LG Mühlhausen, Beschluss vom 31.07.2017 – 1 T 42/16
1. Ein Antrag nach § 765a ZPO ist auch im Fall der Versäumung einer Frist nach § 30b Abs. 1 ZVG nicht ausgeschlossen, insbesondere wenn Umstände, die eine mit den guten Sitten nicht vereinbare Härte darstellen sollen, erst nachträglich eingetreten sind.(Rn.23)
2. Erhebliche gesundheitliche Risiken sind im Rahmen der erforderlichen Abwägung in einem ersten Schritt regelmäßig durch ein Sachverständigengutachten aufzuklären. Ist ein solches Risiko zu bejahen, ist in einem zweiten Schritt mit Blick auf die Art und Weise der Vollstreckung zu prüfen, wie seitens des Vollstreckungsgerichts einem solchen Risiko wirksam begegnet werden kann. In einem dritten Schritt ist aufzuklären, wie seitens des Schuldners selbst solche Risiken zu verringern sind.(Rn.43)
3. Die erforderliche Abwägung hat alle relevanten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und beschränkt sich nicht nur auf die gesundheitlichen Belange des Schuldners.(Rn.44)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Schuldners gegen den Beschluss des Amtsgerichts Mühlhausen vom 03.02.2016, Az.: 6 K 54/12, wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Der Beschwerdewert wird auf 848,61 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1
Das Amtsgericht hat auf Antrag der Gläubigerin mit Beschluss vom 28.06.2012 die Zwangsversteigerung in das hierin genannte Grundeigentum angeordnet. Der Beschluss wurde nebst Belehrung am 29.06.2012 zugestellt. Der Schuldner hatte kurz zuvor das Grundstück selbst im Wege der Zwangsversteigerung aufgrund des Zuschlagbeschlusses des Amtsgerichts vom 21.03.2012 (Az.: 6 K 29/11) erworben, wobei die dortige Schuldnerin seine Lebensgefährtin ist. Im dortigen Verfahren ist das Grundstück in gerichtliche Verwaltung nach § 94 ZVG genommen worden.
2
Nach Festsetzung des Verkehrswerts mit Beschluss vom 27.08.2012 wurde Versteigerungstermin mit Beschluss vom 07.02.2013 auf den 15.05.2013 bestimmt.
3
Mit Schreiben vom 24.04.2013 meldete sich der Verfahrensbevollmächtigte des Schuldners und beantragte, das Zwangsversteigerungsverfahren aufzuheben und den „Antrag auf Durchführung der Zwangsversteigerung zurückzuweisen“. Hilfsweise wurde beantragt, das Zwangsversteigerungsverfahren einstweilen für die Dauer von sechs Monaten einzustellen. Begründet wurde dies im Wesentlichen mit dem Gesundheitszustand des Schuldners und dessen Lebensgefährtin. Der Verfahrensbevollmächtigte hielt beide für akut suizid-gefährdet. Auf das Schreiben vom 24.04.2013 wird verwiesen.
4
Das Amtsgericht legte die Aufhebungs- bzw. Einstellungsanträge mit Verfügung vom 29.04.2013 als Antrag nach § 765a ZPO aus und verneinte die Voraussetzungen der Vorschrift hinsichtlich der Lebensgefährtin des Schuldners. Hinsichtlich des Schuldners ordnete es die Einholung eines amtsärztlichen Gutachtens an. Dieses wurde nach dem Akteninhalt nicht erstattet.
5
Der Versteigerungstermin wurde in Anwesenheit des Schuldners durchgeführt, ohne dass ein Gebot abgegeben worden wäre. Das Amtsgericht stellte mit Beschluss vom 15.05.2013 gemäß § 77 Abs. 1 ZVG das Zwangsversteigerungsverfahren einstweilen ein. Auf Antrag der Gläubigerin ordnete das Amtsgericht mit Beschluss vom 24.05.2013 die Fortsetzung des Verfahrens nach § 31 Abs. 1 ZVG an.
6
Mit Beschluss vom 08.07.2013 wies das Amtsgericht den (so ausgelegten) Antrag nach § 765a Abs. 1 ZPO zurück und bestimmte unter dem 29.08.2013 einen Versteigerungstermin auf den 27.11.2013. Mit Beschluss vom 25.09.2013 wurde der Beitritt des „Finanzamts Mühlhausen“ zur Zwangsversteigerung zugelassen. Weitere Forderungen Dritter wurden angemeldet.
7
Der Versteigerungstermin wurde in Anwesenheit des Schuldners durchgeführt, ohne dass ein Gebot abgegeben worden wäre. Auf Antrag der Gläubigerin stellte das Amtsgericht mit Beschluss vom 27.11.2013 das Verfahren einstweilen nach § 30 ZVG ein. Zugleich erließ es einen Beschluss nach § 77 Abs. 1 ZVG. Auf Antrag der Gläubigerin ordnete das Amtsgericht mit Beschluss vom 25.02.2014 erneut die Fortsetzung des Verfahrens nach § 31 Abs. 1 ZVG an. Mit Beschluss vom 10.06.2014 hob das Amtsgericht das Verfahren im Hinblick auf den Freistaat Thüringen, vertreten durch das Finanzamt Mühlhausen, auf.
8
Mit Beschluss vom 11.08.2014 wurde Versteigerungstermin auf den 15.10.2014 bestimmt. Der Versteigerungstermin wurde in Anwesenheit des Schuldners durchgeführt, ohne dass ein Gebot abgegeben worden wäre. Auf Antrag der Gläubigerin stellte das Amtsgericht mit Beschluss vom 15.10.2014 das Verfahren einstweilen nach § 30 ZVG ein. Auf Antrag der Gläubigerin ordnete das Amtsgericht mit Beschluss vom 26.02.2015 erneut die Fortsetzung des Verfahrens nach § 31 Abs. 1 ZVG an.
9
Mit Beschluss vom 26.05.2015 wurde Versteigerungstermin auf den 26.08.2015 bestimmt. Der Versteigerungstermin wurde in Anwesenheit des Schuldners durchgeführt. Es wurde ein Gebot abgegeben. Mit Beschluss vom 26.08.2015 wurde der Zuschlag nach § 85 a Abs. 1 ZVG versagt. Nach dem Vermerk des Amtsgerichts vom 27.08.2015 teilte der Schuldner während des Termins Folgendes mit: Die Gläubigerin sei unkooperativ. Der Schuldner wolle gerne höhere Raten zahlen, um die Forderung zu tilgen. Solange aber die gerichtliche Verwaltung im vorangegangenen Zwangsversteigerungsverfahren aufrecht erhalten bleibe und mithin eine höhere Zahlung nicht der Forderungstilgung, sondern allenfalls der Zahlung der Vergütung des Verwalters diene, werde er diesbezüglich nichts weiter veranlassen. Aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes des Schuldners und seiner Lebenspartnerin „spiele“ die Gläubigerin „mit (beider) Leben“. Wegen der Einzelheiten wird auf den Vermerk vom 27.08.2015 verwiesen.
10
Mit Beschluss vom 30.11.2015 wurde Versteigerungstermin auf den 09.03.2016 bestimmt. Mit Schreiben vom 10.12.2015 beantragte der Verfahrensbevollmächtigte des Schuldners wegen „akuter Suizidgefährdung“ des Schuldners wie seiner Lebensgefährtin erneut, das Zwangsversteigerungsverfahren aufzuheben und den „Antrag auf Durchführung der Zwangsversteigerung zurückzuweisen“, hilfsweise, das Zwangsversteigerungsverfahren einstweilen für die Dauer von sechs Monaten einzustellen. Nach u. a. dem beigefügten Attest der Hausärztin, einer Fachärztin für Allgemeinmedizin, sei „aufgrund der Gesamtsituation (…) davon auszugehen, dass bei Zwangsräumung des Hauses (bei dem Schuldner) mit schwerwiegenden psychischen Belastungsreaktionen bis zum Suizid zu rechnen“ sei. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz nebst Anlage verwiesen.
11
Mit Beschluss vom 15.12.2015 ordnete das Amtsgericht jeweils hinsichtlich des Schuldners und dessen Lebensgefährtin die Einholung eines amtsärztlichen Gutachtens an. Wegen der darin aufgeworfenen Fragen an die Sachverständige wird auf den Beschluss verwiesen. Zugleich wurde der Verfahrensbevollmächtigte mit Verfügung vom selben Tag zu weiterem Vortrag aufgefordert, wie innerhalb eines Einstellungszeitraums von 6 Monaten durch konkrete Maßnahmen, zum Beispiel durch die Teilnahme an einer stationären Therapie, der Suizidgefahr begegnet werden könne. Es wies ebenfalls darauf hin, dass im Falle einer akuten Suizidgefahr die Sache dem Vormundschaftsgericht vorgelegt werde, das die Erforderlichkeit einer Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung zu prüfen haben werde. Gegebenenfalls werde auch eine Betreuung mit dem Aufgabenkreis Gesundheitssorge und Aufenthaltsbestimmung angeregt werden. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Zwangsvollstreckung insbesondere dann fortzusetzen sei, wenn die für den Lebensschutz primär zuständigen Stellen wie das Vormundschaftsgericht Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Person nicht für notwendig erachteten.
12
Die Gutachten hinsichtlich der Lebensgefährtin des Schuldners und des Schuldners wurden unter dem 27.01.2016 bzw. dem 28.01.2016 erstattet. Auf diese wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen. Bei der Lebensgefährtin des Schuldners wurde eine leichtgradige depressive Episode befundet. Diese stehe jedoch nicht ursächlich mit dem Zwangsversteigerungsverfahren im Zusammenhang. Weder für die Vergangenheit noch aktuell bestünden Anzeichen für das Vorliegen von Suizidalität. Unter der Voraussetzung einer adäquaten Behandlung, nämlich einer Gesprächstherapie, gegebenenfalls einer medikamentösen Therapie, sei derzeit von einem vorübergehenden Zustand auszugehen. Die Voraussetzungen einer Unterbringung wurden mangels Fremdgefährdung seitens der Sachverständigen verneint. Der Schuldner leide aufgrund eines Hirninfarkts seit April 2013 an einer inkompletten Lähmung der rechten Körperhälfte sowie einer Sprechstörung ohne bleibende Beeinträchtigungen. Im Januar 2014 habe der Schuldner einen akuten Herzinfarkt erlitten. Die Herzkranzarterie habe mittels Aufweitung und Stent-Implantation rekanalisiert werden können. Bei der klinischen Untersuchung hätten sich Anzeichen für das Vorliegen einer Herzleistungsschwäche gezeigt. Zum Zeitpunkt der Untersuchung sei eine Herzrhythmusstörung nachweisbar gewesen. Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Eigengefährdung bzw. Suizidalität oder einer Fremdgefährdung hätten sich nicht gefunden. Es fänden sich keine Hinweise für das Vorliegen einer depressiven Erkrankung oder einer Belastungsreaktion. Wegen der Herzkranzerkrankung bestehe die Notwendigkeit einer regelmäßigen internistisch-kardiologischen Kontrolle und einer regelmäßigen medikamentösen Behandlung. Daher bestehe bei dem Schuldner ein gesundheitliches Risiko, das im Zusammenhang mit starker Aufregung bzw. emotionalem Stress, bedingt durch das anhängige Zwangsversteigerungsverfahren und dem gegebenenfalls damit verbundenen Verlust des Versteigerungsobjekts, ein unter Umständen lebensbedrohliches Gesundheitsrisiko darstellen könne. Die Voraussetzungen für eine Unterbringung seien jedoch nicht gegeben.
13
Mit Beschluss vom 03.02.2016 hat das Amtsgericht den (so ausgelegten) Antrag nach § 765a ZPO zurückgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 185 und 186 der Akte verwiesen. Die amtsärztlichen Gutachten hätten ergeben, dass entgegen der Behauptung des Verfahrensbevollmächtigten des Schuldners weder bei der Lebensgefährtin des Schuldners noch bei diesem selbst von einer akuten Suizidgefährdung auszugehen sei.
14
Gegen den am 05.02.2016 zugestellten Beschluss hat der Schuldner mit Schreiben vom 19.02.2016, eingegangen beim Amtsgericht per Telefax am selben Tag, sofortige Beschwerde eingelegt. Auf diese wird verwiesen. Nach dem amtsärztlichen Gutachten stelle das Zwangsversteigerungsverfahren für den Schuldner eine nicht unerhebliche emotionale Belastung dar. Unter Umständen könne sich ein lebensbedrohliches Gesundheitsrisiko verwirklichen.
15
Das Amtsgericht hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 09.03.2016 nicht abgeholfen und die Sache dem Landgericht Mühlhausen zur Entscheidung vorgelegt. Auf den Beschluss wird verwiesen. Die Suizidgefahr sei nicht bestätigt worden. Das vorliegende Verfahren sei seit Juni 2012 anhängig, so dass trotz der gesundheitlichen Probleme ausreichend Zeit gewesen sei, gemeinsam mit der Gläubigerin eine einvernehmliche Lösung zu finden. Es sei der Gläubigerin nicht zuzumuten, dauerhaft auf die Vollstreckung ihrer Forderung zu verzichten, weil eine chronische Erkrankung des Schuldners vorliege. Das Zwangsvollstreckungsverfahren als solches begründe keine sittenwidrige Härte. Sittenwidrig könne nach den Umständen des Einzelfalls nur eine konkrete Zwangsvollstreckungsmaßnahme, wie die Räumung aufgrund des Zuschlags, sein, denn nur diese stelle einen konkreten Eingriff in den Lebensbereich des Schuldners dar.
16
Die Kammer hat im Hinblick auf die Gesundheitsproblematik des Schuldners mit Verfügung vom 06.02.2017 ein ergänzendes amtsärztliches Gutachten in Auftrag gegeben. Der Schuldner wurde zugleich unter anderem auf die Entscheidung des BGH vom 04.05.2005 – I ZB 10/05 – hingewiesen, insbesondere auf die Verpflichtung des Schuldners, das ihm Zumutbare zu tun, um Risiken, die für ihn im Fall der Vollstreckung bestehen, zu verringern.
17
Der Verfahrensbevollmächtigte reagierte hierauf mit Schreiben vom 28.02.2017. Die Gläubigerin, die ihre Forderung ursprünglich mit ca. 8.500 EUR nebst Zinsen angegeben habe, habe zwischenzeitlich einen Betrag in Höhe von insgesamt 6.500 EUR erhalten. Der Gesundheitszustand des Schuldners habe sich in den letzten Jahren „drastisch weiter verschlechtert“. Eine Abwägung der Interessen des Schuldners mit den Vollstreckungsinteressen der Gläubigerin könne vorliegend nur zu einer Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens führen. Bei einer Versteigerung des Objekts würden dem Schuldner und seiner Lebensgefährtin die Obdachlosigkeit drohen sowie erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen, die amtsärztlicherseits bereits bestätigt worden seien.
18
Nach den Angaben der Gläubigerin im Schreiben vom 21.03.2017 bestehe zum 21.03.2017 eine Restforderung in Höhe von 4.724,66 EUR zuzüglich Zinsen und Kosten. Insofern könne bei gleich bleibender Zahlung von monatlich 250,- EUR an den gerichtlichen Verwalter im Parallelverfahren nicht von einer Tilgung „in naher Zukunft“ oder hilfsweise innerhalb von 6 Monaten ausgegangen werden.
19
Das ergänzende amtsärztliche Gutachten wurde unter dem 29.05.2017 erstattet. Hierauf wird verwiesen. Hierzu haben die Gläubigerin mit Schreiben vom 16.06.2017 und 18.07.2017 sowie der Schuldner mit Schreiben vom 05.07.2017 Stellung genommen.
II.
20
Die nach §§ 793, 567 ff ZPO statthafte und insbesondere form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde ist unbegründet, denn die Voraussetzungen des § 765a ZPO sind vorliegend nicht erfüllt.
21
1. Der als Schutzantrag nach § 765a ZPO ausgelegte Begehren des Schuldners vom 10.12.2015 ist statthaft.
22
a) Das Amtsgericht hat das Schreiben des Schuldners vom 10.12.2015 zutreffend als Begehren nach 765a Abs. 1 ZPO ausgelegt. Es sind zwar Anträge nach §§ 28, 30a ZVG gestellt worden; die Begründung des Schuldners stellt indes auf Erwägungen ab, die allein im Rahmen des § 765a ZPO von Bedeutung sind.
23
b) Es ist unschädlich, dass der Schuldner trotz jeweiliger Belehrung die Notfrist des § 30b Abs. 1 ZVG sowohl nach dem Anordnungsbeschluss vom 28.06.2012 als auch nach dem Beitrittsbeschluss vom 25.09.2013 hat verstreichen lassen. In diesem Zusammenhang wird allerdings vertreten, dass sich ein Schuldner nicht auf § 765a ZPO berufen könne, wenn er hierdurch eine Heilung von Fristversäumnissen, etwa nach § 30b Abs. 1 ZVG, erwirken wolle (vgl. Morvilius, in: Dierck / Morvilius / Vollkommer, Handbuch Zwangsvollstreckungsrecht, 2. Aufl., 4. Kap. Rn. 206, S. 332).
24
Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO bleibt jedoch auch im Fall des Fristablaufs resultierend aus speziellen Schutzvorschriften insbesondere dann möglich, wenn es sich um Umstände handelt, die erst nach Ablauf der Frist aufgetreten sind. Nach h. M. handelt es sich bei § 765a ZPO um eine Generalklausel des Schuldnerschutzes (vgl. Münzberg, in: Stein / Jonas, ZPO, 21. Aufl., § 765a, Rn. 1; MüKo-ZPO-Heßler, ZPO, 5. Aufl., § 765a, Rn. 1; Musielak / Voit / Lackmann, ZPO, § 765a, Rn. 1; Stöber, ZVG, 21. Aufl., Einl. 52.1; Walker, in: Schuschke / Walker, Vollstreckung und Vorläufiger Rechtsschutz, 4. Aufl., § 765a, Rn. 1; Keller, Handbuch Zwangsvollstreckungsrecht, Rn. 392) bzw. um eine Ausprägung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (vgl. Baumbach / Hartmann, ZPO, 74. Aufl., § 765a, Rn. 1; Schuschke, NZM 2015, 233, 236). Die Vorschrift wird daher als Ausnahme- bzw. Auffangvorschrift verstanden, so dass ihre Anwendbarkeit auch dann nicht ausgeschlossen wird, wenn der Schuldner – etwa nach spezielleren Schutzvorschriften – einen Antrag hätte stellen können, diesen jedoch versäumt hat (vgl. Münzberg, a. a. O., Rn. 35; Zöller / Stöber, ZPO, 31. Aufl., § 765a, Rn. 13; Thomas / Putzo / Seiler, ZPO, 38. Aufl., § 765a, Rn. 2, 11a; Walker, a. a. O., Rn. 2; Schuschke, a. a. O., 237). Dem ist zuzustimmen. Es ist anerkannt, dass ausnahmsweise im Anschluss an einen nicht mehr vorhandenen Spezialschutz neue Umstände eintreten können, die für sich genommen oder im Zusammenhang mit anderen Umständen die Vollstreckung als unsittliche Härte erscheinen lassen (vgl. Heßler, a. a. O., Rn. 14). Zudem können Umstände, die im Fall der Fristversäumnis im Zusammenhang mit spezielleren Schutzvorschriften hätten vorgetragen werden können und müssen, auch im Rahmen des § 765a ZPO herangezogen werden (vgl. Walker, a. a. O., Rn. 2 a. E.); dann muss dies aber erst recht gelten, wenn solche Umstände erst nachträglich auftreten. So liegt der Fall hier. Die erste gesundheitliche Beeinträchtigung durch einen Hirninfarkt ist nach den Feststellungen der Sachverständigen im April 2013 aufgetreten, der akute Herzinfarkt im Januar 2014, also weit nach Ablauf der Frist des § 30b Abs. 1 ZVG, die jeweils nach dem Anordnungsbeschluss vom 28.06.2012 als auch nach dem Beitrittsbeschluss vom 25.09.2013 in Gang gesetzt worden ist.
25
c) Die Zulässigkeit scheitert schließlich auch nicht daran, dass derzeit keine konkrete Zwangsvollstreckungsmaßnahme in Rede steht, wie etwa die Erteilung des Zuschlags oder eine Räumung aufgrund eines Zuschlags, weil nur dies einen konkreten Eingriff in den Lebensbereich des Schuldners darstelle.
26
Es ist trifft zwar zu, dass derzeit kein Versteigerungstermin angeordnet ist noch ein Zuschlag oder eine Räumung anstehen. Die auf das OLG Köln (v. 07.02.1994 – 2 W 21/94, Rn. 5, zit. n. juris) zurückgehende Auffassung, die teilweise in der Literatur aufgegriffen wurde (vgl. Zöller / Stöber, a. a. O., Rn. 4; Seiler, a. a. O., Rn. 4), greift jedoch zu kurz. Es trifft zu, dass die Durchführung eines Zwangsvollstreckungsverfahrens als solches noch keine sittenwidrige Härte im Sinn des § 765a Abs. 1 ZPO darstellt, selbst wenn es sich um eine Zwangsversteigerung wegen einer geringen Forderung handelt (vgl. BGH v. 25.06.2004 – IXa ZB 267/03, NJW 2004, 3635, 3636; OLG Hamm v. 26.03.2001 – 15 W 66/01, Rn. 12, zit. n. juris). Dass es jedoch stets einer Maßnahme im Sinn des OLG Köln bedürfte, lässt sich so nicht vertreten (vgl. OLG Brandenburg v. 11.10.2000 – 8 W 207/00, Rn. 9, zit. n. juris; OLG Hamm v. 26.03.2001 – 15 W 66/01, Rn. 12, zit. n. juris). Der Begriff der Vollstreckungsmaßnahme nach § 765a Abs. 1 ZPO wird synonym für den Begriff der Vollstreckungsmaßregel verwendet, wie schon § 765a Abs. 5 ZPO zeigt. Da die Zwangsversteigerung eine Vollstreckungsmaßregel darstellt (vgl. § 866 Abs. 1 und 2 ZPO), genügt es, dass diese Maßregel angeordnet wurde. Mit dem Begehren nach Vollstreckungsschutz wendet sich der Schuldner damit auch nicht lediglich gegen die Zwangsvollstreckung im Allgemeinen, sondern gegen eine konkrete Vollstreckungsmaßregel bzw. -maßnahme im Sinn der Vorschrift. Jedenfalls ist es anerkannt, dass der Antrag nach § 765a ZPO von Beginn der Maßnahme an bis zum Ende der Zwangsvollstreckung gestellt werden (vgl. OLG Brandenburg, a. a. O., Rn. 9; OLG Hamm. a. a. O., Rn. 12; OLG Saarbrücken v. 20.08.2002 – 5 W 383/01, Rn. 14, zit. n. juris; Seiler, a. a. O., Rn. 7; Lackmann, a. a. O., Rn. 18; Schreiber, Handbuch Immobilienrecht, 3. Aufl., Kap. 16, Rn. 34).
27
2. Die Vorschrift des § 765a ZPO ist vorliegend anwendbar. Dies steht für das Verfahren der Zwangsversteigerung außer Frage (vgl. nur Stöber, a. a. O., Einl. 52.2).
28
3. Die Voraussetzungen der Vorschrift sind jedoch nicht erfüllt.
29
Nach § 765a Abs. 1 ZPO kann das Vollstreckungsgericht auf Antrag des Schuldners eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht mehr vereinbar ist. Die Gegenüberstellung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers, dem voll Rechnung getragen werden muss, und der Schuldnerbelange erfordert eine umfassende Interessenabwägung. Schuldnerschutz kann daher nur bei einem krassen Missverhältnis der für und gegen die Vollstreckung sprechenden Interessen gewährt werden. Die für die Beurteilung des Falles wesentlichen Umstände müssen eindeutig sein und so stark zugunsten des Schuldners sprechen, dass für Zweifel kein Raum bleibt (vgl. Zöller / Stöber, a. a. O., Rn. 6) bzw. die Zwangsvollstreckung nach Abwägung der beiderseitigen Belange zu einem untragbaren Ergebnis führen würde (vgl. Seiler, a. a. O., Rn. 8a mwN). Als Ausnahmevorschrift ist § 765a ZPO daher eng auszulegen (BGHZ 44, 138, 143; BGH, NJW 2004, 3635, 3636).
30
a) Soweit der Schuldner im Schreiben vom 15.12.2015 noch darauf abgehoben hatte, dass eine akute Suizidgefahr bestünde, hält er dieses Vorbringen in der sofortigen Beschwerde vom 19.02.1016 schon selbst nicht mehr aufrecht. Das Amtsgericht hat dies bereits in dem angegriffenen Beschluss vom 03.02.2016 mit zutreffender Begründung unter Verweis auf die beiden eingeholten Sachverständigengutachten vom 27.01.2016 und 28.01.2016 für den Schuldner wie auch für dessen Lebensgefährtin verneint.
31
Generell gelten nach der neueren Rechtsprechung des BGH (v. 16.03.2017 – V ZB 150/16, NZM 2017, 454; vgl. auch Zschieschack, NZM 2017, 15 ff; Kogel, Rpfleger 2017, 372 ff) hier folgende Grundsätze:
32
„1. Ein Vollstreckungsverfahren ist nicht allein deshalb einzustellen, weil eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners mit der Zwangsvollstreckung verbunden ist. Vielmehr ist das in solchen Fällen ganz besonders gewichtige Interesse des von der Vollstreckung Betroffenen (Lebensschutz) gegen das Vollstreckungsinteresse des Gläubigers (Gläubigerschutz; wirksamer Rechtsschutz) abzuwägen. Es ist daher sorgfältig zu prüfen, ob der Gefahr der Selbsttötung auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann.
33
2. Kann davon ausgegangen werden, dass die Suizidgefahr durch eine konsequente längerfristige psychotherapeutische Behandlung abgewendet werden kann, ist die Möglichkeit zu prüfen, eine solche Behandlung durch bestimmte flankierende Maßnahmen sicherzustellen wie etwa eine vorübergehende Unterbringung des Schuldners oder eine ihm aufzuerlegende stationäre Behandlung.
34
3. Dass der Schuldner in der Vergangenheit psychotherapeutische Behandlungen nicht aufgenommen oder aus eigenem Antrieb beendet hat, belegt allein nicht, dass eine Unterbringung zum Zweck der therapeutischen Behandlung keine Aussicht auf Erfolg verspricht.
35
4. Das Vollstreckungs- bzw. Beschwerdegericht kann gehalten sein, zunächst das Betreuungsgericht einzuschalten, gegebenenfalls gleichzeitig mit der Befassung der für eine Unterbringung nach landesrechtlichen Vorschriften zuständigen Ordnungsbehörden.“
36
Von diesen Grundsätzen ist das Amtsgericht zutreffend ausgegangen. Soweit daher im Schriftsatz des Schuldners vom 28.02.2017 auf erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen sowohl des Schuldners als auch der Lebensgefährtin abgestellt wurde, „die amtsärztlicherseits bereits bestätigt wurden“, trifft dies im Hinblick auf eine Suizidalität gerade nicht zu. Hinsichtlich des Schuldners ist dies nach dem Gutachten vom 29.05.2017 schlicht unzutreffend. Auch im Übrigen ist bei einer leichtgradigen depressiven Episode, die bei der Lebensgefährtin der Schuldnerin seitens der Sachverständigen unter dem 27.01.2016 festgestellt wurde, kann nicht von einer solchen gesundheitlichen Beeinträchtigung ausgegangen werden, dass die Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens zu einem untragbaren Ergebnis führte.
37
b) Soweit der Schuldner mit der Beschwerde allein noch darauf abhebt, es bestehe infolge seiner Herzerkrankung ein gesundheitliches Risiko, welches im Zusammenhang mit starker Aufregung / emotionalem Stress bedingt durch das anhängig Zwangsversteigerungsverfahren und dem damit ggf. verbundenen Verlust des Versteigerungsobjekts ein u. U. lebensbedrohliches Gesundheitsrisiko darstellen könne, greift dies im Ergebnis nicht durch.
38
Nach der neueren Rechtsprechung des BGH (v. 13.10.2016 – V ZB 138/15, Rn. 8, 12; vgl. schon BGH v. 04.05.2005 – I ZB 10/05, Rn. 19 – 22; ) gilt Folgendes:
39
„Die Gefährdung des unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Rechts des Schuldners auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist (…) nicht nur bei der konkreten Gefahr eines Suizids zu berücksichtigen, sondern auch, wenn die Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens aus anderen Gründen eine konkrete Gefahr für das Leben des Schuldners begründet (Senat, Beschluss vom 21. Juli 2011 – V ZB 48/10, ZfIR 2011, 886 Rn. 7) oder wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte im Sinne von § 765a ZPO darstellt (BVerfG, WM 2014, 565 Rn. 13; BGH, Beschluss vom 13. August 2009 – I ZB 11/09, WM 2009, 2228 Rn. 12). Diese Voraussetzungen können einerseits nicht schon angenommen werden, wenn die Fortsetzung des Verfahrens zu physischen oder psychischen Belastungen des Schuldners oder einer seiner Angehörigen führt. Auch das Bestehen einer lebensbedrohlichen Erkrankung wie einer Krebserkrankung würde, für sich genommen, nicht genügen (Senat, Beschluss vom 2. Dezember 2010 – V ZB 124/10, NJW-RR 2011, 419 Rn. 7). Eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte im Sinne von § 765a ZPO liegt andererseits aber etwa vor, wenn die Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens den Erfolg der Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung des Schuldners gefährdet (Senat, Beschluss vom 21. Juli 2011 – V ZB 48/10, ZfIR 2011, 886 Rn. 7 aE). Nichts Anderes gilt, wenn der Schuldner an einer Erkrankung leidet und die Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands und als deren Folge eine Gefahr für das Leben des Schuldners oder schwerwiegende gesundheitliche Risiken erwarten lässt (BVerfG, WM 2014, 1725, 1726; BGH, Beschluss vom 13. August 2009 – I ZB 11/09, WM 2009, 2228 Rn. 12). Dass eine solche Verschlechterung des Gesundheitszustands auch durch andere Umstände ausgelöst werden könnte, ändert daran nichts und ist deshalb ohne Bedeutung.“
40
„Wenn eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners mit der Zwangsvollstreckung verbunden ist, ist [etwa ein …] Zuschlag weder ohne weiteres zu versagen und die Zwangsversteigerung (einstweilen) einzustellen noch ohne weiteres unter Ablehnung des beantragten Vollstreckungsschutzes nach § 765a ZPO zu erteilen. Erforderlich ist vielmehr, das in solchen Fällen ganz besonders gewichtige Interesse der von der Vollstreckung Betroffenen (Lebens- bzw. hier: Gesundheitsschutz, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) gegen das Vollstreckungsinteresse des Gläubigers (Gläubigerschutz, Art. 14 GG; wirksamer Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG) abzuwägen. Es ist daher sorgfältig zu prüfen, ob der Gefahr schwerwiegender gesundheitlicher Risiken auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Mit Blick auf die Interessen des Erstehers gilt nichts anderes (zum Ganzen: Senat, Beschluss vom 12. November 2014 – V ZB 99/14, NJW-RR 2015, 393 Rn. 7).“
41
Nach diesen Grundsätzen ist nach den Feststellungen der Sachverständigen in dem ergänzenden Gutachten vom 29.05.2017 zunächst von Folgendem auszugehen: Es besteht eine Herzkranzgefäßerkrankung bei Zustand nach Herzinfarkt 2014 mit erfolgreicher Rekanalisation des Herzkranzgefäßes. Bluthochdruck wie auch ein Diabetes mellitus werden medikamentös behandelt. Klinisch wurde seitens des Schuldners von einem Angstgefühl berichtet, „es nicht mehr zu schaffen“. Er sei durch das vorliegende Verfahren emotional stark belastet. Für die Sachverständigen wurde wortreicher Vortrag (Logorrhoe) mit der Neigung zu Schuldzuweisungen an Dritte (wie die Gläubigerin und Ärzte) auffällig. Hinweise für Eigen- oder Fremdgefährdung bestanden nicht. Der Schuldner ist in regelmäßiger hausärztlicher Kontrolle, fachärztlich-kardiologische Untersuchungen finden derzeit im Jahresintervall statt. Bei einer Herzultraschalluntersuchung im August 2016 zeigte sich kein auffälliger Befund. Ein MRT des Schädels vom Mai 2017 zeigte eine krankhafte Veränderung der kleinen Blutgefäße (Mikroangiopathie) ohne den Nachweis einer spezifischen Raumforderung. Es liege nach der Sachverständigen eine Arteriosklerose mit bereits eingetretenen Folgeerkrankungen wie Schlaganfall und Herzinfarkt vor. Ursächlich hierfür könne die Blutzuckererkrankung wie auch der Bluthochdruck sein. Außer der weiteren medikamentösen Behandlung des Bluthochdrucks wie auch des Diabetes ergäben sich keine weiteren Konsequenzen.
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Die Frage nach der Wahrscheinlichkeit einer konkreten Gefährdung von Leben und Gesundheit des Schuldners durch das vorliegende Zwangsvollstreckungsverfahren beantwortete die Sachverständige zusammengefasst wie folgt: Es bestehe eine Herzleistungsschwäche vom klinischen Schweregrad II, was einer leichten Einschränkung der Belastbarkeit entspreche. Prognoseverschlechternde Faktoren seien neben dem Lebensalter die Bluthochdruck- und die Stoffwechselerkrankung. Die Sterblichkeitsrate einer Angina pectoris betrage ca. 4 bis 5 %, was etwa einer Verdopplung gegenüber der normalen Sterblichkeit im mittleren Alter entspreche. Auch unter regelmäßiger medikamentöser Behandlung könne eine krisenhafte Entgleisung mit Beschwerdezunahme mit dem Erfordernis einer akuten Behandlungsnotwendigkeit auftreten. Folge einer solchen Entgleisung könne ein erneuter Herzinfarkt oder ein erneuter Schlaganfall sein.
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Es mag daher in einem ersten Schritt von einer konkreten Gefahr für das Leben des Schuldners auszugehen sein, wenn das Zwangsversteigerungsverfahren fortgesetzt werden würde. Allein dies genügt nach der Rechtsprechung des BGH für sich jedoch genauso wenig wie physische oder psychische Belastungen des Schuldners oder seiner Angehörigen für die Annahme einer mit den guten Sitten unvereinbaren Härte. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Fortsetzung des Verfahrens den Erfolg der derzeitigen medikamentösen Behandlung des Schuldners gefährdete. Andererseits ist es nach der Sachverständigen nicht ausgeschlossen, dass es bei Fortsetzung des Verfahrens zu einer Entgleisung mit den Folgen eines Herzinfarktes oder eines Schlaganfalls kommen kann. Damit lässt die Fortsetzung des Versteigerungsverfahrens nach der Rechtsprechung des BGH eine Verschlechterung des Gesundheitszustands erwarten und als deren Folge eine Gefahr für das Leben des Schuldners.
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Bei der im zweiten Schritt vorzunehmenden Abwägung des besonders gewichtigen Interesses der von der Vollstreckung betroffenen Person im Sinn eines Lebens- bzw. Gesundheitsschutzes, der für den Staat aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgt, gegenüber dem Vollstreckungsinteresse des Gläubigers in seiner Ausprägung als Gläubigerschutz (Art. 14 GG) und eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), ist weiter zu prüfen, ob der Gefahr schwerwiegender gesundheitlicher Risiken auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangvollstreckung wirksam begegnet werden kann, was insbesondere die Art und Weise der Durchführung der Zwangsvollstreckung betreffen kann. Die Sachverständige hat hierzu ausgeführt, dass im Fall der „Notwendigkeit weiterer Gerichtsverhandlungen“ die Verhandlung bei Angabe körperlicher Beschwerden zwingend zu unterbrechen und der Schuldner einer medizinischen Behandlung zuzuführen sei. Die Kammer geht davon aus, dass die Sachverständige unterstellt hat, dass die Anwesenheit des Schuldners etwa bei einem Versteigerungstermin erforderlich sei. Dem ist indes nicht so. Es besteht keine Verpflichtung des Schuldners, an einem solchen Termin teilzunehmen. Selbst wenn er indes der Verhandlung beiwohnt, besteht jedoch nach der Sachverständigen mit der Unterbrechung der Verhandlung und einer medizinischen Behandlung eine adäquate Alternative zur Einstellung des Verfahrens. Insofern kann staatlicherseits der Gefahr des gesundheitlichen Risikos mit den angesprochenen Folgen wirksam begegnet werden.
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In einem dritten Schritt ist der Gefährdete nach der Rechtsprechung des BGH (v. 04.05.2005 – I ZB 10/05, Rn. 21) auch selbst verpflichtet, das ihm Zumutbare zu tun, um die Risiken, die für ihn im Fall der Vollstreckung bestehen, zu verringern. Die Sachverständige hat hierzu ausgeführt, dass es dem Schuldner aus medizinischer Sicht zumutbar wäre, zumindest vorübergehend eine engmaschigere Kontrolle des Herz-Kreislauf-Systems durch Kontrolle des Blutdrucks und mittels EKG-Kontrolle zur Abschätzung des Risikos einer konkreten Gefährdung im Zwangsvollstreckungsverfahren durchzuführen. Damit ist es dem Schuldner zumutbar, seine Erkrankung zumindest zu kontrollieren, um einer krisenhaften Entgleisung im Ergebnis entgegenzuwirken.
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Im Rahmen der Abwägung ist – bezogen auf den Gesundheitszustand des Schuldners – damit festzustellen, dass zwar eine konkrete Gesundheitsgefährdung mit den von der Sachverständigen genannten Folgen eintreten kann. Andererseits kann seitens des Staates dieser Gefährdung wirksam begegnet werden, indem für den Fall der Anwesenheit des Schuldners in einem künftigen Versteigerungstermin seitens des Amtsgerichts im Fall einer Krise ein Arzt herbeigerufen werden kann, um den Schuldner adäquat zu versorgen. Es ist dem Schuldner zudem zumutbar, sich der Anwesenheit in einem solchen Termin zu enthalten. Wenn einem Suizidgefährdeten nach der Rechtsprechung des BGH zugemutet werden kann, fachliche Hilfe – ggf. auch durch einen stationären Aufenthalt – in Anspruch zu nehmen, kann es dem Schuldner vorliegend erst recht zugemutet werden, einem Termin, in dem er nach seinen Angaben gegenüber der Sachverständigen laut dem Gutachten vom 29.05.2017 „zweimal fast zusammengebrochen“ sei, schlicht fernzubleiben. Es ist ihm überdies zuzumuten, wenn er damit das Verfahren quasi passiv weiter verfolgen müsste, sich engmaschiger Kontrollen zu unterziehen, um einer eventuell eintretenden Entgleisung wirksam zu begegnen. Können damit staatlicherseits als auch seitens des Schuldners (einfache) Vorkehrungen getroffen werden, um eine Gefährdung des Lebens des Schuldners im Fall einer Vollstreckung zu verringern – ausgeschlossen werden müssen Risiken nach der Rechtsprechung des BGH jedenfalls nicht -, kann von einer untragbaren Härte im Sinn des § 765a Abs. 1 ZPO nicht die Rede sein.
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Nach der Rechtsprechung des BGH kann grundsätzlich in die – übrige – Abwägung mit einfließen, dass – etwa nach einem Räumungsurteil – keine Anstrengungen unternommen wurden, eine andere Wohnung zu finden. Gewicht ist auch dem Umstand beizumessen, dass nur noch geringe Zahlungsrückstände bestehen (vgl. BGH v. 13.08.2009 – I ZB 11/09, Rn. 14, zit. n. juris). Mit einzufließen hat auch die Dauer des Verfahrens, die derzeit fünf Jahre beträgt. Mit entscheidend ist für die Kammer der Umstand, dass der Schuldner nach dem Aktenvermerk vom 27.08.2015 (im Rahmen der gerichtlichen Verwaltung) gerne höhere Raten zahlen würde, dies aber nicht tue, weil eine höhere Zahlung nicht der Forderungstilgung, sondern der Zahlung der Vergütung des Verwalters diene, so dass er insoweit nichts Anderes veranlasse. Da hier offensichtlich für den Schuldner finanzieller Spielraum besteht, war es ihm unbenommen, Zahlungen direkt an die Gläubigerin zu leisten, die nach § 497 Abs. 3 S. 2 BGB Teilzahlungen nicht zurückweisen durfte. Unterstellt, die mit Schreiben vom 21.03.2017 vorgelegte Abrechnung (Bl. 230 d. A.), auf die verwiesen wird, ist zutreffend, wäre eine geringere Restforderung zu verzeichnen, was das Vollstreckungsinteresse der Gläubigerin in seinem Gewicht hätte geringer werden lassen können. Dass der Schuldner diese Möglichkeit nicht genutzt hat, geht zu seinen Lasten.
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Im Rahmen der Abwägung des Gesundheits- bzw. Lebensschutzes des Schuldners und den Vollstreckungsinteressen der Gläubigerin kann daher insgesamt nicht davon ausgegangen werden, dass wegen ganz besonderer Umstände bei Fortsetzung des Verfahrens eine Härte vorläge, die mit den guten Sitten nicht vereinbar wäre. Insbesondere kann sich der Schuldner in zumutbarer Weise selbst vor den gesundheitlichen Folgen einer Fortsetzung des Verfahrens schützen. Schließlich stellt die vom Schuldner im Schreiben vom 28.02.2017 angesprochene drohende Obdachlosigkeit keinen Fall einer sittenwidrigen Härte dar (vgl. nur Seiler, a. a. O., Rn. 9a mwN).
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.
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5. Der Beschwerdewert war nach § 3 ZPO nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer mit 1/10 der ursprünglich geltend gemachten Forderung von 8.486,12 EUR festzusetzen.
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6. Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordern.