Zur Haftung Aufsichtspflichtiger für Schäden durch schwer erziehbare Jugendliche

Amtsgericht Königswinter, Urteil vom 17.10.2001 – 9 C 183/00

Zur Haftung Aufsichtspflichtiger (hier: Heimleitung) für durch schwer erziehbare Jugendliche angerichteten Schaden (hier: mutwillige Beschädigung von Motorroller)

Tenor

1.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.417,90 (zweitausendvierhundertsiebzehn 90/100 Deutsche Mark) zu zahlen nebst 4 % Zinsen seit dem 18.03.2000.

2.

Im Übrigen ist die Klage zurückgenommen.

3.

Von den Kosten des Rechtsstreits fallen dem Kläger 14 % zur Last, der Beklagten 86 %.

4.

Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 3.500,00 DM vorläufig vollstreckbar.

1

Tatbestand:
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Der Kläger beansprucht von der Beklagten Schadensersatz wegen der Beschädigung eines Motorrollers durch Jugendlichen, dem gegenüber die Beklagte aufsichtspflichtig war. Die Beklagte betreibt mehrere Wohngruppen für Kinder und Jugendliche, unter anderem eine Außengruppe in S, in der mehrere gemischtgeschlechtliche Jugendliche untergebracht sind, und zwar in einem normalen Einfamilienhaus mit üblicher Umzäunung, etwas zurückgesetzt, aber eingepasst in die übliche Bebauung, mit Garten. Es besteht eine Haustür, sowie mehrere Zimmer, aber ohne abschließbare Flurtüren. Die Zimmer sind mit normalen Fenstern ausgestattet. In der Nacht zum 05.12.1999 verließen zwei dort untergebrachte Jugendliche (F. damals 14 ½ Jahre alt, M. fast 13 Jahre alt) nachts unerlaubt das Heim, und entwendeten den Motorroller. Gegen 6.00 Uhr morgens wurden sie in einer Tankstelle in Sb. von der Polizei aufgegriffen und der Motorroller, der schwere Vandalismusschäden aufwies, sichergestellt.
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Der Kläger behauptet, er sei Eigentümer des Motorrollers gewesen. Er ist der Auffassung, die Beklagte müsse wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht den ihm entstandenen Schaden, den er zuletzt unter Zurücknahme weiterer Beträge auf 2.417,90 DM beziffert hat, ersetzen. Die Pflichtverletzung ergäbe sich evident schon daraus, dass es den Jugendlichen möglich gewesen sei, das Heim mitten in der Nacht zu verlassen. Die Jugendlichen seien schon zuvor auffällig gewesen und hätten zu Streichen und Straftaten geneigt, so dass eine ständige Überwachung und Kontrolle hätte stattfinden müssen. Zumindest hätten die beiden rechtzeitig innerhalb der Wohngruppe getrennt werden müssen.
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Unter Zurücknahme der weitergehenden Klage beantragt der Kläger,
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die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2.417,09 DM zu zahlen nebst 4 % Zinsen seit dem 18.03.2000.
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Die Beklagte beantragt,
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Klageabweisung.
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Sie bestreitet die Aktivlegitimation des Klägers und ist im Übrigen der Meinung, sie habe ihr Aufsichtspflicht nicht verletzt. Ein Entweichen der Kinder aus dem Heim habe sie nicht verhindern können. Von ihr könne nicht verlangt werden, die Kinder gefängnisartig zu halten. Entgegen der Darstellung des Klägers habe es sich bei den Jugendlichen nicht um schwererziehbare oder straffällig gewordene Jugendliche gehandelt; die Beklagte betreibe in der Außengruppe ein normales Kinder- und Jugendheim, keine geschlossene Einrichtung.
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Wegen weiterer Einzelheiten des wechselseitigen Vorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze und die zu den Akten gereichten Unterlagen verwiesen.
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Das Gericht hat Berichte der Jugendämter der Stadt Langenfeld (betreffend den Jugendlichen F.) und des Landrats des Rhein-Sieg-Kreises (betreffend den Jugendlichen M.) eingeholt, die Ermittlungsakten 2 Ds 511/99 AG Königswinter beigezogen und Beweis erhoben zur Aktivlegitimation des Klägers durch Vernehmung der Zeugen P. und K. (Protokoll vom 05.09.2001).
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage hat in dem zuletzt noch geltend gemachten Umfang Erfolg.
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Dem Kläger steht gemäß § 832 Abs. 1, Satz 1 BGB ein Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht zu.
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1.
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Die Beklagte hat die Aufsicht über die minderjährigen Kinder M. und F. – die unstreitig den Motorroller entwendet und beschädigt haben – übernommen, in dem sie die Jugendlichen in ihr Außenheim aufgenommen hat.
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Damit besteht nach § 832 BGB die doppelte Vermutung, dass der Aufsichtspflicht nicht genügt worden ist (Haftung für vermutetes Verschulden) und dass der Mangel der Aufsicht die Ursache des Schadens ist; die Beklagte als Aufsichtspflichtige hätte sich nur entlasten können durch den Nachweis, dass sie ihrer Aufsichtspflicht genügt hat oder dass der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung eingetreten wäre (vgl. Haag in Geigel, Der Haftpflichtprozess 23. Auflage, 16. Kapitel, Randnummer 39).
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Der Beklagten ist es zur Überzeugung des Gerichts nicht gelungen, einen derartigen Entlastungsbeweis zu führen.
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a)
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Wie beide Seiten nicht verkennen, bestimmt sich das Maß der gebotenen Aufsicht bei Minderjährigen nach ihrem Alter, Eigenart und Charakter, wobei sich die Grenze der erforderlichen Maßnahmen grundsätzlich danach richtet, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen tun müssen, um Schädigungen Dritter zu verhindern. Dabei ist weiter anerkannt, dass bei Minderjährigen, die sich als schwer erziehbar oder verhaltensauffällig erwiesen haben, erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Insbesondere ist bei Heimen für schwer erziehbare Kinder im schulpflichtigen Alter an ein sehr strenges Maß an die Aufsichtspflicht anzulegen (vgl. BGH Versicherungsrecht 1965 Seite 48 ff; BGH NJW-RR 1988 Seite 798ff).
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b)
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Vorliegend traf die Beklagte hier eine erhöhte Aufsichtspflicht. Wie durch die eingeholten Berichte der beteiligten Jugendämter deutlich geworden ist, im Übrigen aber zumindest teilweise auch im Laufe des Verfahrens von der Beklagten eingeräumt wird (siehe Schriftsatz vom 06.11.2000), war insbesondere der Jugendliche F. entgegen den Angaben noch in der Klageerwiderung schon vor dem hier in Rede stehenden Vorfall mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten und zuletzt noch in den Sommerferien 1999 strafrechtlich rückfällig geworden. Das Jugendamt des Rhein-Sieg-Kreises bezeichnet ihn unter Würdigung des Werdeganges als “schwer erziehbaren und verhaltensauffälligen Jugendlichen mit einem entsprechenden Aggressionspotential”. Auch der Jugendliche M. hatte schon vor der Aufnahme in die Außengruppe der Beklagten mehrfach Differenzen mit Betreuern gehabt; die Beklagte selbst bezeichnet ihn im Schriftsatz vom 06.11.2000 als einen “sehr schwierigen Jugendlichen”, dem allerdings eine “weitere Chance” gegeben werden sollte. Auch er war bereits strafrechtlich auffällig geworden.
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Unter diesen Umständen traf die Beklagte eine erhöhte Aufsichtspflicht. Beide Jugendliche bedürfen sowohl im schulischen als auch im privaten Bereich einer umfassenden Erziehung und Anleitung.
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c)
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Die Beklagte hat sich hinreichend dargetan, dass sie dieser erhöhten Aufsichtspflicht nachgekommen sei.
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Da sie, wie sie in der Klageerwiderung selbst vorträgt, in der Außenstelle S. lediglich ein “normales” Kinder- und Jugendheim betreibt, ohne geschlossene Einrichtung, eingefügt in normale Bebauung mit weiteren Einfamilienhäusern, und ohne jegliche Schutzvorkehrungen gegen ein Entweichen, hätte sie die beiden schwererziehbaren, bereits strafrechtlich auffällig gewordenen Jugendlichen nicht in dieser Außenstelle unterbringen dürfen. Insofern vermag sie nicht zu entlasten, dass die Entscheidung, welche Jugendliche in diese Außenstelle untergebracht werden, nicht von ihr, sondern von den beteiligten Jugendämtern, bzw. dem Träger der elterlichen Sorge (Vormund, Eltern oder Ähnliches) getroffen würden, gegebenenfalls hätte sie von vorne herein darauf hinweisen müssen, dass die Außenstelle für die Unterbringung derartig schwererziehbarer Jugendlicher mit Aggressionspotential nicht geeignet sei. Dies insbesondere, wenn wie die Beklagte selbst behauptet, sie personell nicht in der Lage sei, ein Entweichen der Jugendlichen aus dem Heim zu unterbinden oder auch nur zu erschweren. Vorliegend war es für die Jugendlichen offensichtlich ein Leichtes, aus den Zimmern mit normalen Fenstern ohne Schutzvorrichtung auszusteigen und über die normale Umzäunung zu entweichen.
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Ein weiterer Ansatzpunkt für die Pflichtverletzung der Beklagten ist darin zu sehen, dass sie, wie sie einräumt, noch vor der in Rede stehenden Tat erkannt hat, dass der Jugendliche M. für die Gruppe nicht mehr tragbar war. Zudem war ihr bekannt, dass die Jugendlichen nachts herumstreunten. Angesichts der Biographie der Jugendlichen, von der sich die Beklagte notfalls über die beteiligten Jugendämter hätte Kenntnis verschaffen müssen, wäre in diesem Fall ein sofortiges Einschreiten erforderlich geworden, um drohenden Schädigungen Dritter zu verhindern, zumindest durch Trennen der beiden Jugendlichen, gegebenenfalls aber auch dadurch, das diese aus der Außengruppe genommen wurden (wie es dann später nach dem Vorfall auch geschehen ist). Auch insofern vermag sich die Beklagte nicht dadurch zu entlasten, dass sie sich, wie mit Schriftsatz vom 06.11.2000 geschehen, “auf den langwierigen Verwaltungsweg” beruft. Das kann nicht zu Lasten geschädigter Bürger gehen.
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d)
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Das Gericht braucht nicht zu entscheiden, welche konkreten Maßnahmen letztlich erforderlich und ausreichend gewesen wären, um den Beklagten den Vorwurf der Verletzung der Aufsichtspflicht zu ersparen, insbesondere ob sie von vornherein die Aufnahme der Jugendlichen, oder zumindest deren Zusammenlegung hätte ablehnen bzw. verhindern müssen bzw. inwieweit durch zusätzliche Kontrollen, Belehrungen, ggf. auch sozialtherapeutische Maßnahmen und eine sofortige Trennung der Schadensfall hätte vermieden werden können. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtes verbindliche Richtlinien für die Aufnahme, Erziehung und Beaufsichtigung verhaltensauffälliger schwererziehbarer Jugendlicher aufzustellen. Vielmehr hat das Gericht lediglich zu entscheiden, ob die von der Beklagten konkret getroffenen Maßnahmen ausreichend waren. Dies war für den Streitfall aus den dargelegten Gründen zu verneinen, insbesondere im Hinblick darauf, dass die Beklagte selbst einräumt, dass die Außengruppe S. ein “normales” Kinder- und Jugendheim sei, dass heißt nicht bestimmt für schwererziehbare Jugendliche wie hier aufgenommen.
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e)
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Die Haftung der Beklagten nach § 832 Abs. 2 BGB ist schließlich auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre (§ 832 Abs. 1 Satz 2 BGB). Wie ausgeführt, kann dies nicht festgestellt werden. Insbesondere ist seitens der Beklagten nicht hinreichend dargetan, warum sie vorliegend nicht die Aufnahme der beiden verhaltensauffälligen Jugendlichen in ihre Außengruppe abgelehnt und diese später dann getrennt hat. Räumliche Unzulänglichkeiten können nicht zu Lasten Geschädigter gehen.
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Zumindest gehen insofern etwaige verbleibende Unklarheiten zu Lasten der Beklagten, die, wie ausgeführt, die volle Beweislast dafür trägt, dass sie die Aufsichtspflicht nicht verletzt hat bzw. der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre.
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2.
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Die Aktivlegitimation des Klägers steht aufgrund der Beweisaufnahme fest. Das Gericht hat dadurch die Überzeugung erlangt, dass tatsächlich der Kläger persönlich und nicht sein Sohn den Motorroller zu Eigentum erworben hat. Auch die Schadenshöhe ist hinreichend dargetan: Zum Wiederbeschaffungswert abzüglich des Restwertes liegt ein Privatgutachten vor (1.750,00 DM). Hinzu kommen die Kosten des Gutachtens (617,90 DM) und eine Unkostenpauschale von 50,00 DM (§ 287 ZPO).
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3.
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Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 269, 709 ZPO.

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