt oder einzutreten droht.

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Schließlich ergibt sich dies auch nicht aus dem Untersuchungsbefund der poliklinischen Ambulanz des psychologischen Instituts der Universität Potsdam vom 7. November 2017. Dort heißt es in der zusammenfassenden Beurteilung („nur“), der Kläger sei „aufgrund seiner Leistungsdefizite im Schreiben und Rechnen in seiner gesamten schulischen Entwicklung stark gefährdet. Die emotionale Belastung durch die wahrgenommenen Defizite und Misserfolgserlebnisse manifestieren sich zunehmend in einem Vermeidungsverhalten und einem negativen Selbstbild“. Zur Behebung der Leistungsdefizite des Klägers wird eine „sofortige Förderung im Schreiben und Rechnen im Rahmen einer integrativen Lerntherapie“ empfohlen.

19
Bei dieser Stellungnahme handelt es sich bereits nicht um die Feststellung einer Beeinträchtigung im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII, sondern lediglich um eine Stellungnahme im Sinne des § 35a Abs. 1a SGB VIII. Während die Beurteilung, ob die seelische Gesundheit im Sinne des § 35a Abs.1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, regelmäßig Aufgabe von Ärzten oder Psychotherapeuten ist, fällt die Einschätzung, ob die Teilhabe des jungen Menschen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung droht, in die Kompetenz sozialpädagogischer Fachlichkeit und somit in den Aufgabenbereich des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Januar 2015 – OVG 6 N 32.14 – ; OVG NRW, Beschluss vom 15. Juli 2011 – 12 A 1168/11 -, Rn. 11 juris; Sächsisches OVG, Beschluss vom 5. April 2013 – 1 A 346/11 -, Rn. 11 juris). Die endgültige Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen liegt allein in der Kompetenz des Jugendamts (Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, 05/15, § 35a Rn. 36b, juris).

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Durch die beim Kläger vorliegende kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten ist seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft aber weder beeinträchtigt noch droht eine solche Beeinträchtigung.

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Unter Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist die Ausübung sozialer Funktionen und Rollen zu verstehen. Entscheidend ist, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. Das kann beispielsweise angenommen werden, bei auf Versagensängsten beruhender Schulphobie, totaler Schul- und Lernverweigerung, dem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und der Vereinzelung in der Schule. Demgegenüber genügen bloße Schulprobleme und auch Schulängste, die andere Kinder teilen, nicht, um die Annahme einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu rechtfertigen (BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 – 5 C 38/97 – Rn. 15 juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Januar 2015 – OVG 6 N 32.14 – ).

22
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann – wovon der Beklagte im Verwaltungsverfahren zutreffend ausgegangen ist – weder von einer Beeinträchtigung der Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft ausgegangen werden noch davon, dass eine solche Beeinträchtigung droht im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII, weil sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

23
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

24
Die Vollstreckbarkeitsentscheidung beruht auf § 167 VwGO und §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.

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