OLG Frankfurt, Urteil vom 16. September 2021 – 6 U 133/20
1. Wendet sich ein Mobilfunkanbieter an seinen Kunden, nachdem dieser die Vertragsbeziehung gekündigt hat, und verspricht diesem ein zusätzliches Datenvolumen bei einem Rückruf, ist dies irreführend, wenn dem Kunden beim Rückruf mitgeteilt wird, dass das Datenvolumen nur dann gewährt wird, wenn er die Kündigung zurücknimmt.
2. Diese Irreführung ist auch geeignet, den Kunden zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte, denn das Verbot des § 5 UWG erfasst auch die Irreführung, von der lediglich eine Anlockwirkung ausgeht.
3. Die Wiederholungsgefahr entfällt nicht deshalb, weil der Mobilfunkanbieter geltend macht, es habe sich um einen „Ausreißer“ gehandelt, da eine einzelne Mitarbeiterin entgegen seinen Anweisungen gehandelt habe.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil Landgerichts Hanau vom 10.7.2020, Az. 9 O 1199/19 abgeändert.
Der Beklagten wird – bei Vermeidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes von bis zu 250.000 € und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, einer Ersatzordnungshaft oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, zu vollziehen an den Geschäftsführern der Beklagten – untersagt,
im Rahmen geschäftlichen Handlungen gegenüber Verbrauchern, die ihren Mobilfunkvertrag gekündigt haben, in einer E-Mail zusätzliches Datenvolumen für einen telefonischen Rückruf in Aussicht zu stellen und diesen bei einem Anruf des Kunden davon abhängig zu machen, dass dieser seine Kündigung zurücknimmt.
Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 18.000 € abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
I.
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Die Parteien streiten um einen Unterlassungsanspruch wegen eines behaupteten Verstoßes gegen das Gesetz über den unlauteren Wettbewerb.
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Der Kläger ist der Dachverband aller 16 Verbraucherzentralen in Deutschland; die Beklagte ist Anbieterin von Mobilfunkdienstleistungen.
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Ein Kunde der Beklagten erhielt nach Kündigung seines Vertrages eine E-Mail, in der dem Kunden ein Geschenk in Form eines Datenvolumens von 1 GB unter der Bedingung versprochen wurde, dass er bei der Hotline anriefe. Bei Anruf bei der Hotline und durch eine weitere E-Mail eine Woche später erklärten Mitarbeiter der Beklagten hingegen, dass eine Freischaltung des Datenvolumens nur Betracht komme, wenn die Kündigung zurückgezogen werde.
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Die Beklagte trägt – was von dem Kläger bestritten wird – vor, es handele sich insofern um einen Irrtum und einen Fehler einzelner Mitarbeiter, der im Gegensatz zu den Anweisungen der Beklagten gestanden habe.
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Das Landgericht hat die Klage durch das angefochtene Urteil, auf das gemäß § 540 Abs. 1 ZPO im Hinblick auf die tatsächlichen Feststellungen Bezug genommen wird, abgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, ein Verstoß gegen Nr. 21 der Anlage zu § 3 Abs. 3 UWG liege nicht vor, da die Beklagte mit der E-Mail keine Ware oder Dienstleistung kostenlos angeboten habe. Diese sei vielmehr von der Kostentragung aus dem abgeschlossenen Tarif abhängig. Es liege auch keine Irreführung nach § 5 bzw. 5a UWG vor, da das Angebot der Beklagten nicht dazu geeignet sei, die Verbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen. Schließe der Kunde nach dem irreführenden Anlocken am Telefon einen neuen Vertrag, so sei dies Folge des Verhandlungsgeschicks der Mitarbeiter der Beklagten, nicht aber unmittelbare Folge der Irreführung.
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Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er seinen erstinstanzlichen Klageantrag weiterverfolgt.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte wird unter Abänderung des am 10.7.2020 verkündeten Urteils des Landgerichts Hanau, Az. 9 O 1199/19 verurteilt, bei Vermeidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes von bis zu 250.000 € und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, einer Ersatzordnungshaft oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, zu vollziehen an den Geschäftsführern der Beklagten, untersagt,
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im Rahmen geschäftlichen Handlungen gegenüber Verbrauchern, die ihren Mobilfunkvertrag gekündigt haben, in einer E-Mail zusätzliches Datenvolumen für einen telefonischen Rückruf in Aussicht zu stellen und diesen bei einem Anruf des Kunden davon abhängig zu machen, dass dieser seine Kündigung zurücknimmt.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt das angegriffene Urteil.
II.
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Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg. Dem Kläger steht gegen die Beklagte ein Unterlassungsanspruch aus §§ 8 Abs. 1 und 3 Nr. 3, 3 Abs. 1, 5 Abs. 1 UWG zu, da die Beklagte eine irreführende Handlung vorgenommen hat, indem sie einem Kunden eine kosten- und bedingungslose Leistung versprochen hat, die dieser tatsächlich nur bei Rücknahme der Kündigung erhalten sollte.
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1. Soweit der Kläger mit der Berufung angreift, dass das Landgericht entgegen seiner Darlegung zunächst einen Anspruch aus § 3 Abs. 3 UWG i.V.m. Nr. 21 des Anhangs behandelt und erst danach Ausführungen zu § 5 UWG gemacht habe, ist die dahinstehende Überlegung des Klägers, dem Gericht die Prüfungsreihenfolge vorgehen zu können, verfehlt.
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Streitgegenstand ist folgendes Verhalten der Beklagten: Sie verspricht dem Kunden als „Datasnack“ 1 GB Datenvolumen, wenn dieser nach einer Kündigung beim Kundenservice anruft. Tatsächlich aber hat der Kunde im vorliegenden Fall den Datasnack nicht voraussetzungslos, sondern nur dann erhalten, wenn er seine Kündigung zurückgenommen hat.
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Dieses Verhalten greift der Kläger unter zwei Gesichtspunkten an: Zum einen liege hierin eine Irreführung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2. bzw. § 5a UWG; zum anderen sei der Katalogtatbestand der Nr. 21 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG erfüllt. Letzteres hat der Kläger in der Klageschrift wie folgt eingeführt: „Strenggenommen wären die obigen Ausführungen zu § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und § 5a Abs. 2 UWG sogar als Hilfsvortrag zu betrachten. Gleichwohl dürften sie der juristischen Reflexion des Sachverhalts dienlich sein“. Hieraus wird nicht deutlich, ob der Kläger in erster Instanz das Verhalten tatsächlich unter beiden Gesichtspunkten angreifen wollte und wenn ja, in welchem Verhältnis die beiden Angriffe zu einander stehen sollten. Wenn sich – wie hier – die Klage gegen die sog. konkrete Verletzungsform richtet, also das konkret umschriebene (beanstandete) Verhalten, ist darin der Lebenssachverhalt zu sehen, der den Streitgegenstand bestimmt (BGHZ 194, 314 Rn 24 – Biomineralwasser). Dass der vorgetragene Lebenssachverhalt die Voraussetzungen nicht nur einer, sondern mehrerer Verbotsnormen erfüllt, ist unerheblich. Vielmehr umfasst der Streitgegenstand in diesem Fall alle Rechtsverletzungen, die durch die konkrete Verletzungsform verwirklicht wurden (BGH GRUR 2012, 184 Rn 15 – Branchenbuch Berg; BGHZ 194, 314 Rn 24 – Biomineralwasser; BGH GRUR 2018, 203 Rn 18 – Betriebspsychologe; OLG Köln GRUR-RR 2013, 24; OLG Düsseldorf WRP 2019, 899 Rn 19), hier also sowohl §§ 5, 5a UWG als auch § 3 Abs. 3 UWG.
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Der „weite“ Streitgegenstandsbegriff ermöglicht es dem Gericht grundsätzlich, selbst zu bestimmen, ob und auf welcher Grundlage es ein Unterlassungsgebot ausspricht. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Kläger beide Angriffe zum Gegenstand jeweils eines eigenen Antrags macht (Köhler/Bornkamm/Feddersen, 39. Aufl. 2021, UWG § 12 Rn 1.23 j), was aber hier in erster Instanz nicht der Fall gewesen ist. In der Berufung hat der Kläger nunmehr ausgeführt, sein Vortrag habe sich auf § 3 Abs. 3 UWG nur „ergänzend und hilfsweise bezogen“. Dies ändert indes nichts, da er auch weiterhin die beiden Beanstandungen nicht zum Gegenstand verschiedener Anträge macht.
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Auch aus dem Gesetz ergibt sich keine zwingende Reihenfolge. Zwar handelt sich in den Fällen des § 3 Abs. 3 UWG um Spezialregelungen; die allgemeinen Vorschriften der Unlauterkeit wegen irreführender und aggressiver Geschäftspraktiken werden durch die spezielleren Tatbestände im Anh. zu § 3 Abs. 3 UWG allerdings nicht verdrängt, sondern lediglich ergänzt (BGH, GRUR 2012, 82 Rn 16 – Auftragsbestätigung – m.w.N.). Der Rückgriff auf die allgemeinen Vorschriften ist damit nicht bereits deswegen ausgeschlossen, weil die Frage der Unlauterkeit der im Anhang geregelten besonderen Geschäftspraktiken dort abschließend geregelt ist (BGH GRUR 2019, 1202 – Identitätsdiebstahl).
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2. Die Beklagte hat gegen § 5 Abs. 1 UWG verstoßen, indem sie damit geworben hat, dass der Kunde bei einem Anruf 1 GB Datenvolumen voraussetzungslos erhalte und dem Kunden bei dem Anruf, dagegen (zweimal) mitgeteilt hat, dass die zusätzliche Voraussetzung der Kündigungsrücknahme zu erfüllen sei.
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Soweit die Beklagte dem entgegenhält, eine einzelne Mitarbeiterin habe irrtümlich, anordnungswidrig und fehlerhaft diese zusätzliche Voraussetzung verlangt, ist dies rechtlich unerheblich sein. Die Beklagte haftet für das Verhalten ihrer Mitarbeiter verschuldensunabhängig nach § 8 Abs. 2 UWG.
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Die Tatsache, dass dem Kunden schließlich der Datasnack doch voraussetzungslos gutgeschrieben worden ist, führt zu keiner anderen Bewertung. Die Tat des § 5 Abs. 1 UWG ist in dem Moment vollendet, in dem die Gutschrift dem Kunden verweigert wurde.
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3. Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist die irreführende Handlung auch geeignet, den Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte.
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Die irreführende Werbung mit dem Datenpaket ist geeignet im Sinne von § 5 Abs. 1 UWG, da sie den Verkehr dazu anreizt, mit der Beklagten Kontakt aufzunehmen. Auch wenn die Gefahren im Allgemeinen geringer sind als die einer Irreführung mit unmittelbarer Relevanz für die Marktentscheidung, erfasst das Verbot des § 5 auch die Irreführung, von der lediglich eine Anlockwirkung ausgeht. Dies kommt dadurch zum Ausdruck, dass die Fälle der Irreführung über die angemessene Bevorratung ausdrücklich im Gesetz geregelt sind, und zwar in § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 („Verfügbarkeit der Ware“) und vor allem in Nr. 5 des Anh. § 3 Abs. 3. Aber auch das europäische Recht lässt den Anlockeffekt für die irreführende Werbung ausreichen, wie sich aus Art. 3 lit. a der Richtlinie über irreführende und vergleichende Werbung und vor allem der UGP-RL (Anh. I Nr. 5) entnehmen lässt. In der Rechtsprechung des EuGH wird demgemäß der Begriff der „geschäftlichen Entscheidung“ im Sinne des Art. 2 lit. k UGP-RL, zu deren Vornahme der Verbraucher durch die Irreführung im Sinne des Art. 6 I UGP-RL voraussichtlich veranlasst wird, weit definiert. Erfasst ist nicht nur die Entscheidung über den Erwerb oder Nichterwerb eines Produkts, sondern auch damit unmittelbar zusammenhängende, aber vorgelagerte Entscheidungen, wie insbesondere das Betreten des Geschäfts (EuGH GRUR 2014, 196 Rn 36 – Trento Sviluppo) oder das Aufsuchen eines Verkaufsportals im Internet (BGH GRUR 2017, 1269 Rn 19 – MeinPaket.de II).
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Danach steht im vorliegenden Fall die geschäftliche Relevanz außer Frage. Die Beklagte hat den Kunden durch das Versprechen eines voraussetzungslosen Vorteils „an die Strippe“ gelockt, um ihn leichter von einer Rücknahme seiner Kündigung zu überzeugen. Die Entscheidung des Kunden, mit der Beklagten – mit der er nach der Kündigung geschäftlich nicht mehr verbunden sein wollte – in Kontakt zu treten, ist als geschäftliche Entscheidung im Sinne von § 5 Abs. 1 UWG anzusehen und kann mit dem Betreten des Ladengeschäftes oder dem Aufsuchen eines Verkaufsportals im Internet verglichen werden.
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Dass es sich nur um einen Verstoß handelte (soweit bekannt), kann die Geeignetheit nicht in Frage stellen, da diese abstrakt zu betrachten ist.
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4. Es fehlt auch nicht an der notwendigen Wiederholungsgefahr.
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Das Argument der Beklagten, es handele sich nur um einen einzelnen „Ausreißer“, fruchtet im Ergebnis nicht. Nach ständiger Rechtsprechung besteht auf Grund einer vollendeten Zuwiderhandlung eine widerlegliche tatsächliche Vermutung der Wiederholungsgefahr für die konkrete Zuwiderhandlung und im Kern gleichartige Verstöße. Dennoch ist die Vermutung im Grundsatz widerleglich. Nach h.M. ist zur Widerlegung in aller Regel – wie bereits angesprochen – die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung erforderlich. Die Rechtsprechung hat in seltenen Ausnahmefällen die Vermutung der Wiederholungsgefahr für widerlegt (oder nicht eingreifend) gehalten, namentlich in ganz ungewöhnlichen Situationen, in denen eine Wiederholung eines im Kern ähnlichen Wettbewerbsverstoßes unwahrscheinlich erschien oder erst nach einem so langen Zeitraum zu erwarten war, dass die Vermutung kaum mehr haltbar gewesen wäre. Der Einwand, es habe sich bei dem Wettbewerbsverstoß um einen einmaligen oder zumindest seltenen Ausreißer oder eine sonstige Panne gehandelt, widerlegt die Vermutung indes grundsätzlich nicht (OLG Hamburg WRP 2007, 1246, 1248; OLG Hamm Urteil vom 29.10.2009 – 4 U 145/09 = BeckRS 2009, 89543; MüKoUWG/Fritzsche, 2. Aufl. 2014, UWG § 8). Der Hinweis auf „Ausreißer“ kann allenfalls im Rahmen eines – die Schuldhaftigkeit des Verstoßes erfordernden – Ordnungsmittelverfahrens Bedeutung erlangen (OLG Hamburg, PharmR 2015, 25).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in § 708 Nr. 10 ZPO.
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Eine Zulassung der Revision war nicht veranlasst.