BGH, Beschluss vom 12. November 2014 – V ZB 99/14
Zwangsversteigerung: Zur einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung und Zuschlagsversagung bei konkreter Suizidgefahr eines Schuldners
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Wiesbaden vom 5. Mai 2014 wird zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
294.000 € für die Gerichtskosten,
147.635,53 € für die Vertretung der Beteiligten zu 1,
13.087,28 € für die Vertretung der Beteiligten zu 2,
42.948,52 € für die Vertretung der Beteiligten zu 3,
100.000 € für die Vertretung der Beteiligten zu 4 und
396.000 € für die Vertretung des Beteiligten zu 5.
Gründe
I.
1
Die Gläubigerinnen betreiben die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung des eingangs genannten Grundstücks des Schuldners. Die in dem Zwangsverwaltungsverfahren eingeleitete Räumungsvollstreckung stellte das Vollstreckungsgericht im Jahr 2012 bis zum 31. Dezember 2012 aufgrund einer Suizidgefährdung des Schuldners einstweilen ein und lehnte einen weiteren Räumungsschutzantrag ab. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Schuldners hatte Erfolg; das Landgericht stellte am 26. September 2013 die Zwangsvollstreckung aus dem Räumungsbeschluss erneut bis zum 26. März 2014 ein, um dem Vollstreckungsgericht die Gelegenheit zu geben, ein Betreuungsverfahren einzuleiten. Das Betreuungsgericht richtete eine Betreuung jedoch nicht ein, weil der Schuldner dies in freier Willensbestimmung ablehne.
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Am 14. Januar 2014 hat das Vollstreckungsgericht den Zuschlag auf das Meistgebot in Höhe von 294.000 € erteilt. Auf die Beschwerde des Schuldners hat das Landgericht den Beschluss aufgehoben, den Zuschlag versagt und die Zwangsversteigerung bis zum 5. Mai 2015 einstweilen eingestellt. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde wollen die Gläubigerinnen die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts wiederherstellen lassen.
II.
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Das Beschwerdegericht geht sachverständig beraten davon aus, dass die eintretende Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses bei dem Schuldner eine depressive Krise sicher hervorrufen werde; infolgedessen sei eine akute Suizidalität zu befürchten. Wirksame therapeutische Maßnahmen seien nicht erkennbar. Aufgrund der langjährigen narzisstischen Kränkungen könne die Suizidgefährdung allenfalls durch eine langjährige Psychotherapie wirksam abgewendet werden; dies scheitere aber daran, dass der Schuldner zu einer Mitwirkung nicht bereit und eine Therapie gegen seinen Willen nicht erfolgversprechend sei. Die Einschaltung der Ordnungsbehörde könne den Suizid nicht verhindern. Denn vor Zustellung des Beschlusses sei der Schuldner nicht akut suizidgefährdet. Dass die Ordnungsbehörde den Schuldner gleichzeitig mit der Zustellung des Zuschlagsbeschlusses aufsuche, sei mit erheblichen organisatorischen Unsicherheiten behaftet und berge die Gefahr, dass die Maßnahmen zu spät kämen.
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Letztlich könne eine Unterbringung die Suizidgefahr auch nicht beseitigen. Der Sachverständige habe ausgeführt, dass eine Unterbringung von mehr als sechs Wochen äußerst unwahrscheinlich sei, da der Schuldner auf seine Entlassung drängen werde. Es lasse sich nicht feststellen, dass der Betroffene im Anschluss an die Unterbringung dazu befähigt sei, ein Leben in Freiheit ohne Suizidgefahr zu führen. Zwar könne die Unterbringung nur beendet werden, wenn die behandelnden Ärzte eine krankheitsbedingte Suizidgefährdung verneinten. Es bestehe aber weiterhin die Gefahr eines – nicht krankheitsbedingten – „Bilanzselbstmords“. Nachdem die Einrichtung einer Betreuung bereits abgelehnt worden sei, sei der Zuschlag zu versagen und das Zwangsversteigerungsverfahren zunächst für ein Jahr einzustellen. Nach Ablauf dieses Jahres werde erneut zu überprüfen sein, inwieweit der Lebensschutz des Schuldners gegenüber den Gläubigerinteressen abzuwägen sei. Eine kürzere Einstellung komme nicht in Betracht, weil auch der gerichtliche Sachverständige eine gewisse Hilflosigkeit einräume und letztlich keine Veränderung erwarte, da der Schuldner keinerlei Krankheitsgefühl habe und Zeichen einer spontanen Änderung seiner Grundeinstellung nicht erkennen lasse.
III.
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Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.
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1. Das Beschwerdegericht geht zutreffend davon aus, dass einer Beschwerde gegen den Zuschlagsbeschluss nach § 100 Abs. 3 i.V.m. § 83 Nr. 6 ZVG stattzugeben ist, wenn wegen eines Vollstreckungsschutzantrags des Schuldners nach § 765a ZPO bereits der Zuschlag wegen einer mit dem Eigentumsverlust verbundenen konkreten Gefahr für das Leben des Schuldners oder eines nahen Angehörigen nicht hätte erteilt werden dürfen (st. Rspr., vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 17. August 2011 – V ZB 128/11, NZM 2011, 786 Rn. 13; vom 7. Oktober 2010 – V ZB 82/10, NJW-RR 2011, 421 Rn. 16 jeweils mwN). Den nicht angegriffenen Feststellungen zufolge ist der Schuldner aufgrund einer depressiven Anpassungsstörung ernsthaft suizidgefährdet, und zwar durch den Eintritt der Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses als solchen. Diese Überzeugung stützt das Beschwerdegericht sowohl auf das in diesem Verfahren eingeholte amtsärztliche Sachverständigengutachten als auch auf das in dem Betreuungsverfahren erstellte Gutachten. Beide Gutachter sehen eine akute und ernsthafte Suizidgefahr, wenn der Eigentumsverlust in letzter Instanz bestätigt wird. Damit hat das Beschwerdegericht – wie es die höchstrichterliche Rechtsprechung vorgibt – eine mit Tatsachen untermauerte Prognoseentscheidung getroffen (vgl. BVerfG, NJW-RR 2014, 584 Rn. 13; Senat, Beschluss vom 6. Dezember 2012 – V ZB 80/12, NZM 2013, 162 Rn. 11; vom 7. Oktober 2010 – V ZB 82/10, NJW-RR 2011, 421 Rn. 23; vom 30. September 2010 – V ZB 199/09, ZfIR 2011, 29 Rn. 7 und 11; s. auch Schmidt-Räntsch, ZfIR 2011, 849, 851 f., jeweils mwN).
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2. Allerdings ist der Zuschlag nicht ohne weiteres zu versagen und die Zwangsversteigerung (einstweilen) einzustellen, wenn eine solche konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners mit der Zwangsvollstreckung verbunden ist. Erforderlich ist vielmehr, das in solchen Fällen ganz besonders gewichtige Interesse der von der Vollstreckung Betroffenen (Lebensschutz, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) gegen das Vollstreckungsinteresse des Gläubigers (Gläubigerschutz, Art. 14 GG; wirksamer Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG) abzuwägen. Es ist daher sorgfältig zu prüfen, ob der Gefahr der Selbsttötung nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann (Senat, Beschluss vom 6. Dezember 2007 – V ZB 67/07, NJW 2008, 586 Rn. 8). Mit Blick auf die Interessen des Erstehers gilt nichts anderes (Senat, Beschluss vom 9. Juni 2011 – V ZB 319/10, NJW 2011, 2807 Rn. 8 mwN).
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a) Mögliche Maßnahmen betreffen die Art und Weise, wie die Zwangsvollstreckung durchgeführt wird, die Ingewahrsamnahme des suizidgefährdeten Schuldners nach polizeirechtlichen Vorschriften oder dessen Unterbringung nach den einschlägigen Landesgesetzen sowie die betreuungsrechtliche Unterbringung (§ 1906 BGB). Kann der Suizidgefahr des Schuldners auf diese Weise entgegengewirkt werden, scheidet die Einstellung aus. Der Verweis auf die für den Lebensschutz primär zuständigen Behörden und Gerichte ist verfassungsrechtlich allerdings nur tragfähig, wenn diese entweder Maßnahmen zum Schutz des Lebens des Schuldners getroffen oder aber eine erhebliche Suizidgefahr gerade für das diese Gefahr auslösenden Moment (Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses oder Räumung) nach sorgfältiger Prüfung abschließend verneint haben (BVerfG, NZM 2014, 701 Rn. 12; Senat, Beschluss vom 6. Dezember 2012 – V ZB 80/12, NZM 2013, 162 Rn. 12; Schmidt-Räntsch, ZfIR 2011, 849, 852 ff., jeweils mwN; zum Umgang mit einer „Blockadesituation“ zwischen Vollstreckungs- und Betreuungsgericht im Beschwerdeverfahren Senat, Beschluss vom 15. Juli 2010 – V ZB 1/10, NJW-RR 2010, 1649 Rn. 11 ff.). Hat die Ordnungsbehörde Maßnahmen ergriffen, kann das Vollstreckungsgericht davon ausgehen, dass diese ausreichen; flankierende Maßnahmen hat es nur zu erwägen, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass die von der Behörde ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichen, oder wenn sich konkrete neue Gesichtspunkte ergeben, die die Lage entscheidend verändern (Senat, Beschluss vom 9. Juni 2011 – V ZB 319/10, NJW 2011, 2807 Rn. 9 ff.).
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b) Steht indessen fest, dass derartige Maßnahmen nicht geeignet sind, der mit der Fortsetzung des Verfahrens für den Schuldner verbundenen Gefahr einer Selbsttötung wirksam zu begegnen, oder führte die Anordnung der Unterbringung aller Voraussicht nach zu einer bloßen Verwahrung auf Dauer, so ist das Verfahren einzustellen. Dabei verbietet das Interesse des Gläubigers an der Fortsetzung des Verfahrens eine dauerhafte Einstellung, weil die staatliche Aufgabe, das Leben des Schuldners zu schützen, nicht auf unbegrenzte Zeit durch ein Vollstreckungsverbot gelöst werden kann (Senat, Beschluss vom 14. Juni 2007 – V ZB 28/07, NJW 2007, 3719 Rn. 15). Die Einstellung ist zu befristen und mit Auflagen zu versehen, die das Ziel haben, die Gesundheit des Schuldners wiederherzustellen. Das gilt auch dann, wenn die Aussichten auf eine Besserung des Gesundheitszustands des Schuldners gering sind. Diesem ist es im Interesse des Gläubigers nämlich zuzumuten, auf die Verbesserung seines Gesundheitszustands hin zu arbeiten und den Stand seiner Behandlung regelmäßig nachzuweisen (Senat, Beschluss vom 6. Dezember 2007 – V ZB 67/07, NJW 2008, 586 Rn. 10; BGH, Beschlüsse vom 9. Oktober 2013 – I ZB 15/13, NJW 2014, 2288 Rn. 24 ff., und vom 14. Januar 2010 – I ZB 34/09, WuM 2010, 250 Rn. 11). Nur in absoluten Ausnahmefällen kann die Einstellung des Verfahrens unbefristet (vgl. BVerfGE 52, 214, 219 ff.; BVerfG, NJW 1998, 295, 296; NZM 2005, 657, 659; NZM 2014, 701 Rn. 11) oder ohne derartige Auflagen erfolgen.
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c) Einen solchen Ausnahmefall, in dem eine befristete Einstellung ohne Auflagen erfolgen kann, nimmt das Beschwerdegericht rechtsfehlerfrei an.
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aa) Eine betreuungsrechtliche Unterbringung scheidet derzeit aus. Das sachverständig beratene Betreuungsgericht hat eine Betreuung nicht eingerichtet, weil der Schuldner dies ablehnt und auch in der Lage ist, einen freien Willen zu bilden (vgl. § 1896 Abs. 1a BGB; dazu BGH, Beschluss vom 26. Februar 2014 – XII ZR 577/13, NJW-RR 2014, 770 Rn. 10 ff. mwN).
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bb) Nicht zu beanstanden ist auch seine weitere Annahme, wonach eine zeitweilige Unterbringung des Schuldners an der Suizidgefahr nichts ändern wird. Dem Sachverständigengutachten zufolge kann allenfalls eine langjährige Psychotherapie zum Erfolg führen, die aber eine – nicht vorhandene – Einsicht des Schuldners voraussetzt. Der mit einer dauerhaften Unterbringung verbundene Eingriff in die von Art. 2 Abs. 2 GG geschützte Freiheit des Schuldners würde durch das Vollstreckungsinteresse der Gläubigerin nicht gerechtfertigt. Ohnehin geht das Beschwerdegericht unter Bezug auf das Ergänzungsgutachten des Sachverständigen vom 7. April 2014 davon aus, dass mit einer Unterbringungsdauer von höchstens sechs Wochen zu rechnen sei, weil sich der Schuldner der Maßnahme widersetzen werde. Dies ist nachvollziehbar, weil die Unterbringung nach dem einschlägigen Landesgesetz unter anderem voraussetzt, dass der Schuldner infolge seines Geisteszustands eine Gefahr für sich selbst darstellt (vgl. §§ 1, 10 hessisches FrhEntzG), also an einer psychischen Erkrankung leidet; im Sinne des Unterbringungsrechts darf einer Persönlichkeitsstörung erst ab einem erheblichen Schweregrad Krankheitswert beigemessen werden (BVerfGE 58, 208, 224 ff.; 66, 191, 195 f.). Diese Voraussetzung verneint das Beschwerdegericht im Anschluss an das Gutachten. Gleichwohl sieht es nach dem Ende der Unterbringung weiter die ernsthafte Gefahr eines – nicht krankheitsbedingten – „Bilanzselbstmords“ als gegeben an; insoweit deckt sich seine Einschätzung mit der des Gutachters, der hieraus lediglich andere rechtliche Schlussfolgerungen zieht und eine spätere Selbsttötung als Ausdruck freier Willensbestimmung einordnet. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass auch eine nicht krankheitsbedingte Suizidgefährdung Anlass für die Einstellung des Verfahrens geben kann (BVerfG, NJW-RR 2001, 1523, 1524; Senat, Beschluss vom 16. Dezember 2010 – V ZB 215/09, NZM 2011, 166 Rn. 9).
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cc) Damit aber verbleibt im Ergebnis nur der von dem Beschwerdegericht beschrittene Weg, die Zwangsvollstreckung auf Zeit einzustellen, um nach Ablauf dieser Zeit zu überprüfen, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen der Vollstreckung Fortgang gegeben werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Oktober 2013 – I ZB 15/13, NJW 2014, 2288 Rn. 24 ff.). Dem Schuldner aufzugeben, fortwährend an der Verbesserung seiner seelischen Gesundheit zu arbeiten und dies laufend nachzuweisen, ist in dem vorliegenden Ausnahmefall nicht sinnvoll. Auflagen können nur dann gemacht werden, wenn eine Erfolgsaussicht – sei sie auch noch so gering – besteht. Daran fehlt es hier; denn der Schuldner selbst hat keine Krankheitseinsicht und beide Gutachter halten eine Therapie gegen seinen Willen nicht für angezeigt.
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3. Infolgedessen ist der Zuschlag zu Recht versagt worden (vgl. Senat, Beschlüsse vom 18. September 2008 – V ZB 22/08, NJW 2009, 80 Rn. 7; vom 14. Juni 2007 – V ZB 28/07, NJW 2007, 3719 Rn. 7). Auch die Dauer der Einstellung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
IV.
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1. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Die Verpflichtung der Gläubigerinnen, die Gerichtskosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen, ergibt sich aus dem Gesetz. Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten kommt nicht in Betracht, da sich die Beteiligten bei einer Zuschlagsbeschwerde in der Regel, und so auch hier, nicht als Parteien im Sinne der §§ 91 ff. ZPO gegenüberstehen (Senat, Beschluss vom 25. Januar 2007 – V ZB 125/05, BGHZ 170, 378 Rn. 7).
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2. Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren bestimmt sich für die Gerichtsgebühren nach § 47 Abs. 1 Satz 1, § 54 Abs. 1 Satz 1 GKG und für die Rechtsanwaltsgebühren nach § 26 Nr. 2 und Nr. 3 RVG.