Zur Kennzeichnung eines Erkers, der wenige Zentimeter in den Straßenraum hineinragt

OLG Hamm, Urteil vom 26. August 2020 – I-11 U 84/19

Ragt ein Erker in einer Höhe von etwas mehr als vier Metern sechs Zentimeter in den Straßenraum, so dass es zu einer Berührung mit höheren Fahrzeugen, u.a. vier Meter hohen Lkws kommen kann, kann diese Gefahrenstelle durch ein Leitmal am Erker und einen Leitpfosten unter ihm hinreichend gekennzeichnet sein, wenn dies für Fahrer größerer Fahrzeuge so zu erkennen ist, dass sie den Erker umfahren können.

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 17.06.2019 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 8. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Gründe
I.

1
Von der Darstellung eines Tatbestandes wird gem. §§ 540 Abs.2, 313 a Abs.1 S.1 ZPO abgesehen.

II.

2
Die zulässige Berufung bleibt erfolglos. Das Landgericht hat die Klage mit zutreffender Begründung abgewiesen.

1.

Der Klägerin stehen gegen die Beklagte keine Schadensersatzansprüche aus § 86 Abs.1 VVG i.V.m. § 839 BGB, Art.34 GG i.V.m. §§ 9, 9a, 47 Abs.1 StrWG NRW aufgrund einer Verkehrssicherungspflichtverletzung wegen eines Hindernisses im Luftraum oberhalb der in im Stadtgebiet der Beklagten gelegenen X-straße in Höhe des Gebäudes Nr. 89 zu.

Zwar obliegt der Beklagten auch die Verkehrssicherung für den lichten Raum oberhalb des Straßenkörpers (§ 2 Abs.2 Nr.2 StrWG NRW). Die ihr für den lichten Raum obliegenden Sicherungspflichten hat die Beklagte jedoch nicht verletzt. Soweit die Parteien darum streiten, ob der um 6 cm in den Straßenraum hereinragende Erker an dem Haus der Zeugin T zum Unfallzeitpunkt am 28.04.2016 eine abhilfebedürftige Gefahrenstelle für den auf der X-straße in Q herrschenden Fahrzeugverkehr darstellte, hat die Beklagte bereits vor dem Unfallereignis ausreichende Maßnahmen zur Kennzeichnung des Erkers durch Anbringen des Leitmals und des Leitpfosten getroffen. Eine abhilfebedürftige Gefahrenstelle lag daher zum Unfallzeitpunkt unter keinem erdenklichen Gesichtspunkt vor.

a)

Die Beklagte war nicht verpflichtet, den Straßenraum oberhalb der X-straße generell bis zu einer Höhe von deutlich mehr als 4 m frei von Hindernissen zu halten.

Das Landgericht geht rechtsfehlerfrei davon aus, dass die der Beklagten obliegende Verkehrssicherungspflicht nicht vorsieht, den lichten Raum über der Straße für Fahrzeuge mit der nach § 32 Abs.2 S.1 StVZO maximal zulässigen Höhe von 4 m generell frei von Hindernissen zu halten. Der Umfang der Verkehrssicherungspflicht wird – wie auch das Landgericht zutreffend ausführt – nicht durch § 32 Abs.2 S.1 StVZO bestimmt. § 32 Abs.2 S.1 StVZO enthält eine Höhenbegrenzung für Fahrzeuge. Daraus folgt aber nicht, dass der Luftraum über einer Straße in jedem Fall bis zu dieser Höhe frei von Hindernissen zu sein hat (OLG Hamm, Urt. v. 17.05.1994, 9 U 30/94 = VersR 1995, 1206; OLG Koblenz, Urt. v. 15.12.2003, Az.: 12 U 1392/02 = OLGR Koblenz 2004, 370, 371).

b)

Der Umfang der für den lichten Raum gebotenen Sicherungsmaßnahmen hängt vielmehr maßgebend von der berechtigten Sicherheitserwartung der Verkehrsteilnehmer ab (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 17.05.1994, 9 U 30/94).

Davon, dass der Straßenraum in einer Höhe von mehr als 4 m frei von Hindernissen ist, werden Fahrzeugführer allenfalls auf verkehrswichtigen Straßen ausgehen können, bei denen der Sicherungspflichtige in einem größeren Umfang mit Verkehr von Lastkraftwagen mit der zulässigen Höhe von 4 m rechnen muss (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 17.05.1994, 9 U 30/94; vgl. OLG Stuttgart, Urt. v. 22.10.2003, 4 U 131/03, Tz.13, juris). Bei der X-straße handelt es sich jedoch nicht um eine verkehrswichtige Straße. An die Feststellung des Landgerichts, dass es sich bei der X-straße um eine gewöhnliche innerstädtische Straße ohne erhöhtes Verkehrsaufkommen handelt, auf der auch kein besonderer Lieferverkehr herrscht, ist der Senat gem. § 529 Abs.1 Nr.1 ZPO gebunden. Anhaltspunkte dafür, dass die Feststellungen des Landgerichts unrichtig oder unvollständig sind, sind nicht ersichtlich, insoweit greift die Klägerin das landgerichtliche Urteil auch nicht an.

Die allgemein für den öffentlichen Straßenraum bestehende Pflicht zum Schutz von Verkehrsteilnehmern beginnt dort, wo sich diese sich vor Gefahren nicht mehr selbst in zumutbarer Weise schützen können, weil die Gefahren für einen durchschnittlich sorgfältigen Benutzer nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und der Benutzer sich auf die Gefahren nicht oder nicht rechtzeitig einzustellen vermag (OLG Hamm, Urt. v. 17.05.1994, 9 U 30/94). Besondere Eigenarten seines Fahrzeugs hat der Verkehrsteilnehmer selbst zu berücksichtigen, indem er mit Blick hierauf besonders sorgfältig fährt. Der Führer eines Kraftfahrzeugs mit außergewöhnlicher Höhe muss besonders auf erkennbare Gefahrenquellen im Luftraum über der Fahrbahn oder im unmittelbaren Anschluss an deren Lichtraumprofil achten. Er kann sich nicht uneingeschränkt darauf verlassen, dass die Verkehrssicherungspflichtigen ihn vor jeder Gefahr bewahren, die auch durch die Größe seines Fahrzeugs sowie sein Fahrverhalten verursacht wird (OLG Koblenz, Urt. v. 15.12.2003, Az.: 12 U 1392/02).

2.

3
Gemessen an den für den öffentlichen Straßenraum allgemein geltenden Anforderungen stellte der Erker zum Unfallzeitpunkt keine abhilfebedürftige Gefahrenstelle dar. Der Erker war als potentielle Gefahr für den Schwerlastverkehr aufgrund der von der Beklagten vorgenommenen Kennzeichnung mit einem Leitmal sowie durch das Aufstellen des Leitpfostens hinreichend markiert. Darüber hinaus war der markierte Erker auch für den aus der G-straße in die X-straße einbiegenden Schwerlastverkehr so rechtzeitig erkennbar, dass sich die Verkehrsteilnehmer auf die Gefahrenstelle einstellen und diese beherrschen konnten.

a)

Dabei legt der Senat, wie auch schon das Landgericht, die Auffassung der Klägerin als zutreffend zu Grunde, dass es sich bei dem um 6 cm und nach den erstinstanzlichen Feststellungen in einer Höhe von mindestens 4,05 m in den Straßenraum hineinragenden Erker um eine Gefahrenstelle für Fahrzeuge handelt, die die nach § 32 StVZO zulässige Gesamthöhe von 4 m (nahezu) erreichen. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu dieser Frage erübrigt sich deshalb.

Die Klägerin hat im Termin vor dem Senat zutreffend darauf hinweisen lassen, dass bei Annäherung an den Erker für den Fahrzeugführer weder erkennbar ist, ob der Erker überhaupt in den Straßenraum hineinragt, noch, dass es wegen der Höhe des Erkers zu einer Berührung mit dem Fahrzeug kommen kann. In diesem Zusammenhang erscheinen dem Senat die Erwägungen der Klägerin plausibel, dass sich ein hohes und schweres Fahrzeug, wie etwa ein Sattelzug, durch Brems- und Beschleunigungsbewegungen nach dem Einbiegen in die X-straße aufschwingt und der Auflieger außerdem durch die Geschwindigkeitsänderungen in Pendelbewegungen gerät und das Fahrzeug deshalb den Erker touchiert.

Unabhängig hiervon wird der Erker aber bereits deshalb als Gefahrenstelle anzusehen sein, weil er sich vor der Kennzeichnung durch das Leitmal im Jahr 2006 als Unfallschwerpunkt herauskristallisiert hat. Der Beklagten ist durch das Schreiben der Zeugen T vom 04.12.2005 angezeigt worden, dass es schon vor dem Jahr 2004 zu verschiedenen Unfällen durch Lkw gekommen ist und der Erker allein im Jahr 2004 durch mehrere Unfallereignisse beschädigt worden ist. Dahin stehen kann in diesem Zusammenhang, ob die von den Zeugen T angezeigten Unfälle auf dem von der Klägerin beschriebenen Phänomen des Aufschwingens der Fahrzeuge oder darauf beruhten, dass Fahrzeuge verkehrswidrig auf den Gehweg ausgewichen sind und deshalb den Erker touchiert haben. Denn der Verkehrssicherungspflichtige muss auch mit erwartbaren und häufig vorkommenden Fehlverhalten der Verkehrsteilnehmer rechnen und hat dem zu begegnen.

b)

Die Beklagte hat die Gefahrenstelle jedoch vor dem hier streitgegenständlichen Unfallereignis durch das Anbringen des Leitmals und des Leitpfostens hinreichend gekennzeichnet und der Gefahr damit in ausreichender Form abgeholfen. Eine (weitere) Abhilfebedürftigkeit bestand nicht, weil die Gefahrenstelle in ihrer konkreten Gestaltung für Verkehrsteilnehmer rechtzeitig erkennbar und beherrschbar war. Auch diese Feststellungen konnte das Landgericht ohne Einholung eines verkehrsanalytischen Sachverständigengutachtens treffen.

aa)

Dass der Erker auch für den von der G-straße in die X-straße einbiegenden Schwerlastverkehr grundsätzlich so hinreichend erkennbar war, dass der Fahrzeugführer nach dem Abbiegevorgang ausreichend Gelegenheit hatte, das Fahrzeug entweder vor dem Erker zum Stillstand zu bringen oder ihn durch ein Ausweichmanöver zu umfahren, wird auch von der Klägerin nicht in Abrede gestellt. Dies ergibt sich außerdem aus den tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts, den zur Gerichtsakte gereichten Anlagen (insb. den Anlagen K1 u. K7) sowie aus den im Internet frei zugänglichen Übersichtskarten der Unfallörtlichkeit und deren Vermessungsfunktionen. Danach ist der Erker, der ca. 20 m hinter dem Kreisverkehr G-straße/X-straße gelegen ist, für den Führer eines Sattelzugs spätestens dann erkennbar, wenn er den hinter dem Kreisverkehr gelegenen Fußgängerüberweg erreicht und sich vergewissert hat, dass der Überweg passierbar ist. Angesichts dessen, dass der Abstand zwischen dem Fußgängerüberweg und dem Kreisverkehr ca. 4 m beträgt, ist davon auszugehen, dass der zum Unfallzeitpunkt an der Unterkante mit einem rotweißen Leitmal markierte Erker ebenso wie der Leitpfosten auf dem Bürgersteig jedenfalls aus einer Entfernung von 16 m für den einbiegenden Fahrzeugverkehr sichtbar gewesen ist. Daher war es dem Fahrer eines wegen des Abbiegevorgangs zwangsläufig langsam fahrenden Fahrzeugs unproblematisch möglich, dem Erker entweder auszuweichen oder vor dem Erker das Fahrzeug bis zum Stillstand abzubremsen.

bb)

Der Fahrzeugführer kann angesichts der vorbeschriebenen örtlichen Verhältnisse bei Waltenlassen der durchschnittlichen Aufmerksamkeit auch rechtzeitig – nämlich aus der Entfernung von 16 m – erkennen, dass der mit dem Leitmal markierte Erker für sein Fahrzeug eine Gefahr darstellen könnte, so dass es geboten ist, dem potentiellen Hindernis mit ausreichenden Seitenabstand auszuweichen. Leitmale (Zeichen 627 der Anlage 4 zur StVO) kennzeichnen den Verkehr einschränkende Gegenstände. Diese Form der Beschilderung und ihre Bedeutung sind Verkehrsteilnehmern vertraut und geläufig. Von dem Führer eines außergewöhnlich hohen Fahrzeugs, der nicht darauf vertrauen darf, dass der lichte Raum frei von Hindernissen ist, kann erwartet werden, dass er dem Leitmal Bedeutung beimisst und das von der Beschilderung ausgehende Warnsignal richtig deutet. Da das Leitmal erkennbar in einer Höhe angebracht ist, die für den Pkw-, Rad- und Fußgängerverkehr keine Bedeutung haben kann, ergibt sich eindeutig, dass sich das Signal nur an Führer besonders hoher Fahrzeuge richten kann und eben diesen Verkehr vor einer potentiellen Gefahr warnt, ohne dass es darauf ankommt, ob und wie weit bzw. in welcher Höhe der Erker in den Straßenraum hineinragt. Anhand dieser Informationen war es einem durchschnittlich aufmerksamen Fahrzeugführer auch ohne ergänzenden Angaben zur Höhe des Hindernisses ohne weiteres möglich, den Erker sicher zu umfahren. Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat darauf hinweisen ließ, dass die Bedeutung des Leitmals unklar gewesen ist und sich darin erschöpfen könnte, das Überfahren des Bürgersteigs bzw. das Parken auf dem Bürgersteig durch außergewöhnlich hohe Fahrzeuge zu verhindern, übersieht die Klägerin die selbständige Bedeutung des Leitmals als eigenständiges Verkehrszeichen. Denn um ein – ohnehin – verbotswidriges Befahren des Bürgersteigs (vgl. Hentschel/Dauer/König, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., § 2 StVO Rn.29) oder dessen Beparken (Hentschel/Dauer/König, a..a.O., § 12 StVO Rn.55) zu verhindern, hatte die Beklagte zusätzlich einen Leitpfosten unterhalb des Erkers angebracht.

c)

Eine Abhilfebedürftigkeit ergibt sich auch nicht deshalb, weil der Erker trotz Anbringens des Leitpfosten und des Leitmals weiterhin einen Unfallschwerpunkt darstellte. Maßgeblich für die Beurteilung sind die Kenntnisse der Beklagten in dem Zeitraum nach der Kennzeichnung der Gefahrenstelle im Jahr 2006 bis zu dem hier streitigen Unfallgeschehen am 28.04.2016. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen gibt es keinen greifbaren Anhaltpunkt dafür, dass die Beklagte in dieser Zeit Kenntnis von weiteren Schadensereignissen hatte. An diese Feststellungen ist der Senat gem. § 529 Abs.1 Nr.1 ZPO gebunden. Entgegen der Auffassung der Klägerin kann aus der Aussage des Zeugen T vor dem Landgericht nicht die erforderliche Überzeugung gewonnen werden, dass die Beklagte von einem weiteren schweren Unfall im Jahr 2009 Kenntnis erlangt hat. Der Zeuge T schildert zwar, dass er mit der Beklagten im Jahr 2009 wegen einer weiteren schweren Beschädigung des Erkers telefoniert habe, gleichzeitig gibt er aber auch an, dass die Warnbake erst nach diesem Unfall im Jahr 2009 installiert worden sei. Erinnert sich der Zeuge T richtig, hat die Beklagte zwar nach den Unfällen im Jahr 2004 bis 2009 nichts zur Sicherung der Gefahrenstelle unternommen, konnte dann aber während der unfallfrei verlaufenden Jahre von 2009 bis 2016 davon ausgehen, die erforderlichen Maßnahmen getroffen zu haben. Irrt sich der Zeuge über den Zeitpunkt der Installation des Leitmals und ist dies schon 2006 angebracht worden, kann aus der Aussage nicht mit dem Beweismaß des § 286 ZPO geschlossen werden, dass das Telefonat mit der Beklagten wegen weiterer erforderlichen Maßnahmen erst im Jahr 2009 nach einem weiteren Unfall stattgefunden hat, weil der Zeuge das Telefonat und das Anbringen des Leitmals in einen unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang stellt.

3.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs.1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr.10, 713 ZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs.2 ZPO nicht vorliegen.

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