OLG Hamm, Urteil vom 27.01.2011 – 18 U 81/09
1. Die Beweislast für eine unvollständige Ablieferung des Gutes liegt nach der CMR beim Anspruchsteller.
2. Art. 30 CMR begründet keine Beweislastumkehr zu Lasten des Frachtführers im Falle eines bei Ablieferung auf dem Frachtbrief einseitig vom Empfänger vermerkten Vorbehalts.
3. Erst recht tritt eine solche Beweislastumkehr nicht allein deshalb ein, weil der Frachtführer keine reine Ablieferungsquittung vorzulegen vermag.
(Leitsatz des Gerichtes)
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das am 17. April 2009 verkündete Urteil der 2. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Münster (22 O 128/08) wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Das Urteil beschwert die Beklagte mit mehr als 20.000,00 €; die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die Parteien streiten über die Beweislast bezüglich der vollständigen Ablieferung des Transportgutes nach Art. 30 CMR.
I. Die Fa. N2 AG F2 (im Folgenden: Auftraggeberin) beauftragte am 21.04.2008 die in L ansässige Fa. M GmbH & Co. KG (im Folgenden: Versicherungsnehmerin) mit dem Transport von 5.137 Notebooks und 517 Kartons NBC Griftbox von F nach Großbritannien zu verschiedenen dortigen B-Filialen. Die Versicherungsnehmerin wiederum beauftragte noch am selben Tage die in den Niederlanden ansässige Beklagte mit der Durchführung dieses Transportes zu einem Pauschalfrachtpreis von 7.905,- €. Diese holte am 23. oder 25.04.2008 eine Teilmenge von 37 Euro Cheppaletten in F ab und verbrachte sie zu ihrem Lager in S/Niederlande (Frachtbrief B 1 GA 34). In S verlud sie am 29.04.2008 eine Teilmenge von 11 Euro Cheppaletten mit u.a. 588 für die B Stores Limited in D/England (nachfolgend: Empfängerin) bestimmten Notebooks auf einen LKW der von ihr jedenfalls insoweit mit dem Transport beauftragten Fa. O (im Folgenden: Streitverkündete) (Frachtbrief K 3 GA 46 und B 1 GA 34).
Die Auftraggeberin hielt die Versicherungsnehmerin mit Schreiben vom 2. Mai 2008 (K 6, GA 49) haftbar. Diese wiederum erklärte mit Schreiben vom 5. Mai 2008 eine Haftbarhaltung der Beklagten (K 7, GA 50).
Die Y Versicherungs-AG, die Transportversicherer der Auftraggeberin ist, zahlte dieser am 06.08.2008 eine Entschädigung in Höhe von 71.415,- € für 120 verlustig gegangene Notebooks. Nach entsprechender Einigung zahlte die Klägerin, die wiederum Verkehrshaftungsversicherer der Versicherungsnehmerin ist, an die Y Versicherungs-AG am 17.12.2008 einen Betrag von 66.415,60 €. Bereits zuvor hatte sie sich am 24.06.2008 die Ansprüche ihrer Versicherungsnehmerin gegen die Beklagte abtreten lassen (K 11 GA 55).
Den der Y Versicherungs-AG erstatteten Betrag begehrt die Klägerin nebst 5 % Zinsen seit dem 05.05.2008, dem Tage, an dem ihre Versicherungsnehmerin die Beklagte haftbar gehalten hat (K 7, GA 50), mit der vorliegenden Klage aus dem abgetretenem Recht ihrer Versicherungsnehmerin.
Sie hat behauptet, bei der Ablieferung der von der Streitverkündeten übernommenen Fracht in Großbritannien hätten 120 Notebooks zu einem unstreitigen Gesamtwert von 70.770,78 € (120 x 467,50 britische Pfund x 07927) gefehlt.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 66.415,60 € nebst 5 % Zinsen seit dem 05.05.2008 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat bestritten, dass die Notebooks bei Ablieferung gefehlt hätten und in ihrem Gewahrsam bzw. dem der Streitverkündeten abhanden gekommen seien.
Das Landgericht hat der Klage vollumfänglich stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte sei für den ihr obliegenden (Art. 9, 35 CMR) Beweis einer vollständigen Ablieferung beweisfällig geblieben. Vielmehr sei gegenteilig sogar auf dem Frachtbrief der Vermerk der Empfängerin vorhanden, dass 120 Notebooks fehlten.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie ihr Klageabweisungsziel weiter verfolgt. Sie rügt eine Verkennung der Beweislast durch das Landgericht unter Hinweis darauf, dass die Art. 34 ff. CMR mangels durchgehenden Frachtbriefes vorliegend nicht anwendbar seien. Sie bestreitet, dass die Empfängerin bereits unmittelbar bei Ablieferung das Fehlen der 120 Notebooks auf dem Frachtbrief vermerkt habe. Dieser Vermerk führe auch lediglich dazu, dass die Vermutung des Art. 30 I CMR der Vollzähligkeit und Schadenfreiheit nicht eintrete. Die Beweislast für die unvollständige Ablieferung hingegen obliege dem Anspruchsteller.
Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil und meint, zwar sei zutreffend, dass die Art. 34 ff. CMR vorliegend nicht anwendbar seien. Aufgrund des Vermerks auf dem Frachtbrief, dass 120 Notebooks fehlten, der unmittelbar bei Ablieferung aufgebracht worden und – wie sie nunmehr erstmalig behauptet, vom Fahrer der Streitverkündeten gegengezeichnet worden sei – habe abweichend von der grundsätzlichen Beweislast nunmehr indes die Beklagte eine vollständige Ablieferung zu beweisen. Im Übrigen, so meint sie weiter, obliege der Beklagten die Beweislast auch bereits deshalb, weil sie keine reine Ablieferungsquittung vorzulegen vermöge. Sie behauptet nunmehr, die Ablieferung der Notebooks sei am Morgen des 01.05.2008 kurz vor 9 Uhr erfolgt. Noch in Gegenwart des Fahrers der Streitverkündeten sei die Fehlmenge von 120 Notebooks festgestellt worden und sodann von dem zuständigen Lagermitarbeiter der Empfängerin S2 gegen 9 Uhr sowohl der Abteilung der Empfängerin mitgeteilt worden, die die Eingabe der angelieferten Ware in das Computersystem der Empfängerin vornehme, als auch telefonisch der Zeugin U, die für die Empfängerin die Auftraggeber über die Fehlbestände angelieferter Waren unterrichte. Die Zeugin U habe dann noch am Vormittag des 01.05.2008 den Mitarbeiter der Auftraggeberin G telefonisch über die Fehlmenge in Kenntnis gesetzt. Auf seine Bitte hin habe sie ihm sodann eine Woche später nochmals eine schriftliche Haftbarhaltung übersandt.
Die Beklagte hingegen wiederum bestreitet eine Gegenzeichnung des Fehlvermerks auf dem Frachtbrief durch den Fahrer der Streitverkündeten und rügt insoweit ebenso Verspätung wie bezüglich des Beweisantritts der Klägerin für die unvollständige Ablieferung durch das Zeugnis U. Sie behauptet ferner, die angelieferte Ware werde erfahrungsgemäß bei der Empfängerin in der Regel nicht sofort überprüft. Es stehe angesichts dessen, dass der Fehlbestand am 01.05.2008 bei der Empfängerin in das Computersystem eingegeben worden sein soll, zu vermuten, dass die streitgegenständliche Ware bereits am 30.04.2008 angeliefert und der Frachtbrief zurückgelassen sowie später per Fax rückübermittelt worden sei.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugin U über die Behauptung der Klägerin, dass bei Ablieferung 120 Notebooks gefehlt hätten. Bezüglich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 4. November 2010 (GA 214) und den Berichterstattervermerk vom 5. November 2010 (GA 219 bis 221) verwiesen.
Nach Schluss der mündlichen Verhandlung hat der Senat die Parteien sodann mit Verfügung vom 11. November 2010 unter Hinweis auf das erst dann veröffentlichte Urteil des Bundesgerichtshof vom 30. September 2010 – I ZR 39/09 – darauf hingewiesen, dass auf den vorliegenden Fall ergänzend deutsches Recht anwendbar sein und die Beklagte somit unbeschränkt auf den Wert der verloren gegangenen Notebooks haften dürfte. Es dürfte eine entsprechende Rechtswahl der Beklagten mit der Versicherungsnehmerin vorgelegen haben, da letztere in ihrer Auftragsbestätigung auf die auf ihrer Homepage im Internet einsehbaren Standardbedingungen hingewiesen habe und diese Standardbedingungen in Ziffer 11 die Regelung enthielten, dass deutsches Recht anwendbar sei (GA 224 f.).
Die Beklagte hat daraufhin gemeint, die Klägerin habe Entschädigung nach dem Wert des Gutes am Ort und zur Zeit der Übernahme der Beförderung und somit keinen Schadensersatzanspruch nach deutschem Recht gemäß Art. 17 CMR, 249 ff. BGB geltend gemacht. Ihr Anspruch sei daher beschränkt. Das Gewicht der verloren gegangenen beiden Paletten habe ca. 200 kg pro Palette betragen (GA 235).
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze verwiesen.
II. Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
1. Der Klägerin steht aus abgetretenem Recht ihrer Versicherungsnehmerin gegen die Beklagte ein Anspruch auf Zahlung der 66.415,60 € aus Art. 17, 23, 29, 3 CMR i.V. § 249 BGB zu.
a. Die angeführten Vorschriften sind auf den vorliegenden Fall anwendbar.
aa. Dies folgt für die Vorschriften der CMR aus Art. 1 CMR. Es liegt eine entgeltliche Beförderung von Gütern auf der Straße mittels Fahrzeugen vor und der Ort der Übernahme des Gutes sowie der für die Ablieferung vorgesehene Ort liegen in zwei verschiedenen Staaten, die beide Vertragsstaaten der CMR sind.
bb. Ergänzend findet ferner deutsches Recht Anwendung. Dies ergibt sich aus der nach Art. 27 Abs. 1 Satz 1 EGBGB zulässigerweise getroffenen Rechtswahl der Vertragsparteien, der Versicherungsnehmerin und der Beklagten, bei Vertragsabschluss. Die Versicherungsnehmerin hat in ihrem Auftrag vom 21.04.2008 (K 1, GA 43) auf die Vereinbarung ihrer Standardbedingungen, einsehbar auf ihrer Homepage im Internet, hingewiesen. Dem hat die Beklagte nicht widersprochen, so dass diese Standardbedingungen wirksam in den zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag einbezogen worden sind. Da Ziffer 11 dieser Standardbedingungen den Hinweis auf die Geltung deutschen Rechts beinhaltet, liegt mithin eine entsprechende wirksame Rechtswahl der Parteien vor.
b. Entgegen der Ansicht des Landgerichts sind die Art. 17, 23, 29, 3 CMR und nicht die Art. 37, 17 I CMR Grundlage für den an die Klägerin abgetretenen Anspruch der Versicherungsnehmerin. Die Art. 34 ff. CMR finden, worauf beide Parteien zu Recht hinweisen, nur bei Vorliegen eines durchgehenden, also auf die gesamte Strecke lautenden Frachtbriefes des Absenders (Koller, Transportrecht, 7. Aufl., Art. 34 CMR Rn. 3 m.w.N.) im Sinne des Art. 34 CMR Anwendung (Koller, aaO, Art. 37 CMR Rn. 1). Anderenfalls richtet sich die Haftung der Unterfrachtführer gegenüber ihrem Auftraggeber bzw. der Regress des Hauptfrachtführers gegen seinen Unterfrachtführer nach den Art. 17 ff. CMR (Koller, aaO, Art. 13 CMR Rn. 9). Ein durchgehender, auf die gesamte Strecke lautender Frachtbrief des Absenders liegt hier nicht vor. Vielmehr ist einmal für den Transport des Gutes von der Beklagten von F nach S (B 1, GA 34) ein Frachtbrief ausgestellt worden und dann ein weiterer für den Transport durch die Streitverkündete von S nach D (B 2, GA 35).
c. Die Voraussetzungen der Art. 17 I, 3 CMR liegen vor. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die 120 Notebooks zwischen dem Zeitpunkt der Übernahme des Gutes durch die Beklagte und dem seiner Ablieferung in England entweder im Gewahrsam der Beklagten oder dem ihrer Gehilfin, der Streitverkündeten, deren Verhalten sich die Beklagte gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 i.V. mit Art. 3 CMR zurechnen lassen muss, verlustig gegangen sind.
aa. Allerdings hatte entgegen der Ansicht des Landgerichts sowie der Klägerin letztere zu beweisen, dass eine nur unvollständige Ablieferung des Gutes vorlag. Es oblag nicht der Beklagten der Beweis für eine vollständige Ablieferung.
(1) Bereits nach allgemeinen Beweislastregeln trägt nach einhelliger Meinung der Anspruchsteller die Beweislast für einen teilweisen Verlust des Gutes während der Obhutszeit des Frachtführers (BGH, NJW-RR 1988, 1369; Koller, aaO, Art. 17 CMR Rn. 12 und Art. 30 CMR Rn. 7; Thume in Fremuth/Thume, Kommentar zum Transportrecht, Art. 30 CMR Rn. 13), da grundsätzlich der Anspruchsteller die haftungsbegründenden Umstände zu beweisen hat. Nach Art. 17 I CMR handelt es sich bei einem teilweisen Verlust eines Gutes um einen haftungsbegründenden Umstand. Dies schließt es aus, die vollständige Ablieferung des Gutes als Erfüllungseinwand des Frachtführers anzusehen und ihm hierfür die Beweislast aufzubürden.
(2) Diese Beweislastverteilung ergibt sich weiter auch aus einem Umkehrschluss aus Art. 18 CMR. Diese Regelung bürdet dem Frachtführer die Beweislast für die Haftungsbefreiungstatbestände des Art. 17 II und IV CMR auf. Art. 17 I CMR ist in Art. 18 CMR hingegen nicht angeführt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass auch Art. 17 I CMR in Art. 18 CMR Erwähnung gefunden hätte, wenn die Vertragsparteien der CMR eine Beweispflichtigkeit des Frachtführers auch für die vollständige Ablieferung des Gutes gewollt hätten.
(3) Soweit sich die Klägerin demgegenüber auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13. Juli 2000 (I ZR 156/98, Transportrecht 2001, 299 = NJW-RR 2000, 1631) beruft, folgt entgegen ihrer Ansicht aus dieser Entscheidung nichts anderes. In diesem Urteil hat der Bundesgerichtshof nämlich ausdrücklich angeführt, dass den Ersatzberechtigten die Beweislast für den Verlust eines Gutes trifft. Nur war die Nichtablieferung bei der im Frachtbrief angeführten Empfängerin unstreitig und hatte der Frachtführer das Gut bei einem Dritten abgeliefert. Dabei hatte er sich darauf berufen, telefonisch von der im Frachtbrief ausgewiesenen Empfängerin hierzu angewiesen worden zu sein. Hierfür, also für die ordnungsgemäße Ablieferung aufgrund einer entsprechenden Weisung der Empfängerin, hat der Bundesgerichtshof sodann den beklagten Frachtführer als beweisbelastet angesehen. Es ging also nicht, wie vorliegend, um die Frage der vollständigen oder unvollständigen Ablieferung an den im Frachtbrief bestimmten Empfänger, sondern um die, ob die Ablieferung an einen Dritten eine ordnungsgemäße Erfüllung darstellte.
(4) Eine abweichende Beweislastverteilung ergibt sich vorliegend auch nicht aus Art. 30 CMR sowie dem Umstand, dass auf dem von den Parteien vorgelegten Frachtbrief der Vermerk der Empfängerin einer Fehlmenge von 120 Notebooks enthalten ist.
(a) Nach dieser Vorschrift wird zwar bei einem unterlassenen Vorbehalt des Empfängers unter bestimmten Umständen zugunsten des Frachtführers vermutet, dass der Empfänger das Gut in dem im Frachtbrief beschriebenen Zustand erhalten hat.
(b) Auch vertritt Koller die Ansicht, dass nach dieser Vorschrift bei Erklärung konkreter Vorbehalte durch den Empfänger unmittelbar bei Ablieferung die Beweislast für eine vollständige Ablieferung in Parallele zu § 363 BGB den Frachtführer treffe (Koller, aaO, Art. 30 CMR Rn. 7).
(c) Nach wohl überwiegender Gegenansicht (Boesche in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 2. Aufl., Art. 30 CMR Rn. 13 m.w.N.) hingegen folgt aus der Anknüpfung des Art. 30 I 1 CMR an dem vom Empfänger unterlassenen Vorbehalt aber nicht, dass bei wirksamen Vorbehalt den Frachtführer die Beweislast für das Nichtbestehen des Mangels bei Ablieferung treffe. Vielmehr sei die Beweislage hinsichtlich des Zustandes und der Anzahl bei Ablieferung wieder offen und trage der Anspruchsteller nach allgemeinen Grundsätzen die Beweislast für die Schadensentstehung im Obhutszeitraum.
(d) Dieser zuletzt angeführten Meinung schließt sich der Senat an. Die autonom auszulegenden Vorschriften der CMR enthalten eine abschließende Regelung der Beweislast für eine nur unvollständige Ablieferung von Frachtgut, mit der die Ansicht von Koller nicht vereinbar ist.
(aa) Zwar liegt aufgrund der Vermutungsregelung des Art. 30 I 1 CMR zunächst der Umkehrschluss nahe, dass bei entsprechend rechtzeitigem Vorbehalt des Empfängers eine Beweislastumkehr zu Lasten des Frachtführers eintritt.
(bb) Indes ist ein solcher Umkehrschluss mit dem sich aus der Entstehungsgeschichte des Art. 30 CMR ergebenden Willen der Vertragsparteien nicht vereinbar. Ursprünglich hatten diese nämlich die Regelung eines Rechtsverlustes des Empfängers bei unterlassenem rechtzeitigem Vorbehalt gewollt. Da man sich auf einen solchen nicht einigen konnte, stellt der Art. 30 I 1 CMR einen Kompromiss dar und ist ein Rechtsverlust des Empfängers nur in den Absätzen 2 und 3 vorgesehen (Koller, aaO, Art. 30 CMR Rn. 1; Thume, aaO, Art. 30 CMR Rn. 1). Die Vorschrift sollte also nicht die Rechtsstellung des Empfängers verbessern, sondern vielmehr verschlechtern. Damit ist jedoch eine Vermutungswirkung zugunsten des Anspruchstellers bei rechtzeitigem Vorbehalt nicht vereinbar.
(5) Führt somit selbst ein bei Ablieferung vorgenommener Vorbehalt des Empfängers, dass die Ware nur unvollständig abgeliefert worden sei, nicht zu einer Beweislastumkehr zu Lasten des Frachtführers, folgt eine solche entgegen der Ansicht der Klägerin erst recht nicht allein aus dem Umstand, dass der Frachtführer keine reine Ablieferungsquittung vorzuweisen vermag.
(6) Schließlich vermag die Klägerin auch nicht mit Erfolg geltend zu machen, dass der Fahrer der Streitverkündeten den Fehlvermerk auf dem Frachtbrief unterzeichnet habe. Zwar regelt Art. 30 II CMR für den Fall einer gemeinsamen Feststellung der Unvollständigkeit des abgelieferten Guts eine Beweislastumkehr dahingehend, dass dann der Frachtführer die Vollständigkeit der Ablieferung zu beweisen hat (vgl. Koller, aaO, Art. 30 CMR Rn. 10). Indes hat die Klägerin eine solche gemeinsame Feststellung nicht zu beweisen vermocht, so dass es keiner Entscheidung mehr bedarf, ob ihr diesbezüglicher Vortrag nicht ohnehin gemäß § 531 ZPO verspätet war. Die Zeugin U hat nämlich bekundet, dass die Unterschrift unter dem Fehlvermerk auf dem Frachtbrief – entgegen den Angaben der Klägerin – von dem Mitarbeiter der Empfängerin S2 und nicht von dem Fahrer der Streitverkündeten stamme.
bb. Die Klägerin hat indes den danach ihr obliegenden Beweis, dass bei der Ablieferung an die Empfängerin 120 Notebooks fehlten, zu führen vermocht. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht aufgrund der Aussage der bereits erstinstanzlich von der Klägerin hierzu benannten Zeugin U zur Überzeugung des Senats diese Fehlmenge bei Anlieferung fest.
Die Zeugin hat glaubhaft bekundet, dass bei der Empfängerin standardgemäß eingehende Ware innerhalb von etwa 30 bis 45 Minuten nach Anlieferung noch im Beisein des anliefernden Fahrers, der die Abladung des Guts vorzunehmen habe, überprüft werde. Ebenfalls entspreche es der üblichen Handhabung der Empfängerin, dass sie – die Zeugin – im Falle eines Fehlbestandes von dem zuständigen Lagerarbeiter S2, der die Ware annehme und überprüfe, sodann noch am Vormittag diesen Tages hierüber unterrichtet werde und sie sodann diese Information noch am selben Tage telefonisch an den Absender weiter zu geben versuche. S2 versehe sodann sowohl das für den anliefernden Fahrer bestimmte als auch auf das für die Empfängerin vorgesehene Exemplar des Lieferscheins mit einem entsprechenden Vermerk über die Fehlmenge.
Anhaltspunkte, dass im vorliegenden Fall hiervon abweichend verfahren worden sei, lägen nicht vor. Vielmehr habe sie den Unterlagen entnehmen können, dass die vorgesehene Zeit der Anlieferung der Notebooks am 1. Mai 2008 um 9.00 Uhr gewesen sei. Denn die Empfängerin vermerke sog. Einbuchungszeiten, die den Zeitpunkt der erwarteten Ankunft des Frachtführers am Lager wiedergeben würden. Im vorliegenden Fall habe ihr S2 noch am Vormittag des 1. Mai 2008 telefonisch die Fehlmenge von 120 Notebooks mitgeteilt. Die genaue Uhrzeit vermöge sie zwar nicht mehr anzugeben; erinnerlich sei ihr aber noch, dass die Fehlmenge noch nicht von der hierfür zuständigen Versand- und Wareneingangsabteilung in den Computer eingebucht worden sei. Sie habe sodann noch am selben Tage oder – wegen des Feiertages in Deutschland – am darauffolgenden Tage den Mitarbeiter der Auftraggeberin G hierüber telefonisch in Kenntnis gesetzt. Dass die Auftraggeberin am 9. Mai 2008 die Fehlmenge noch einmal per Telefax mitgeteilt erhalten habe, beruhe allein auf einer entsprechenden telefonischen Bitte deren Mitarbeiters G um eine entsprechende schriftliche Mitteilung.
Danach steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die streitgegenständliche Ware am 1. Mai 2008 bei der Empfängerin angeliefert, noch im Beisein des Fahrers der Streitverkündeten auf Vollständigkeit untersucht und hierbei die Fehlmenge der 120 Notebooks festgestellt wurde. Denn abgesehen davon, dass für ein Abweichen von dem Standardverfahren der Empfängerin im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte ersichtlich oder dargetan sind, spricht entscheidend für diese Feststellung die erwartete Ankunftszeit der Notebooks sowie die Unterrichtung der Zeugin von dem Fehlbestand in zeitlich nahem Zusammenhang mit dieser, nämlich noch im Laufe des Vormittages des 1. Mai 2008. Der Senat hat insoweit keinen Anlass, an der Richtigkeit der Bekundungen der Zeugin zu zweifeln. Ihre Aussage war in sich schlüssig, widerspruchsfrei und von dem ersichtlichen Bemühen um genaue, korrekte Angaben getragen, wobei sie auch Unsicherheiten freimütig offenbarte. Sie lässt sich auch zwanglos mit den vorliegenden schriftlichen Unterlagen in Einklang bringen. So spricht insbesondere für die von ihr angegebene unverzügliche telefonische Unterrichtung der Empfängerin von der Fehlmenge vor dem Telefax vom 9. Mai 2008 (K 4, GA 47), dass letztere selbst bereits mit Schreiben vom 2. Mai 2008 (K 6, GA 49) die Versicherungsnehmerin der Klägerin und diese sodann mit Schreiben vom 5. Mai 2008 (K 7, GA 50) die Beklagte haftbar gehalten hat. Ihre insgesamt gute Erinnerung an den vorliegenden Fall vermochte die Zeugin plausibel damit zu erklären, dass es um eine Warenanlieferung mit einem nicht unerheblichen Wert gegangen sei.
d. Der von der Beklagten der Klägerin somit zu ersetzende Schaden besteht gemäß Art. 23 I CMR i.V. mit § 249 BGB in dem Wert des verlustig gegangenen Gutes am Ort und zur Zeit der Übernahme zur Beförderung. Dieser beträgt, was zwischen den Parteien unstreitig ist, vorliegend jedenfalls die von der Klägerin geltend gemachten 66.415,60 €.
aa. Auf eine Haftungsbeschränkung nach Art. 23 III CMR hingegen vermag sich die Beklagte nach Art. 29 I CMR nicht zu berufen. Denn der teilweise Verlust des Gutes beruht im vorliegenden Fall auf vorsätzlichem oder leichtfertigem Verhalten der Beklagten oder ihrer Gehilfin, der Streitverkündeten, in dem Bewusstsein, dass ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten werde, und mithin auf einem qualifizierten Verschulden im Sinne des § 435 HGB.
(1) Das Vorliegen eines qualifizierten Verschuldens beurteilt sich gemäß Art. 29 I CMR nach dem Recht des angerufenen Gerichts, hier also nach deutschem Recht (BGH, Urteil vom 26. März 2009 – I ZR 120/07, Tz. 24, zit. nach juris).
(2) Der festgestellte Sachverhalt des Verlustes der Notebooks in der Obhutszeit der Beklagten oder der Streitverkündeten rechtfertigt angesichts dessen, dass die Beklagte weder zum näheren Schadenshergang noch zu den von ihr bzw. der Streitverkündeten getroffenen organisatorischen Maßnahmen gegen einen solchen Verlust vorgetragen hat, die Annahme eines qualifizierten Verschulden der Beklagten oder der Streitverkündeten i.S. von § 435 HGB.
(a) Es obliegt dem Anspruchsteller, die Voraussetzungen für den Wegfall der zu Gunsten des Frachtführers bestehenden gesetzlichen oder vertraglichen Haftungsbegrenzungen darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen. Er trägt also die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Frachtführer oder seine Leute vorsätzlich oder leichtfertig und im Bewusstsein gehandelt haben, dass ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten werde (BGH NJW-RR 2009, 751, Tz. 14).
(b) Dieser Darlegungslast genügt er zunächst indes bereits dann, wenn sein Klagevortrag nach den Umständen des Falls ein qualifiziertes Verschulden mit gewisser Wahrscheinlichkeit nahe legt oder sich Anhaltspunkte für ein solches Verschulden aus dem unstreitigen Sachverhalt ergeben. Sodann ist der Frachtführer angesichts des unterschiedlichen Informationsstands der Vertragsparteien nach Treu und Glauben im Rahmen einer ihm dann obliegenden sekundären Darlegungslast gehalten, soweit möglich und zumutbar, zu den näheren Umständen des Schadensfalls eingehend vorzutragen. Kommt er dem nicht nach, kann nach den Umständen des Einzelfalls der Schluss auf ein qualifiziertes Verschulden gerechtfertigt sein (BGH aaO).
(c) Geraten zum Transport übergebene Pakete in Verlust, während sie in der Obhut des Spediteurs/Frachtführers sind, lässt der entsprechende Vortrag des Anspruchstellers mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf ein qualifiziertes Verschulden des Transportunternehmers i.S. von § 435 HGB schließen. Bleibt der Schadenshergang – wie vorliegend – mangels Angaben des Frachtführers bis zur Klageerhebung völlig ungeklärt, rechtfertigt dies grundsätzlich den Schluss auf ein grobes Organisationsverschulden im Bereich des Transportunternehmers mit der Folge, dass er im Prozess detailliert zu den Organisationsabläufen in seinem Betrieb und zu den von ihm gegen einen Verlust des Transportgutes eingerichteten Sicherheitsmaßnahmen vortragen muss (BGH aaO Tz. 16).
(d) Dieser somit ihr obliegenden sekundären Darlegungslast ist die Beklagte nicht nachgekommen, da sie weder Angaben zum näheren Schadenshergang noch zu den Organisationsabläufen in ihrem Betrieb bzw. in dem der Streitverkündeten und zu den von ihr bzw. der Streitverkündeten gegen einen Verlust des Transportgutes eingerichteten Sicherheitsmaßnahmen vortragen hat.
bb. Ohne Erfolg bleibt auch der Einwand der Beklagten, die Klägerin habe keinen Schadensersatzanspruch nach deutschem Recht nach Art. 17 CMR i.V.m. § 249 BGB geltend gemacht, so dass ihr Anspruch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach Art. 23 II CMR beschränkt sei. Die Klägerin hat bereits mit ihrer Klageschrift einen unbeschränkten Wertersatz nach Art. 23 I CMR geltend gemacht. Dass sie sich hierbei nicht auch auf die Anwendbarkeit des deutschen Rechts berufen hat, obwohl erst hierdurch der Fortfall der beschränkten Haftung der Beklagten nach Art. 23 II CMR begründet wird (BGH, Urteil vom 30. September 2010 – I ZR 39/09, Tz. 37 ff., zit. nach juris), ändert an der Geltendmachung eines derartigen Schadensersatzanspruchs nichts. Denn für eine solche genügt die Darlegung der den Anspruch begründenden Tatsachen. Nicht erforderlich ist hingegen auch die Angabe der zutreffenden Rechtsvorschriften, aus denen sich der geltend gemachte Anspruch herleiten lässt.
2. Der Zinsanspruch ist nach Art. 27 I CMR begründet. Die Beklagte ist mit Schreiben der Versicherungsnehmerin vom 5. Mai 2008 haftbar gehalten worden (K 7, GA 50).
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordern.