Zur Rechtsschutzdeckung für Schadensersatzanspruch eines Wirecard-Anlegers

OLG Karlsruhe, Urteil vom 07. April 2022 – 12 U 285/21

Zur Rechtsschutzdeckung für Schadensersatzanspruch eines Wirecard-Anlegers

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 14.09.2021, Az. 11 O 118/21, wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Mannheim ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Gründe
I.

1
Die Parteien sind durch einen Rechtsschutzversicherungsvertrag, Versicherungsscheinnummer …, miteinander verbunden, aus dem der Kläger die Beklagte auf Deckung wegen des Erwerbs von Aktien der Wirecard AG in Anspruch nimmt.

2
Dem Vertrag liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung … (ARB) der Beklagten zugrunde.

3
§ 3a ARB lautet auszugsweise:

4
㤠3 a Ablehnung des Rechtsschutzes wegen mangelnder Erfolgsaussichten oder wegen Mutwilligkeit РStichentscheid

5
(1) Der Versicherer kann den Rechtsschutz ablehnen, wenn seiner Auffassung nach

6
a) in einem der Fälle des § 2 a) bis g) und 2 I) die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder

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b) die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen mutwillig ist. Mutwilligkeit liegt dann vor, wenn der durch die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen voraussichtlich entstehende Kostenaufwand unter Berücksichtigung der berechtigten Belange der Versichertengemeinschaft in einem groben Missverhältnis zum angestrebten Erfolg steht.

8
Die Ablehnung ist dem Versicherungsnehmer in diesen Fällen unverzüglich unter Angabe der Gründe schriftlich mitzuteilen.“

9
§ 17 ARB lautet auszugsweise:

10
㤠17 Verhalten nach Eintritt eines Versicherungsfalles

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(1) Wird die Wahrnehmung rechtlicher Interessen des Versicherungsnehmers nach Eintritt eines Versicherungsfalles erforderlich, hat er

12
[…]

13
c) soweit seine Interessen nicht unbillig beeinträchtigt werden,

14
[…]

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bb) für die Minderung des Schadens im Sinne des § 82 VVG zu sorgen. Dies bedeutet, dass die Rechtsverfolgungskosten so gering wie möglich gehalten werden sollen. Von mehreren möglichen Vorgehensweisen hat der Versicherungsnehmer die kostengünstigste zu wählen, indem er z.B.:

16
[…]

17
– vor Klageerhebung die Rechtskraft eines anderen gerichtlichen Verfahrens abwartet, das tatsächliche oder rechtliche Bedeutung für den beabsichtigten Rechtsstreit haben kann,

18
[…]

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Der Versicherungsnehmer hat zur Minderung des Schadens Weisungen des Versicherers einzuholen und zu befolgen. Er hat den Rechtsanwalt entsprechend der Weisungen zu beauftragen.“

20
Am 12.05.2020 erwarb der Kläger 100 Aktien der Wirecard AG (ISIN De0007472060) zu einem Kaufpreis von je 87,25 €, insgesamt für 8.724,90 €. Mit Anwaltsschreiben vom 29.07.2020 forderte der Kläger die Beklagte auf, Deckungszusage für die außergerichtliche und gerichtliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen die Vorstände Dr. B. und M. sowie gegen die E. GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (i.F.: „E.“) zu erteilen. Die Beklagte lehnte die Erteilung des Deckungsschutzes erstmals mit Schreiben vom 31.08.2020 und auch nachfolgend ab.

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Der Kläger hat vorgetragen:

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Seine Klage habe hinreichende Aussicht auf Erfolg und sei nicht mutwillig. Er beabsichtige, den Schadenersatz wegen des Aktienerwerbsgeschäfts geltend zu machen. Der Schadenersatz sei in der Hauptsache auf Erstattung des Kaufpreises für die Aktien der Wirecard AG gerichtet. Der gegen die verantwortlichen Wirecard-Vorstände Dr. B. und M. gerichtete Anspruch sei jeweils begründet gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 17 V0 Nr. 596/2014 wegen (Insider-) Informationspflichtverletzungen, i.V.m. § 331 HGB und i.V.m. § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG wegen unrichtiger Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft (Bilanzmanipulation) sowie i.V.m. §§ 119 Abs. 1 Nr. 1, 120 Abs. 15 Nr. 2 WpHG, Art. 15 VO Nr. 596/2014 wegen Marktmanipulation. Daneben bestünden Ansprüche gemäß §§ 826, 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB. Der Kläger habe ferner einen Schadensersatzanspruch gegen die verantwortliche Wirtschaftsprüfungsgesellschaft E. gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 332 HGB wegen Verletzung der Berichtspflicht und gemäß § 826 BGB wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung. Der Kläger beruft sich wegen Einzelheiten seiner beabsichtigten Klage auf den als Anlage K 1 vorgelegten Klageentwurf gegen die ehemaligen Vorstände Dr. B. und M. und gegen E. Er ist der Ansicht, dass er nicht dazu verpflichtet sei, den Ausgang von Klagen anderer geschädigter Anleger gegen die gleichen drei Anspruchsgegner wegen gleicher Vorwürfe abzuwarten. Ein Schadensersatzanspruch gegen E. sei auch berechtigt. Die Rechnungslegung der Wirecard AG für die Jahre 2016, 2017 und 2018 sei falsch und die Testate (Bestätigungsvermerke), die E. hierfür erteilt habe, seien es infolgedessen auch. Im Falle einer Verurteilung seien die Anspruchsgegner auch leistungsfähig.

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Der Kläger hat beantragt:

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Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Rechtsschutz (Deckungsschutz) zu gewähren aus dem zwischen dem Kläger und der Beklagten geschlossenen Rechtsschutzversicherungsvertrag (Versicherungsscheinnummer: …), für die Rechtsverfolgung des bei der Beklagten unter der Schadennummer … geführten Vorgangs, nämlich die außergerichtliche und erstinstanzliche gerichtliche Geltendmachung eines Schadensersatzanspruches des Klägers in Höhe von EUR 8.724,90 gegen Herrn Dr. Markus B., gegen Herrn Jan M. und gegen die E. GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft.

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Die Beklagte hat beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie hat vorgetragen:

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Die beabsichtigte Klage habe keine hinreichenden Erfolgsaussichten und sei mutwillig. Der Kläger habe zunächst die bereits anhängigen übrigen Verfahren gegen die drei Anspruchsgegner in gleicher Sache abzuwarten. Eine außergerichtliche Interessenwahrnehmung gegenüber den drei Anspruchsgegnern sei mutwillig. Bei einer Verurteilung der Anspruchsgegner reiche das Vermögen dieser nicht zur Befriedigung aller Anleger aus.

29
Bedingungsgemäß sei nur die notwendige Interessenvertretung vom Versicherungsschutz umfasst. Es sei bekannt, dass bereits Musterverfahrensanträge nach § 2 KapMuG gegen die drei Anspruchsgegner eingeleitet seien. Diese zeigten an einer außergerichtlichen Regulierung offensichtlich kein Interesse. Deshalb sei ein außergerichtliches Vorgehen nicht erforderlich.

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Da bereits Klagen gegen die drei Anspruchsgegner eingeleitet worden seien, berufe sich die Beklagte auf die Schadensminderungsobliegenheiten sowie das Weisungsrecht. Nach § 82 VVG, der auf die Rechtsschutzversicherung anwendbar sei, habe der Kläger auf Weisung der Beklagten die Rechtskraft eines anderen gerichtlichen Verfahrens abzuwarten, das tatsächliche oder rechtliche Bedeutung für den beabsichtigten Rechtsstreit haben könne, soweit seine Interessen nicht unbillig beeinträchtigt seien. Eine ausreichend bemittelte, nicht rechtsschutzversicherte Person würde zu diesem Zeitpunkt keine weitere Rechtsverfolgung betreiben, sondern zunächst den Fortgang der laufenden Verfahren abwarten. Das Landgericht München habe bereits eine Vielzahl von Klagen gegen die drei Anspruchsgegner in gleicher Sache abgewiesen. Bis diese Verfahren rechtskräftig abgeschlossen seien, habe der Kläger zu warten.

31
Die beabsichtigte Klage sei mutwillig, da die Anspruchsgegner nicht leistungsfähig seien. Gegen die beiden Vorstände kämen deliktische Ansprüche in Betracht. Der Kläger müsse den Vorsatz der Vorstände beweisen. Eine D&O-Versicherung sei nicht eintrittspflichtig. Es bestünden Ansprüche gegen die Anspruchsgegner in Höhe von 12,43 Milliarden €.

32
Der Verweis des Klägers auf den Klageentwurf (Anlage K 1) und die übrigen Anlagen sie nicht ausreichend, um den Streitgegenstand hinreichend zu individualisieren.

33
Die beabsichtigte Klage habe keine Erfolgsaussichten. Der bloße Verweis auf Ermittlungsverfahren sei unzulässig. Aus dem Prüfbericht von KPMG (Anlage B 1) ergebe sich, dass keine Pflichtverletzung von E. bestehe. Zur Pflichtverletzung trage der Kläger in seinem Klageentwurf bereits nicht ausreichend vor. Die Anlageentscheidung des Klägers sei nicht kausal auf die behauptete Pflichtverletzung zurückzuführen.

34
Das Landgericht hat antragsgemäß festgestellt, dass die Beklagte zur Gewährung von Deckungsschutz für die außergerichtliche und erstinstanzliche Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs gegen die drei Anspruchsgegner verpflichtet ist. Die Klage habe hinreichende Erfolgsaussicht. Mit dem vorgelegten Klageentwurf genüge der Kläger seiner Substantiierungspflicht. Dagegen setze sich die Beklagte mit dem Klageentwurf nicht konkret auseinander. Die Beklagte erhebe im Wesentlichen nur Einwände in Bezug auf die Klage gegen E. Dass der Kläger eine Pflichtverletzung von E. beweisen könne, sei nicht von vornherein ausgeschlossen. Der Kläger verstoße auch nicht gegen seine Schadensminderungspflicht. Es stehe allein in seinem Belieben, wann er seine Ansprüche geltend mache. Ihn treffe keine Verpflichtung, auf Weisung der Beklagten mit der Geltendmachung der Ansprüche zu warten. Der Vortrag der Beklagte mit dem pauschalen Verweis auf Urteile des Landgerichts München ermögliche keine Prüfung, ob eine Weisung berechtigt sei. Der Kläger sei im Hinblick auf die übliche Dauer von großen Ermittlungsverfahren der Wirtschaftskriminalität nicht gehalten, die strafrechtlichen Ermittlungen gegen E. und die Vorstände Dr. B. und M. abzuwarten. Die beabsichtigte Klage sei auch nicht deshalb mutwillig, weil die Gegner nicht leistungsfähig seien; insoweit sei der Vortrag der für die Mutwilligkeit beweisbelasteten Beklagten zu pauschal. Auch für die außergerichtliche Geltendmachung könne der Kläger nach § 5 (1) ARB Deckungsschutz verlangen; diese sei notwendig und nicht mutwillig. Eine Zahlungsunwilligkeit der Gegner sei nicht belegt.

35
Dagegen richtet sich die Beklagte mit ihrer Berufung, welche sie wie folgt begründet:

36
Das Landgericht sei fehlerhaft zu dem Ergebnis gekommen, dass sogar für eine außergerichtliche Tätigkeit Kostenschutz zu gewähren sei. Für eine anwaltliche Tätigkeit, die von Anfang an und auch erkennbar keinen Erfolg tragen werde, bestehe keine Notwendigkeit. Der Kläger sei verpflichtet, die Geltendmachung von Ansprüchen abzuwarten. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung sei aus Pressemitteilungen und Internetdarstellungen von Anlegerschutzkanzleien bekannt gewesen, dass bereits Klagen eingereicht worden seien. Gegen alle drei Anspruchsgegner kämen lediglich deliktische Ansprüche in Betracht, so dass Haftpflichtversicherungen und eine D&O-Versicherung nicht leistungspflichtig wären. Das Vermögen der Anspruchsgegner würde nicht annähernd zur Befriedigung aller Schadenersatzforderungen der Wirecard-Anleger ausreichen, so dass eine Insolvenz mit minimaler Quote zu erwarten sei. Zudem komme das Landgericht rechtsfehlerhaft zu dem Ergebnis, dass eine Klage hinreichende Erfolgsaussicht habe. Weder aus dem KPMG-Bericht noch aus dem Bericht des Wirecard-Insolvenzverwalters ergäben sich beweisbare Pflichtverletzungen. Es sei nicht nachzuvollziehen, warum die strafrechtlichen Ermittlungen nicht abgewartet werden sollten, zumal eine Verjährung zumindest bis zur Akteneinsicht nicht beginne.

37
Die Beklagte beantragt:

38
1. Das Urteil des LG Mannheim wird aufgehoben.

39
2. Die Klage wird abgewiesen.

40
Der Kläger beantragt,

41
die Berufung zurückzuweisen.

42
Er verteidigt das angefochtene Urteil.

43
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird, soweit der Senat keine abweichenden Feststellungen getroffen hat, auf das erstinstanzliche Urteil sowie auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.

II.

44
Die Berufung der Beklagten ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg. Der Feststellungsantrag ist zulässig (§ 256 Abs. 1 ZPO) und begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin für die beabsichtigte außergerichtliche und gerichtliche Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen Deckung zu gewähren (§ 125 VVG).

45
1. Die Beklagte kann sich weder auf das Fehlen einer hinreichenden Erfolgsaussicht noch auf Mutwilligkeit berufen (§ 3a (1) ARB).

46
a) Das beabsichtigte Vorgehen gegen die drei Anspruchsgegner hat hinreichende Aussicht auf Erfolg.

47
aa) In § 3a (1) ARB bringt der Versicherer zum Ausdruck, dass er Versicherungsschutz unter den sachlichen Voraussetzungen gewährt, unter denen eine Partei Prozesskostenhilfe gemäß § 114 ZPO beanspruchen kann (vgl. BGH, Urteil vom 19.02.2003 – IV ZR 318/02, juris Rn. 16; Urteil vom 16.09.1987 IVa ZR 76/86, juris Rn. 7). Daher dürfen an die Voraussetzung der hinreichenden Erfolgsaussicht keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Sie ist schon dann erfüllt, wenn der von einem Kläger vertretene Rechtsstandpunkt aufgrund seiner Sachdarstellung und der vorhandenen Unterlagen zutreffend oder zumindest vertretbar erscheint und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit einer Beweisführung besteht (BGH, Urteil vom 16.09.1987 aaO Rn. 10; Beschluss vom 14.12.1993 – VI ZR 235/92, juris Rn. 5 zu § 114 ZPO; Schmitt in Harbauer, Rechtsschutzversicherung, 9. Aufl. § 3a ARB 2010 Rn. 17). Dagegen kann eine Kostendeckungszusage nicht mit der Begründung abgelehnt werden, es sei unwahrscheinlich, dass erhebliche, aber bestrittene Tatsachen vom Versicherungsnehmer mit den von ihm benannten, grundsätzlich geeigneten Beweismitteln bewiesen werden können (BGH aaO Rn. 13 ff.). Ausreichend ist eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der Prozessführung. Im Zweifel ist zugunsten des Versicherungsnehmers zu entscheiden (HK-VVG/Münkel, 4. Aufl. § 3a ARB 2010 Rn. 5; Herdter in Looschelders/Paffenholz, ARB, 2. Aufl. § 3a ARB 2010 Rn. 17; van Bühren in van Bühren/Plote, ARB, 3. Aufl. § 3a ARB Rn. 9). Wenn die Entscheidung von der Beantwortung schwieriger Rechts- oder Tatfragen abhängig, hat die beabsichtigte Rechtsverfolgung in der Regel schon deshalb hinreichende Aussicht auf Erfolg (BGH, Beschluss vom 07.03.2007 – IV ZB 37/06, juris Rn. 7; Beschluss vom 27.11.2014 – III ZA 19/14, juris Rn. 4; Schmitt in Harbauer, Rechtsschutzversicherung, 9. Aufl. § 3a ARB 2010 Rn. 17).

48
bb) Nach diesen Maßstäben liegt hinreichende Erfolgsaussicht für das geplante Vorgehen gegen die Vorstände Dr. B. und M. und gegen E. vor, welches der Kläger jeweils u.a. auf § 826 BGB stützt.

49
(1) Hinreichende Erfolgsaussicht besteht zunächst für das beabsichtigte Vorgehen gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft E. wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung im Sinne von § 826 BGB.

50
(a) Ein Verhalten ist sittenwidrig, wenn es nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt (BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19, juris Rn. 15 m.w.N.). Hierfür reicht eine Pflichtverletzung nicht aus. Es müssen besondere Umstände hinzutreten, die das schädigende Verhalten wegen seines Zwecks oder wegen des angewandten Mittels oder mit Rücksicht auf die dabei gezeigte Gesinnung nach den Maßstäben der allgemeinen Geschäftsmoral und des als „anständig“ Geltenden verwerflich machen (BGH, Urteil vom 25.05.2020 aaO; Urteil vom 04.06.2013 – VI ZR 288/12, juris Rn. 14; jeweils m.w.N.). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (BGH, Urteil vom 25.05.2020 aaO).

51
Eine Haftung eines Wirtschaftsprüfers aus § 826 BGB wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung von Kapitalanlegern kommt in Betracht, wenn der Bestätigungsvermerk nicht nur unrichtig ist, sondern der Wirtschaftsprüfer seine Aufgabe nachlässig erledigt hat, zum Beispiel durch unzureichende Ermittlungen oder durch Angaben ins Blaue hinein, und er dabei eine Rücksichtslosigkeit an den Tag gelegt hat, die angesichts der Bedeutung des Bestätigungsvermerks für die Entscheidung Dritter als gewissenlos erscheint (BGH, Urteil vom 12.03.2020 – VII ZR 236/19, juris Rn. 35).

52
(b) Die Einschätzung des Klägers, dass E. in diesem Sinne sittenwidrig gehandelt und ihm dadurch einen Vermögensschaden zugefügt hat, ist auf Basis seines schlüssigen und unter Beweis gestellten Vortrags im Klageentwurf (Anlage K 1) jedenfalls vertretbar.

53
(aa) Hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, dass die uneingeschränkten Bestätigungsvermerke, welche E. für die Jahre 2015, 2016, 2017 und 2018 erteilt hatte, unrichtig waren, hat der Kläger in dem Klageentwurf (Anlage K 1) u.a. unter Verweis auf die Ergebnisse des Sonderuntersuchungsberichts der KPMG vom 27.04.2020 (Anlage B 1, dort insb. S. 12 ff.) schlüssig vorgetragen. Unstreitig war E. seit dem Geschäftsjahr 2009 alleiniger Abschlussprüfer der Wirecard AG. Im Klageentwurf (S. 88) ist dargelegt, E. habe nicht beachtet, dass in den Prüfjahren jeweils in der Rechnungslegung als Aktivposten bzw. Vermögenswerte ausgewiesene Bankguthaben auf Treuhandkonten im Zusammenhang mit dem Geschäft mit „Third Party Acquirers“ (TPA) nicht existiert hätten, zumindest deren Existenz offenkundig nicht nachweisbar gewesen sei. Im Rahmen der Abschlussprüfung hätten E. keine geeigneten Nachweise vorgelegen, die es zugelassen hätten, uneingeschränkte Bestätigungsvermerke zu erteilen. So hätten Nachweise für das Bestehen der TPA-Geschäfte, für die in diesem Zusammenhang generierten Umsatzerlöse und für die Bankguthaben auf den Treuhandkonten (sog. Escrow-Accounts) gefehlt. Der Klageentwurf leitet die Unrichtigkeit der Bestätigungsvermerke aus dem auszugsweise zitierten Sonderuntersuchungsbericht der KPMG vom 27.04.2020 ab, in dem es heißt, dass Kontoauszüge und Bankbestätigungen für Treuhandkonten (Escrow-Accounts) nicht zur Verfügung gestellt worden seien, weshalb es KPMG nicht hinreichend möglich sei, die Existenz der Transaktionsvolumina forensisch nachzuvollziehen (Klageentwurf S. 64 ff. und 90 f.). Zum Beweis für die Richtigkeit dieser Feststellungen werden die Wirtschaftsprüfer L. und G. benannt (Klageentwurf S. 80, 77). Zusätzlich verweist der Klageentwurf auf die Ad-hoc-Meldung der Wirecard AG vom 22.06.2020, wonach „die bisher zugunsten von Wirecard ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insg. 1,9 Mrd. Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen“ (Klageentwurf S. 53). Die im Klageentwurf (S. 92) beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens ist zum Beweis der Unrichtigkeit der Bestätigungsvermerke geeignet.

54
(bb) Auf dieser Grundlage ist die Einschätzung des Klägers, die Unrichtigkeit der Bestätigungsvermerke beruhe auf einem nachlässigen und gewissenlosen Verhalten der zuständigen Prüfer vertretbar. Auch diese Behauptung hat der Kläger mit der beantragten Einholung eines Sachverständigengutachtens unter Beweis gestellt.

55
Die Abweisung der Klagen anderer Anleger gegen E. durch das Landgericht München I (vgl. Anlage BB4) steht der Erfolgsaussicht nicht entgegen. Denn das Oberlandesgericht München hat u.a. mit Beschluss vom 13.12.2021 (3 U 6014/21, juris) in einem der Berufungsverfahren darauf hingewiesen, dass die Frage, ob den Anlegern ein Anspruch gegen E. wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung aus § 826 BGB zustehe, nicht ohne Beweisaufnahme geklärt werden könne (aaO Rn. 29 ff.). Die Entscheidung, ob die Beklagte bei der Erteilung des Testats leichtfertig gehandelt und Dritte vorsätzlich geschädigt habe, erfordere eine Klärung, ob und in welchen Punkten der Abschluss objektive Fehler enthalte (aaO Rn. 31). Ob die in dem KPMG-Bericht vom 28.04.2020 dargestellten Pflichtverletzungen zuträfen, könne nicht ohne sachverständige Hilfe beurteilt werden (aaO Rn. 38). Erst wenn sich daraus Pflichtverletzungen der Beklagten ergeben sollten, könne in einem zweiten Schritt beurteilt werden, ob dies als „gewissenlos“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu bewerten sei (aaO Rn. 40).

56
Diese vorläufig geäußerte Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts München, es müsse im Rahmen des § 826 BGB vorrangig durch Einholung eines Sachverständigengutachtens die Frage der Pflichtverletzung geprüft werden, steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 26.01.1986 – IVa ZR 86/85, juris Rn. 19 zur Haftung eines Steuerberaters; vgl. auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 21.01.2015 – I-23 U 100/09, juris Rn. 29 ff.; Fischer, WM 2014, Sonderbeilage Nr. 1, 1, 43). Die damit verbundenen schwierigen tatsächlichen und rechtlichen Probleme sind im Hauptprozess zu klären (vgl. BGH, Beschluss vom 07.03.2007 – IV ZB 37/06, juris Rn. 7; Schmitt in Harbauer, Rechtsschutzversicherung, 9. Aufl. § 3a ARB 2010 Rn. 17). Das gilt insbesondere für die Frage des von E. im Rahmen der Jahresabschlussprüfung zugrundezulegenden Prüfungsmaßstabs, und die Frage, ob E. Bestätigungen für die Treuhandkonten unmittelbar von den kontoführenden Banken hätte einholen müssen oder die vorgelegten Saldenbestätigungen der Treuhänder ausreichend waren. Die Möglichkeit einer Beweisführung besteht, da der Kläger ein zulässiges Beweismittel für seine Behauptung anbietet (vgl. Schmitt in Harbauer, Rechtsschutzversicherung, 9. Aufl. § 3a ARB 2010 Rn. 19).

57
(cc) Auch eine haftungsbegründende Kausalität zwischen den behaupteten Pflichtverletzungen von E. und dem geltend gemachten Schaden der Anleger kommt nach Einschätzung des Oberlandesgerichts München in Betracht (Beschluss vom 13.12.2021 aaO Rn. 2 ff.). Im Falle einer durch die – unterstellt – fehlerhaften Bestätigungsvermerke der Beklagten hervorgerufenen positiven Anlagestimmung sei die Kausalität zu vermuten (OLG München aaO Rn. 7 ff.). Die uneingeschränkten Bestätigungsvermerke der dortigen Beklagten E. seien grundsätzlich geeignet gewesen, eine positive Anlagestimmung zu erzeugen (aaO Rn. 15). Zudem komme der Klagepartei wohl auch unabhängig von einer positiven Anlagestimmung ein Erfahrungssatz aufgrund des gewöhnlichen Laufs der Dinge zugute. Wenn die dortige Beklagte – eine entsprechende Pflicht unterstellt – bereits vor 2020 weitere Prüfungshandlungen vorgenommen und schließlich das Testat verweigert hätte, wäre wohl auch der Insolvenzantrag früher gestellt worden und die Klagepartei hätte die Aktienkäufe nicht getätigt (aaO Rn. 17 ff.). Diese Einschätzung hat sich der Kläger zu eigen gemacht.

58
Allerdings setzt sich das Oberlandesgericht München, soweit es auf den nach der Lebenserfahrung zu erwartenden Lauf der Dinge abstellt, in Widerspruch zu einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart, wonach es für die Kausalität nicht ausreicht, dass die fehlerhaften Bestätigungsvermerke nicht hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg in Gestalt der Aktienkäufe entfiele (OLG Stuttgart, Urteil vom 29.09.2009 – 12 U 147/05, juris Rn. 62 ff.). Da § 826 BGB keinen allgemeinen Schutz des enttäuschten Anlegervertrauens gewährleiste, sei eine generelle Kausalität des Testatmangels für die Anlageentscheidung – unabhängig von einer Kenntnis des Anlegers von dem Testat – für eine Haftung des Wirtschaftsprüfers nicht ausreichend (OLG Stuttgart aaO Rn. 64). Ein Anscheinsbeweis setze eine positive Anlagestimmung voraus (aaO Rn. 67 f.).

59
Welche Auffassung zutrifft, bedarf hier keiner Entscheidung. Auch insoweit handelt es sich um eine schwierige Rechtsfrage, die im Hauptverfahren zu klären ist.

60
bb) Auch für das Vorgehen gegen die ehemaligen Vorstände Dr. B. und M. ist hinreichende Erfolgsaussicht gegeben. Die Voraussetzungen für einen Anspruch aus § 826 BGB sind im Klageentwurf schlüssig dargelegt und mit geeigneten Beweismitteln unter Beweis gestellt.

61
(1) Eine Haftung von Vorständen gegenüber geschädigten Kapitalanlegern nach § 826 BGB kommt etwa dann in Betracht, wenn diese durch bewusst unrichtige Ad-hoc-Mitteilungen eine positive Anlagestimmung für den Erwerb von Aktien hervorgerufen und hierdurch den geschädigten Anleger zum Erwerb der Aktien veranlasst haben (BGH, Beschluss vom 28.11.2005 – II ZR 246/04, juris Rn. 4 und 8; Urteil vom 09.05.2005 – II ZR 287/02, juris Rn. 13, 25; Urteil vom 19.07.2004 – II ZR 217/03, juris Rn. 33 ff.). Ein Schadenersatzanspruch nach § 826 BGB gegen Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft kann auch dann bestehen, wenn sich das Geschäftsmodell der Gesellschaft als von vornherein chancenlos erweist und die Aktien praktisch allein zu dem Zweck ausgegeben werden, sich auf Kosten des Anlegers zu bereichern (BGH, Urteil vom 17.03.2015 – VI ZR 11/14, juris Rn. 26). Gleiches gilt, wenn das Geschäftsmodell von vornherein auf Täuschung und Schädigung der Kunden angelegt ist, es sich mithin um ein „Schwindelunternehmen“ handelt (BGH, Urteil vom 14.07.2015 – VI ZR 463/14, juris Rn. 24 m.w.N.).

62
(2) Ein Verhalten der beiden ehemaligen Vorstände, das mit diesen Fallgruppen jedenfalls vergleichbar ist und daher die Wertung als sittenwidrig zulässt, hat der Kläger im Klageentwurf geschildert. Dort ist dargelegt, dass die Vorstände Dr. B. und M. die Anleger nicht nur durch die Verbreitung unzutreffender Ad-hoc-Mitteilungen, sondern darüber hinaus vorsätzlich durch gezieltes „Aufblähen“ der Bilanzen der Wirecard-AG über die tatsächliche Vermögenslage der Wirecard-AG getäuscht haben.

63
Diesen Vortrag stützt der Kläger u.a. auf die im Klageentwurf zitierte Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft München I vom 22.07.2020 und den ebenfalls im Klageentwurf zitierten Fahndungsaufruf des BKA vom 05.08.2020. Nach der Pressemitteilung begründen insbesondere „die umfassenden Angaben eines Kronzeugen“ den Verdacht, dass der ehemalige Vorstandsvorsitzende Dr. B. unter Beteiligung mit weiteren Mittätern im Jahr 2015 übereingekommen war, die Bilanzsummen und das Umsatzvolumen der Wirecard AG durch das Vortäuschen von Einnahmen aus Geschäften mit sog. Third-Party-Acquirers (TPA) aufzublähen, obwohl ihm spätestens seit Ende 2015 klar gewesen sei, dass der Wirecard Konzern mit den tatsächlichen Geschäften insgesamt Verluste erziele. Laut dem Fahndungsaufruf des BKA war der ehemalige Vorstand M. als COO (Chief Operating Officer) für das gesamte operative Geschäft inklusive des Vertriebs der Wirecard AG zuständig und seit mindestens 2015 insbesondere für das Asien-Geschäft und das TPA-Geschäft maßgeblich mitverantwortlich. Nach dem Fahndungsaufruf wird er verdächtigt, spätestens im Jahr 2015, zusammen mit dem ebenfalls Beschuldigten Dr. B., die Bilanzsumme und das Umsatzvolumen der Wirecard AG durch Aufnahme von vorgetäuschten Einnahmen aus Zahlungsabwicklungen im Zusammenhang mit TPA-Geschäften aufgebläht zu haben, um so das Unternehmen finanzkräftiger und für Investoren und Kunden attraktiver darzustellen. Es bestehe der Verdacht, dass entsprechende Bankbestätigungen, die das Bestehen von Treuhandkonten mit entsprechenden Guthaben belegen sollten, gefälscht bzw. unecht seien. Dass der Kläger im Klageentwurf keine Details zum Verhalten und zur Verantwortlichkeit der Anspruchsgegner vorgetragen hat, steht der Erfolgsaussicht der Klage nicht entgegen, da der Kläger außerhalb der maßgeblichen Geschehensabläufe steht (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 367/19, juris Rn. 18 f. zum „Dieselskandal“).

64
Seine darauf gestützte Behauptung, die ehemaligen Vorstände Dr. B. und M. hätten in eigennütziger Absicht und zum Nachteil der Anleger vorsätzlich falsche Informationen zur Vermögenslage der Wirecard AG verbreitet, hat der Kläger zusätzlich u.a. unter Berufung auf den Sonderuntersuchungsbericht der KPMG (Anlage B 1), das Zeugnis des Wirecard-Insolvenzverwalters Dr. J. und das Zeugnis des Kronzeugen im Wirecard-Komplex B. unter Beweis gestellt.

65
Die Qualifizierung des beschriebenen Verhaltens der Gegner Dr. B. und M. als vorsätzliche sittenwidrige Schädigung zum Nachteil der Anleger der Wirecard AG im Sinne von § 826 BGB ist mindestens vertretbar (vgl. auch OLG München Urteil vom 11.11.2021 – 8 U 5670/21, juris Rn. 18 f. zu einer Anordnung des dinglichen Arrest gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Dr. B.). Auch insoweit ist die abschließende Bewertung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

66
(3) Auch die Kausalität des beschriebenen Verhaltens der beiden Anspruchsgegner für den Schaden des Klägers ist ausreichend dargelegt. Der Kläger hat nachvollziehbar vorgetragen, dass er die Anlage nicht erworben hätte, wenn die Unternehmenskennzahlen zur Wirecard AG korrekt dargestellt worden wären (Klageentwurf S. 98).

67
Zwar ist im Rahmen von § 826 BGB selbst bei extrem unseriöser Kapitalmarktinformation grundsätzlich der Nachweis der konkreten Kausalität für den Willensentschluss des Anlegers erforderlich, während das enttäuschte allgemeine Anlegervertrauen auf die Erfüllung der in die Anlage gesetzten Erwartungen nicht ausreichend ist (BGH, Urteil vom 04.06.2013 – VI ZR 288/12, juris Rn. 25 m.w.N.).

68
In dem hiesigen Sonderfall des gezielten „Aufblähens“ der Bilanzen in erheblichem Umfang zum Zwecke der Verschleierung von Verlusten der Aktiengesellschaft ist es aber jedenfalls vertretbar, eine Kausalität zwischen der gezielten Verbreitung der Falschinformationen und der individuellen Anlageentscheidung zu vermuten. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass der Kläger seine Anlageentscheidung im Vertrauen auf die – nach dem substantiierten Vortrag des Klägers u.a. durch die beiden Anspruchsgegner veranlasste – gezielte Vorspiegelung der Wirecard AG als finanzkräftiges und erfolgreiches Unternehmen getroffen hat (so auch OLG München, Urteil vom 11.11.2021 – 8 U 56/21, juris Rn. 27).

69
cc) Dass der ehemalige Chief Operating Officer der Wirecard AG M. untergetaucht und sein aktueller Aufenthaltsort unbekannt ist, steht einer Erfolgsaussicht der auch gegen ihn gerichteten Klage nicht entgegen. Zu Recht weist der Kläger darauf hin, dass dieses Problem durch eine öffentliche Zustellung der Klage nach § 185 ZPO überwunden werden kann.

70
b) Die beabsichtigte Rechtsverfolgung ist auch nicht mutwillig.

71
Nach § 3a (1) b) Satz 2 ARB setzt eine Ablehnung des Deckungsschutzes wegen Mutwilligkeit voraus, dass der durch die Wahrnehmung der rechtlichen Interessen voraussichtlich entstehende Kostenaufwand unter Berücksichtigung der berechtigten Belange der Versichertengemeinschaft in einem groben Missverhältnis zum angestrebten Erfolg steht. Ein solches Missverhältnis ist hier nicht erkennbar.

72
Ohne Erfolg macht die Beklagte geltend, der Kläger habe zunächst den Fortgang der weiteren laufenden Verfahren abwarten müssen. Ob im Einzelfall eine Mutwilligkeit daraus abgeleitet werden kann, dass eine musterprozesshaft wirkende Entscheidung bevorsteht, in der im Wesentlichen über denselben Rechtsverstoß wie vom Versicherungsnehmer geltend gemacht entschieden wird (so OLG Celle, Urteil vom 01.08.1990 – 8 U 178/89, juris), bedarf keiner Entscheidung. Einer Mutwilligkeit stehen hier jedenfalls die Gefahr einer Insolvenz der Anspruchsgegner und die laufende Verjährung entgegen. Gerade im Hinblick auf die weiteren Verfahren hat der Kläger ein berechtigtes Interesse an einer zügigen Titulierung und Vollstreckung vor einer etwaigen Zahlungsunfähigkeit der Schuldner. Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass die Gegner die weiteren Verfahren als Musterverfahren ansehen und deren Ergebnis auch im Verhältnis zum Kläger gegen sich gelten lassen werden (vgl. OLG Köln, Urteil vom 22.02.2000 – 9 U 74/99, juris Rn. 7).

73
Dass bei einer Verurteilung der Anspruchsgegner deren Vermögen nicht zur Befriedigung der Anleger ausreicht, ist von der für die Mutwilligkeit darlegungs- und beweispflichtigen Beklagten (Schmitt in Harbauer, Rechtsschutzversicherung, 9. Aufl. § 3a ARB 2010 Rn. 12) weder substantiiert vorgetragen noch belegt. So ist unklar, über welche Vermögenswerte die ehemaligen Vorstände Dr. B. und M. verfügen, in die ggf. vollstreckt werden kann. Aus der von der Beklagten als Anlage B 3 vorgelegten Pressemeldung, wonach der Anspruchsgegner Dr. B. unter Verdacht steht, Teile seines Vermögens zur Seite geschafft und in seiner eidesstattlichen Versicherung unzutreffende Angaben gemacht zu haben, ergibt sich seine Vermögenslosigkeit gerade nicht. Soweit die Beklagte mit Schriftsatz vom 30.03.2022 die Höhe des Stammkapitals von E. mit 10.000.100,- € angibt, ist dies zur vollständigen oder teilweisen Befriedigung der geschädigten Anleger nicht offensichtlich unzureichend.

74
Eine Mutwilligkeit des beabsichtigten Vorgehens kann, anders als die Beklagte meint, auch nicht aus dem Vorlagebeschluss des Landgerichts München I nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) vom 14.03.2022 (3 OH 2767/22 KapMuG) zum Wirecard-Komplex abgeleitet werden. Dem steht bereits entgegen, dass für die Mutwilligkeit eine ex-ante-Betrachtung vorzunehmen ist (BGH, Urteil vom 18.03.1992 – IV ZR 51/91, juris Rn. 21). Als der Kläger im Jahr 2020 Deckungsschutz beantragt hat, stand noch nicht fest, ob es in den bereits anhängigen Verfahren anderer Wirecard-Anleger zu einer Vorlage nach § 6 KapMuG kommen wird. Im Übrigen setzt die Bindung nach § 22 Abs. 1 KapMuG grundsätzlich die Rechtshängigkeit eines nach § 8 Abs. 1 KapMuG ausgesetzten Klageverfahrens vor dem Prozessgericht zum Zeitpunkt des Musterentscheids des Oberlandesgerichts voraus. Demgegenüber sind die Prozessgerichte in den Verfahren, die erst nach dem rechtskräftigen Abschluss des Musterverfahrens eingeleitet werden, an die Feststellungen des Musterentscheids nicht gebunden (Gängel/Huth/Gansel, KapMuG, 4. Aufl. § 22 Rn. 4 f.).

75
2. Auf eine Obliegenheit des Klägers, bis zum rechtskräftigen Abschluss der derzeit anhängigen Verfahren anderer Anleger zu warten, konnte sich die Beklagte nicht berufen. Eine solche ergibt sich weder aus § 17 (1) c) bb) ARB noch aus § 82 Abs. 1 oder Abs. 2 VVG.

76
aa) § 17 (1) c) bb) ARB ist intransparent im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB und daher unwirksam (BGH, Urteil vom 14.08.2019 – IV ZR 279/17, juris Rn. 14 ff.). Dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer, der regelmäßig nicht über juristisches Fachwissen verfügt, werden mit der Klausel umfassende, bis ins Einzelne gehende rechtliche Überlegungen und Bewertungen abverlangt, zu denen er in aller Regel nicht in der Lage ist. Er weiß daher letztlich nicht, was er zu tun oder zu unterlassen hat, um die Obliegenheit zu erfüllen (BGH aaO Rn. 19). Das Weisungsrecht des Versicherers ändert daran nichts, da es von dem Versicherungsnehmer die ihm – in der Regel nicht mögliche – Entscheidung darüber abverlangt, ob er auf die Weisung Rücksicht nehmen muss oder ob er eine andere Rechtsverfolgung bevorzugen darf (BGH aaO Rn. 20).

77
bb) Ohne Erfolg beruft sich die Beklagte auf § 82 Abs. 1 und 2 VVG und ihre Weisung an den Kläger, die Rechtskraft der Klagen anderer Anleger abzuwarten. Eine Wartepflicht des Klägers kann daraus nicht abgeleitet werden.

78
(1) Nach § 82 Abs. 1 VVG, der grundsätzlich auf die Rechtsschutzversicherung als Schadensversicherung Anwendung findet (BGH, Urteil vom 14.08.2019 – IV ZR 279/17, juris Rn. 31), trifft den Versicherungsnehmer die Obliegenheit, die in der jeweiligen Situation sich anbietenden und zumutbaren Rettungsmaßnahmen unverzüglich und mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt zu ergreifen, als ob er nicht versichert wäre (BGH, Urteil vom 14.03.2006 – VI ZR 335/04, juris Rn. 17; Urteil vom 12.07.1972 – IV ZR 23/71, juris Rn. 10). Nach § 82 Abs. 2 VVG hat er Weisungen des Versicherers im Rahmen der Zumutbarkeit zu befolgen. Über berechtigte Interessen des Versicherungsnehmers darf sich der Versicherer dabei nicht hinwegsetzen (Voit in Prölss/Martin, VVG, 31. Aufl. § 82 VVG Rn. 25).

79
(2) Es ist bereits fraglich, ob aus § 82 Abs. 2 VVG – unabhängig von einer wirksamen Konkretisierung von Schadensminderungsobliegenheiten in den ARB – ein auf die allgemeine Schadensminderungsobliegenheit des Versicherungsnehmers nach § 82 Abs. 1 VVG bezogenes Weisungsrecht des Rechtsschutzversicherers folgen kann (Cornelius-Winkler in Harbauer, Rechtsschutzversicherung, § 17 ARB 2010 Rn. 92). Ein Weisungsrecht ist insbesondere dann problematisch, wenn mit der Weisung – wie hier – in die Prozessführung durch den Rechtsanwalt eingegriffen und dem Versicherungsnehmer ein Entscheidungskonflikt auferlegt wird (Cornelius-Winkler aaO; ders. in jurisPR-VersR 3/2018 Anm. 1; Herdter in Looschelders/Paffenholz, ARB, 2. Aufl. § 17 Rn. 75). Der Versicherungsnehmer wird in der Regel nicht beurteilen können, welche Maßnahmen zu einer Einsparung von Kosten führen und ob die Weisung seinen berechtigten Interessen zuwider läuft (Bauer, VersR 2013, 661, 665 f.; HK-VVG/Münkel, 4. Aufl. § 17 ARB 2010 Rn. 10).

80
(3) Die Frage muss hier indes nicht entschieden werden, da dem Kläger ein Abwarten auf den rechtskräftigen Abschluss der bereits beim Landgericht München I anhängigen Schadenersatzprozesse anderer geschädigter Anleger oder von Strafverfahren gegen die Anspruchsgegner nicht zuzumuten ist.

81
Das Abwarten auf den rechtskräftigen Abschluss der Verfahren anderer Anleger kann dem Kläger bereits im Hinblick auf die laufende Verjährungsfrist nicht zugemutet werden (vgl. OLG Celle, Urteil vom 18.01.2007 – 8 U 198/06, juris Rn. 47 zur Warteobliegenheit nach § 17 ARB). Aus der Entscheidung des Oberlandesgerichts München vom 13.12.2021 (3 U 6014/21) folgt, dass im Hinblick auf die erforderliche umfangreiche Beweisaufnahme langwierige Prozesse gegen E. zu erwarten sind. Gleiches gilt für die Klageverfahren gegen die ehemaligen Vorstände der Wirecard AG. Es ist damit zu rechnen, dass bis zu einer ersten rechtskräftigen Entscheidung in den von anderen Anlegern betriebenen Parallelverfahren mehrere Jahre vergehen werden. Der Kläger läuft daher Gefahr, dass sich die Anspruchsgegner nach dem 31.12.2023 ihm gegenüber auf Verjährung berufen werden mit dem Argument, dass der Kläger bereits im Jahr 2020 aufgrund der damaligen Veröffentlichungen sowohl von den Anspruch begründenden Umständen als auch von der Veranwortlichkeit der Anspruchsgegner im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB Kenntnis hatte (vgl. BGH, Urteil vom 17.12.2020 – VI ZR 739/20, juris Rn. 21 zum „Dieselskandal“). Soweit die Beklagte von dem Kläger verlangt, sich auf die unsichere Rechtsfrage, ob die Verjährung hier erst mit Abschluss der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und Einsichtnahme in die Ermittlungsakten beginnt, einzulassen, verstößt sie mit der Weisung gegen die berechtigten Interessen des Klägers. Dieser muss im eigenen Interesse von dem frühestmöglichen Verjährungszeitpunkt ausgehen, also spätestens im Jahr 2023 Klage erheben.

82
Hinzu kommt die Gefahr einer Insolvenz der Gegner der Hauptsachverfahren. Geht es wie hier um eine Vielzahl von Geschädigten mit teilweise hohen Schadenersatzforderungen, kann das Zuwarten die Zugriffsmöglichkeit beim Schuldner erschweren (Cornelius-Winkler in Harbauer, Rechtsschutzversicherung, 9. Aufl. § 17 ARB 2010 Rn. 61).

83
Auch das Abwarten bis zum Abschluss der Strafverfahren gegen die ehemaligen Vorstände Dr. B. und M. ist dem Kläger im Hinblick auf die für ihn nicht absehbare Dauer dieser – mutmaßlich umfangreichen – Wirtschaftsstrafverfahren nicht zuzumuten.

84
3. Auch für die außergerichtliche Interessenwahrnehmung hat die Beklagte Deckungsschutz zu gewähren. Auf eine fehlende Erfolgsaussicht oder Mutwilligkeit kann sie sich nicht mit dem Argument berufen, im Hinblick auf die laufenden Klagen sei eine außergerichtliche Einigungsbereitschaft der Anspruchsgegner unwahrscheinlich.

85
Die Beurteilung, ob hinreichende Erfolgsaussicht besteht und ob eine Rechtsverfolgung mutwillig erscheint, erfordert eine ex-ante-Betrachtung (BGH, Urteil vom 18.03.1992 – IV ZR 51/91, juris Rn. 21).

86
Der Kläger hat erstmals mit anwaltlichem Schreiben vom 29.07.2020 um Deckungsschutz für die außergerichtliche Geltendmachung der Forderung gebeten, also nur einen Monat nach der ad-hoc-Meldung vom 22.06.2020, wonach die zugunsten von Wirecard ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insg. 1,9 Mrd. € mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen. Von der Beklagten sind keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme vorgetragen, dass zu diesem Zeitpunkt der Versuch, durch eine vorgerichtliche Inanspruchnahme eine Regulierung bzw. eine Einigung zu erreichen, zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht geeignet war. Wie die Anspruchsgegner reagieren werden, war noch nicht absehbar. Es ist nicht dargelegt oder ersichtlich, dass die Anspruchsgegner bereits zu diesem Zeitpunkt offensichtlich zahlungsunwillig waren. Selbst wenn – wie die Beklagte im Berufungsverfahren zuletzt geltend macht – bereits im Juli 2020 Klagen von Wirecard-Anlegern gegen E. anhängig gewesen sein sollten, waren eine Änderung der Strategie von E. und eine außergerichtliche Einigung zu diesem Zeitpunkt nicht ausgeschlossen.

III.

87
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs.1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

88
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.

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