Zur Amtshaftung des Jugendhilfeträgers wegen unterbliebener Bereitstellung eines Betreuungsplatzes für ein anspruchsberechtigtes Kind

1. Die Anmeldung eines Betreuungsbedarfs setzt voraus, dass der Wille des Anspruchstellers bzw. seiner Eltern, den Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII geltend zu machen, hinreichend deutlich hervortritt.

2. Eine rechtzeitig bei der Gemeinde eingegangene Bedarfsanmeldung muss sich der Landkreis als Träger der öffentlichen Jugendhilfe entgegenhalten lassen, denn die Gemeinde ist verpflichtet, die Bedarfsanmeldung gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I unverzüglich an den Träger der öffentlichen Jugendhilfe weiterzuleiten, wobei Sinn und Zweck des § 16 SGB I gerade ist, das bedarfsanmeldende Elternteil davor zu bewahren, mit seinem Begehren an den Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der gegliederten Sozialverwaltung zu scheitern. Diesem Zweck würde eine Auslegung der Regelung nicht gerecht, die es der Gemeinde erlaubte, durch eine unterlassene Weiterleitung des Antrags die Leistungsgewährung zu vereiteln.

3. Der Nachweis eines Betreuungsplatzes erfordert ein aktives Handeln des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe im Sinne eines Vermittelns bzw. Verschaffens.

4. Neben dem konkret-individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes sind bei der Frage der Zumutbarkeit eines Betreuungsplatzes auch die Bedürfnisse seiner Erziehungsberechtigten zu berücksichtigen, wozu auch die Entfernung des Betreuungsplatzes zur Arbeitsstätte gehört.

5. Der in § 839 Abs. 3 BGB normierte Grundsatz der Vorrangigkeit des Primärrechtsschutzes führt nur dann zu einem Ausschluss der Ersatzpflicht, wenn die Bereitstellung eines zumutbaren Betreuungsplatzes durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe erwartet werden kann. Hieran fehlt es, wenn nicht absehbar ist, wann der Träger der öffentlichen Jugendhilfe seiner Bereitstellungs- und Nachweisverpflichtung genügen können wird.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Anschlussberufung der Klägerin wird das am 22.11.2019 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 23.171,11 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.7.2018 zu zahlen.

Der Beklagte wird weiter verurteilt, an die Klägerin 3.266,49 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 7.5.2019 zu zahlen.

Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits (erstinstanzliches Verfahren und Berufungsverfahren) hat der Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 115 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Gebührenstreitwert des Berufungsverfahrens wird auf 26.437,60 € festgesetzt.

Gründe
I.

1
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Schadensersatz wegen Amtspflichtverletzung in Anspruch, weil der Beklagte ihr im Zeitraum 1.3.2018 bis 13.11.2018 keinen Betreuungsplatz für ihren am XX.XX.2017 geborenen Sohn X zur Verfügung gestellt hat.

2
Hinsichtlich des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes und der erstinstanzlichen Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Bl. 189 ff. d. A.) Bezug genommen.

3
Mit am 22.11.2019 verkündetem Urteil (Bl. 189 ff. d. A.), dem Beklagten zugestellt am 29.11.2019, hat das Landgericht der Klage überwiegend stattgegeben. Der Klägerin stehe, so das Landgericht, ein Schadensersatzanspruch aus § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG gegen den Beklagten wegen Amtspflichtverletzung in Höhe von 18.633,38 € und weiteren 2.626,76 € zu. Gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII habe ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet habe, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahrs Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Die sich hieraus ergebende Amtspflicht des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe sicherzustellen, dass für jedes anspruchsberechtigte Kind, für das ein entsprechender Bedarf rechtzeitig angemeldet worden sei, ein Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt werde, habe der Beklagte verletzt, denn er habe einen Betreuungsplatz erst verspätet zur Verfügung gestellt. Der Beklagte habe allerdings von dem Betreuungsbedarf der Klägerin erst in einem zwischen dieser und einer Mitarbeiterin des Beklagten am 30.1.2018 geführten Telefongespräch erfahren. Die Klägerin habe nicht zur Überzeugung der Kammer beweisen können, dass der Beklagte bereits zuvor von dem Betreuungsbedarf gewusst habe. Da die Klägerin und ihr Ehemann beide in Vollzeit tätig seien, habe ein Anspruch auf Zurverfügungstellung eines Vollzeitbetreuungsplatzes bestanden. Der Beklagte sei seiner entsprechenden Amtspflicht nicht durch das Anbieten – sofern diese Plätze überhaupt angeboten worden und nicht nur frei gewesen seien – von Betreuungsplätzen bei den drei Tagesmüttern in Ort1, Ort2 und Ort3 nachgekommen. Denn diese drei Plätze seien wegen der Entfernung des Betreuungsortes zu dem Wohnort des Kindes unzumutbar gewesen. Das Verschulden des Beklagten werde im Wege des Anscheinsbeweises vermutet, weil der Beklagte als zuständiger Träger seiner unbedingten Gewährleistungspflicht, einen rechtzeitig beantragten Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen, nicht nachgekommen sei. Dem Beklagten sei es nicht gelungen, diesen Beweis des ersten Anscheins zu erschüttern.

4
Die Klägerin habe einen Verdienstausfallsschaden in Höhe von 23.171,11 € für den Zeitraum 1.3.2018 bis 13.11.2018 sowie wegen des geringeren Elterngeldes nach Geburt des zweiten Kindes in Höhe eines weiteren Betrags von 3.266,49 € darlegen und beweisen können. Nachdem die Klägerin eine substantiierte Berechnung vorgenommen und die Rechnung offengelegt habe, habe der Beklagte diese auch nicht mehr angegriffen. Der Anspruch der Klägerin sei jedoch wegen Mitverschuldens zu kürzen, denn dem Beklagten sei ab Kenntnis des Betreuungsbedarfs durch das Telefonat vom 30.1.2018 eine Bearbeitungsfrist von drei Monaten zuzubilligen. Dem Erziehungsberechtigten sei zuzumuten, den Betreuungsbedarf des Kindes so früh wie möglich anzumelden. Eine zu kurzfristige Mitteilung des Bedarfs könne den Amtshaftungsanspruch teilweise entfallen lassen, da der Erziehungsberechtigte in diesem Fall seiner Schadensminderungspflicht nicht nachgekommen sei. Da das Land Hessen keinen Gebrauch von der Möglichkeit der Festlegung einer Anmeldefrist durch Landesgesetz gemacht habe, erachte die Kammer eine Frist von drei Monaten entsprechend der landesgesetzlichen Regelung im Nachbarbundesland Bayern für angemessen, um dem Beklagten eine ausreichende Planung zu ermöglichen und die Interessen der Klägerin bzw. ihres Kindes ausreichend zu berücksichtigen. Unter Berücksichtigung der Anmeldefrist sei der Schadensersatzanspruch der Klägerin mithin entsprechend zu kürzen. Ein weiteres Mitverschulden aufgrund einer Schadensvertiefung der Klägerin und ein Entfallen der Haftung des Beklagten mangels Kausalität habe die Kammer nicht erkennen können. Insbesondere habe der Beklagte nicht vorgetragen, dass er dem Kind bei sofortiger Anmeldung einen zumutbaren Platz hätte zuweisen können.

5
Hiergegen hat der Beklagte am 17.12.2019 (Bl. 199 f. d. A.) Berufung eingelegt, die er am 27.1.2020 (Bl. 215 ff. d. A.) begründet hat. Er trägt im Wesentlichen vor:

6
Die Feststellung des Landgerichts, die der Klägerin nachgewiesenen Betreuungsplätze bei diversen Tagesmüttern in Ort1, Ort2 und Ort3 seien unzumutbar gewesen, sei unzutreffend. Die Ausführungen des Landgerichts hierzu seien widersprüchlich und stünden im klaren Gegensatz zur ganz herrschenden Rechtsprechung, die auf eine 30-Minuten-Grenze abstelle. Soweit das Landgericht eine Grenze bei einer Wegstrecke von 5 km ziehe, sei eine solche bei der Auswertung der übrigen Rechtsprechung nicht ersichtlich. Stelle man auf das allein zutreffende Kriterium des zeitlichen Aufwands zur Erreichung des Betreuungsplatzes ab, so seien jedenfalls die Plätze in Ort1 und Ort2 zumutbar gewesen. Es komme insofern nicht auf die Gesamtfahrstrecke an, die die Klägerin von zu Hause über die Betreuungsstelle bis zu ihrem Arbeitsplatz zurücklegen müsse, sondern alleine auf die Fahrtstrecke zwischen Wohnort und Betreuungsplatz, die die 30-Minuten-Grenze nicht überschreiten dürfe. Die Fahrt zum Arbeitsplatz sei „Sowieso-Zeit“, die in jedem Fall anfalle und somit keine Relevanz für die Frage der Zumutbarkeit des Betreuungsplatzes entfalten könne. Entscheidend sei ausschließlich die Mehrzeit, die dadurch anfalle, dass der Betreuungsplatz anzufahren sei. Mithin komme es auf den „Umweg“ an.

7
Ebenfalls unzutreffend sei die Auffassung des Landgerichts, dem Beklagten sei lediglich ein Zeitraum von drei Monaten als Bearbeitungsfrist zuzubilligen gewesen. Die Normierung einer kürzeren Frist als sechs Monate zur Bereitstellung eines Betreuungsplatzes verkenne, dass es der Mutter denknotwendig stets möglich und daher auch zumutbar sei, angesichts des frühzeitigen Wissens, wann das Kind voraussichtlich geboren werde, rechtzeitig beim zuständigen Träger der Jugendhilfe vorstellig zu werden. Letztlich bestätige das eigene Verhalten der Klägerin genau diese Argumentation, habe sie sich doch durchaus frühzeitig, wenn auch an der falschen Stelle, wegen eines Betreuungsplatzes gemeldet.

8
Das Landgericht habe überdies mit äußerst knappen Ausführungen fehlerhaft die Kausalität verneint. Die Klägerin habe nach eigenen Angaben im November 2017 sämtliche Planungen bereits abgeschlossen und die entsprechenden Anträge beim Arbeitsgeber gestellt. Diese Anträge seien positiv beschieden worden, womit diese Planung nicht mehr einseitig habe rückgängig gemacht werden können. Es werde bestritten, dass die Klägerin sich in ihrer Planung so frühzeitig habe festlegen müssen, wie sie es getan habe. Die Klägerin habe auch erstinstanzlich nicht vorgetragen, dass sie bei Nachweis eines zumutbaren Betreuungsplatzes in der Lage und bereit gewesen sei, ihre Planungen zu revidieren und unverzüglich zum Dienst zurückzukehren. Hierbei handele es sich schlicht und einfach um eine Spekulation des Landgerichts.

9
Die Klägerin habe es schließlich unterlassen, Primärrechtsschutz, insbesondere im verwaltungsrechtlichen Eilverfahren, in Anspruch zu nehmen. Es sei bereits erstinstanzlich vorgetragen worden, dass bei einem etwaigen Obsiegen der Klägerin im verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsverfahren ein Betreuungsplatz im Wege der Überbelegung zur Verfügung gestellt worden wäre. Es komme nicht darauf an, ob ein Betreuungsplatz zur Verfügung gestanden hätte, da dies erstens gar nicht in den gesetzlichen Aufgabenbereich des Beklagten falle und zweitens die Inanspruchnahme verwaltungsrechtlichen Eilrechtsschutzes von vorneherein nur Platz greife, wenn ein „regulärer Platz“ gerade nicht zur Verfügung stehe; dieser hätte ja erst im Wege der Überbelegung geschaffen werden müssen, wozu es denknotwendig erst gekommen wäre, hätte das Verwaltungsgericht entsprechend geurteilt. Da die Klägerin selbst vortrage, ihr habe ein Anspruch auf einen Betreuungsplatz zugestanden, hätte auch das angerufene Verwaltungsgericht so entscheiden müssen, womit § 839 Abs. 3 BGB einschlägig sei.

10
Der Beklagte beantragt,

11
die Klage unter Abänderung des am 22.11.2019 verkündeten und am 29.11.2019 zugestellten Urteils des Landgerichts Darmstadt zu Az. 2 O 351/18 abzuweisen.

12
Die Klägerin beantragt,

13
die Berufung zurückzuweisen.

14
weiterhin beantragt sie im Wege der Anschlussberufung,

15
das angefochtene Urteil insoweit abzuändern, als das Landgericht keine weiteren 5.177,43 € zugesprochen hat und der Klage insgesamt stattzugeben.

16
Zur Verteidigung des angefochtenen Urteils trägt die Klägerin vor, das Landgericht habe zutreffend festgestellt, dass die angebotenen Betreuungsplätze unzumutbar gewesen seien. Die Betreuungsplätze bei den Tagesmüttern in Ort1 und Ort3 seien der Klägerin überdies gar nicht angeboten worden. Das Landgericht sei mangels landesspezifischer Regelungen in Hessen auch zu Recht von einer Anmeldefrist von drei Monaten ausgegangen. Darüber hinaus habe es zutreffend die Kausalität der Amtspflichtverletzung des Beklagten für den Verdienstausfallschaden der Klägerin bejaht. Der Beklagte habe für den streitgegenständlichen Zeitraum keinen zumutbaren Betreuungsplatz nachweisen geschweige denn anbieten können, so dass es irrelevant sei, ob die Klägerin ihre Planungen geändert hätte, wenn ihr ein solcher Platz angeboten worden wäre.

17
Zur Begründung der Anschlussberufung führt die Klägerin aus, das Landgericht sei fälschlicherweise davon ausgegangen, dass für die Kenntnisnahme des Beklagten auf den 30.1.2018 abzustellen sei. Den Beklagten treffe als örtlich und sachlich zuständigen Träger der Öffentlichen Jugendhilfe eine die Planungsverantwortung umfassende Gesamtverantwortung, für einen entsprechenden Bedarf Betreuungsplätze zur Verfügung zu stellen. Der Beklagte unterliege insofern einer unbedingten Garantie- und Gewährleistungshaftung hinsichtlich der Bereitstellung eines bedarfsgerechten Angebots. Das Landesrecht sehe gerade nicht vor, dass eine Anmeldung des Betreuungsbedarfs sowohl bei der gemeindlichen Einrichtung als auch beim Träger der öffentlichen Jugendhilfe erfolgen müsse. Der Beklagte sei vielmehr aufgrund der unstreitig quartalsweise stattfindenden Sitzungen regelmäßig über den benötigten Bedarf an Betreuungsplätzen informiert. Hierzu sei er aufgrund der Regelung des § 30 HKJGB sogar verpflichtet. Sofern er dieser Verpflichtung nicht nachkomme, treffe ihn ein Organisationsverschulden.

18
Der Beklagte beantragt,

19
die Anschlussberufung der Klägerin zurückzuweisen.

20
Der Beklagte ist der Ansicht, die Anmeldung des Betreuungsbedarfs bei der Gemeinde Ort4 sei nicht ausreichend gewesen. Insbesondere ergebe sich dies nicht aus der Vorschrift des § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I. Diese Vorschrift habe keine drittschützende Wirkung und die kreisangehörigen Gemeinden seien im Übrigen auch keine Erfüllungsgehilfen des Beklagten. Auch wenn die Landkreise nach § 5 Abs. 1 HKJGB Träger der öffentlichen Jugendhilfe seien, hätten die Gemeinden gemäß § 30 HKJGB eigenverantwortlich dafür Sorge zu tragen, dass die von dem Beklagten im Rahmen der Bedarfsplanung für erforderlich erachteten Plätze vor Ort zur Verfügung stünden. Die gesetzliche Aufgabe des Beklagten liege ausschließlich darin, auf Basis der Daten, auf deren Zulieferung durch die Gemeinde er angewiesen sei, eine Bedarfsplanung zu erstellen, die den zu erwartenden Bedarf in der jeweiligen Gemeinde ermittele, diesen zu erwartenden Bedarf der Gemeinde bekannt zu geben und die Gemeinden dann anzuhalten, im Rahmen ihrer eigenen Verantwortung nach § 30 Abs. 2 HKJGB entsprechende Kapazitäten bereitzustellen. Der Landkreis bediene sich nicht der Gemeinden, um Betreuungseinrichtungen zu betreiben und Plätze zuzuweisen, dies sei ausschließlich Aufgabe der Gemeinde selbst. Hiernach fehle es angesichts der Regelung des § 30 Abs. 2 HKJGB sogar an der Passivlegitimation des Beklagten.

21
Der Beklagte vertritt die Auffassung, die derzeitige gesetzliche Regelung im HKJGB, die einerseits in § 5 HKJGB die Landkreise als Träger der öffentlichen Jugendhilfe bestimme während andererseits in § 30 Abs. 2 HKJGB ausschließlich den Gemeinden die Verantwortung für die Bereitstellung von Betreuungsplätzen zugewiesen werde, sei vor dem Hintergrund des Art. 137 HV verfassungswidrig. Es regt an, die Frage, ob § 5 Abs. 1 HKJGB wegen Verstoßes gegen 137 Abs. 1 HV verfassungswidrig sei, nach Art. 133 HV dem Hessischen Staatsgerichtshof zur Entscheidung vorzulegen.

22
Eine Wissenszurechnung zwischen Gemeinde und Beklagten gemäß § 166 BGB könne nicht erfolgen, denn es handele sich hier weder um Behörden noch um sonstige Einheiten, die demselben Rechtsträger zuzuordnen wären. Es handele sich vielmehr um voneinander unabhängige Gebietskörperschaften, wobei das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden sogar verfassungsrechtlich verankert sei. Die Zurechnung des Wissens einer Gebietskörperschaft zu einer anderen Gebietskörperschaft, die eine vollkommen andere Aufgabe wahrnehme, wäre eine Anwendung des § 166 BGB contra legem. Die Klägerin habe bei der Anmeldung des Betreuungsbedarfs bei der Gemeinde Ort4 auch nicht ausdrücklich und klar zu erkennen gegeben, dass sie bereit sei, in jedem Fall einen Betreuungsplatz im Rahmen dessen, was nach der Rechtsprechung zumutbar ist, zu akzeptieren.

23
Hinsichtlich des weiteren Vortrags der Parteien im Berufungsverfahren wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

24
1. Die form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung des Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Demgegenüber ist der zulässigen Anschlussberufung der Klägerin vollumfänglich stattzugeben.

25
Der Klägerin steht gegenüber dem Beklagten ein Anspruch gemäß § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG wegen Verletzung seiner Amtspflicht zur Erfüllung des Förderanspruchs aus § 24 Abs. 2 SGB VIII in Höhe von insgesamt 26.437,60 € nebst Zinsen zu.

26
a) Nach § 24 Abs. 2 SGB VIII hat ein Kind, welches das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres einen Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung (§ 22 Abs. Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) oder in Kindertagespflege (§ 22 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Hiermit korrespondiert die Amtspflicht des örtlich (§ 86 SGB VIII) und sachlich (§ 85 Abs. 1 SGB VIII) zuständigen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe (§ 3 Abs. 2 Satz 2, § 69 Abs. 1 SGB VIII) im Rahmen seiner die Planungsverantwortung umfassenden Gesamtverantwortung (§ 79 Abs. 1 und 2 Nr. 1, § 80 SGB VIII) sicherzustellen, dass für jedes anspruchsberechtigte Kind, für das ein entsprechender Bedarf rechtzeitig angemeldet worden ist (§ 24 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII), ein Betreuungsplatz zur Verfügung steht. Nach § 5 Abs. 1 HKJGB sind in Hessen die Landkreise, die kreisfreien Städte und die nach § 5 Abs. 2 HKJGB zu örtlichen Trägern bestimmten kreisangehörigen Gemeinden die örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Im Streitfall ist zuständiger Träger der öffentlichen Jugendhilfe mangels Bestimmung nach § 5 Abs. 2 HKJGB und angesichts des gewöhnlichen Aufenthalts der Klägerin und ihres Ehemannes in Ort4 der Beklagte.

27
Den Beklagten als Träger der öffentlichen Jugendhilfe trifft im Rahmen des § 24 Abs. 2 SGB VIII eine unbedingte Gewährleistungspflicht, unter den dort normierten Bedingungen einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen (BGH, Urt. v. 20.10.2016, III ZR 302/15, juris Rn. 17). Dies ergibt sich aus dem Zusammenspiel des in § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII geregelten Förderanspruchs mit der Vorschrift des § 79 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII, wonach der Träger der öffentlichen Jugendhilfe gewährleisten soll, dass zur Erfüllung der Aufgaben nach diesem Buch die erforderlichen und geeigneten Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen den verschiedenen Grundrichtungen der Erziehung entsprechend rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Im Ergebnis besteht hiernach eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe sicherzustellen, dass eine dem Bedarf entsprechende Anzahl von Betreuungsplätzen vorgehalten wird (BVerwG, Urt. v. 26.10.2017, 5 C 19/16, juris Rn. 30). Dies verkennt der Beklagte, wenn er meint, seine gesetzliche Aufgabe beschränke sich darauf, auf Basis der von der betreffenden Gemeinde zugelieferten Daten eine Bedarfsplanung zu erstellen und die Gemeinde sodann anzuhalten, im Rahmen ihrer eigenen Verantwortung nach § 30 Abs. 2 HKJGB entsprechende Kapazitäten bereitzustellen. Richtig ist zwar, dass die Gemeinden nach § 30 Abs. 1 Satz 1 HKJGB in Zusammenarbeit mit den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe den Bedarf an Betreuungsplätzen ermitteln und nach § 30 Abs. 2 Satz 1 HKJGB in eigener Verantwortung dafür Sorge tragen, dass die im Bedarfsplan vorgesehenen Plätze in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege zur Verfügung stehen. Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 HKJGB steht dies jedoch ausdrücklich unter dem Vorbehalt der Gesamtverantwortung des örtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, so dass eine Aufgabenübertragung auf die Gemeinden, insbesondere eine Übertragung der Pflicht zur Erfüllung eines Anspruches aus § 24 Abs. 2 SGB VIII, gerade nicht stattfindet (Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss v. 10.1.2017, 10 B 2923/16, juris Rn. 11). Die entsprechende Amtspflicht des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe besteht auch nicht etwa nur im Rahmen der vorhandenen, von den Gemeinden geschaffenen Kapazität, sondern dieser ist aufgrund seiner Gesamtverantwortung gehalten, eine ausreichende Anzahl von Betreuungsplätzen selbst zu schaffen oder durch geeignete Dritte bereitzustellen (BVerfG, Urt. v. 21.7.2015, 1 BvF 2/13, juris Rn. 43; BGH, Urt. v. 20.10.2016, III ZR 302/15, juris Rn. 18; BVerwG, Urt. v. 26.10.2017, 5 C 19/16, juris Rn. 35; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss v. 17.11.2015, 12 ZB 15.1191, juris Rn. 26). Konkret heißt dies, dass der Beklagte entweder einen Platz in einer eigenen Kindertageseinrichtung zuweisen oder in einer Einrichtung eines anderen (freien) Trägers bzw. einer kreisangehörigen Gemeinde oder in Kindertagespflege bei einer Tagespflegeperson nachweisen muss, die bereit ist, das Kind aufzunehmen (VGH München Beschluss v. 17.11.2015, juris Rn. 19). An der Passivlegitimation des Beklagten kann im Streitfall mithin kein Zweifel bestehen.

28
Soweit der Beklagte in diesem Zusammenhang anregt, das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 133 HV i.V.m. § 41 Abs. 1 StHG dem Staatsgerichtshof zur Entscheidung vorzulegen, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Eine Vorlageverfahren ist durchzuführen, wenn ein Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass ein Gesetz gegen die Hessische Verfassung verstößt und es für die Entscheidung auf diesen Verstoß ankommt. Voraussetzung ist demnach – wie auch bei der Richtervorlage zum Bundesverfassungsgericht gem. Art. 100 Abs. 1 GG – die volle Überzeugung des Gerichts von der Verfassungswidrigkeit der geprüften Norm. Im Streitfall vermag der Senat jedoch nicht im Ansatz zu erkennen, dass die vorstehend beschriebene Aufgabenzuweisung an den Beklagten in § 5 Abs. 1 HKJGB in das durch Art. 137 HV geschützte Recht der kommunalen Selbstverwaltung eingreift. Konkrete Argumente hierfür hat der Beklagte auch nicht vorgetragen.

29
b) Der Beklagte hat seine Amtspflicht zur Erfüllung des Förderanspruchs aus § 24 Abs. 2 SGB VIII verletzt, denn er hat dem Sohn der Klägerin trotz rechtzeitiger Anmeldung des Bedarfs zum Ablauf seines ersten Lebensjahres keinen zumutbaren Betreuungsplatz zur Verfügung gestellt.

30
aa) Entgegen der vom Landgericht vertretenen Rechtsansicht ist vorliegend von einer rechtzeitigen Bedarfsanmeldung durch die Klägerin auszugehen. Maßgeblich hierfür ist nämlich bereits die schriftliche Anmeldung des Betreuungsbedarfs durch die Klägerin bei der Gemeinde Ort4 vom 25.3.2017 (Anlage K 2, Anlagenband), die unmittelbar nach der Geburt des Sohnes der Klägerin und mithin rund ein Jahr vor dem Entstehen des Betreuungsbedarfs erfolgt ist.

31
Eine Bedarfsanmeldung setzt voraus, dass der Wille des Anspruchstellers bzw. seiner Eltern, den Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII geltend zu machen, hinreichend deutlich hervortritt (VGH München Beschl. v. 17.11.2015 – 12 ZB 15.1703, juris Rn. 23 ff.) Insbesondere genügt die bloße Anmeldung bei einer Wunscheinrichtung nicht, sofern der Leistungsberechtigte nicht deutlich macht, dass der Bedarf nicht nur für diese Einrichtung, sondern allgemein angemeldet wird (BeckOGK/Etzold, 1.3.2021, SGB VIII § 24 Rn. 96). Die Anmeldung des Betreuungsbedarfs ist dabei einem Antrag auf Gewährung einer Sozialleistung im Sinne des § 16 Abs. 1 Satz 1 SGB I gleichzustellen (Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urt. v. 14.3.2017, 4 A 280/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 4.7.2018, M 18 K 17.324, juris Rn. 37; VG Mainz, Urt. v. 9.3.2020, 1 L 76/20.MZ, juris Rn. 10). Es handelt sich mithin um eine einseitige, empfangsbedürftige, öffentlich-rechtliche Willenserklärung (vgl. KassKomm/Spellbrink, Stand Dezember 2020, SGB I § 16 Rn. 8), die als solche speziellen Auslegungsregeln, insbesondere dem Grundsatz der Meistbegünstigung, unterliegt (vgl. BSG, Urt. v. 6.5.2010, B 14 AS 3/09 R, juris Rn. 14). Danach ist, sofern eine ausdrückliche Beschränkung auf eine bestimmte Leistung nicht vorliegt, davon auszugehen, dass der Antragsteller alle nach der Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommenden Leistungen begehrt, unabhängig davon, welchen Antragsvordruck er hierfür benutzt oder welche Formulierung er selbst gewählt hat (KassKomm/Spellbrink, Dezember 2020, SGB I § 16 Rn. 32).

32
Bei Anlegung dieses Maßstabs ist die Anmeldung des Betreuungsbedarfs durch die Klägerin bei der Gemeinde Ort4 vom 25.3.2017 dahingehend auszulegen, dass hier nicht nur die Aufnahme in eine bestimmte Einrichtung der Gemeinde Ort4 begehrt, sondern der Rechtanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII geltend gemacht wird. Aus der Anmeldung gehen die erforderlichen Daten, insbesondere das Geburtsdatum des Sohnes der Klägerin und der Umstand, dass beide Eltern in Vollzeit berufstätig sind, hervor. Im Hinblick auf die gewünschten Betreuungseinrichtungen hat die Klägerin in der Anmeldung nicht nur alle vorhandenen Kinderbetreuungseinrichtungen der Gemeinde angekreuzt, sondern auch noch unter dem Punkt „Zeitpunkt der Aufnahme“ bei dem Unterpunkt „Ab erstem Lebensjahr“ die Rubrik „Kindertagespflege“. Sie hat hier ferner mitgeteilt, dass sie ihren Sohn auch noch in der „Kath. Kita“ angemeldet hat. Außerdem hat sich die Klägerin in der Anmeldung damit einverstanden erklärt, dass die angegebenen Daten im Zuge der Bedarfs- und Jugendhilfeplanung verwendet werden. Damit tritt – zumal bei der gebotenen großzügigen Auslegung – ohne jeden Zweifel hinreichend deutlich hervor, dass die Klägerin einen umfassenden Betreuungsbedarf geltend macht, der auch einen Betreuungsplatz bei einem freien oder privaten Träger einschließt und im Hinblick auf den Rechtsanspruch aus § 24 Abs. 2 SGB VIII bislang unerfüllt geblieben ist.

33
Dass die Bedarfsanmeldung bei der Gemeinde Ort4 und nicht beim Beklagten als Träger der öffentlichen Jugendhilfe erfolgt ist, spielt dabei im Ergebnis keine Rolle. Denn die Gemeinde Ort4 wäre verpflichtet gewesen, die Bedarfsanmeldung der Klägerin vom 25.3.2017 gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I unverzüglich an den Beklagten als zuständigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe weiterzuleiten. Unerheblich ist, ob diese Weiterleitung tatsächlich erfolgt ist, denn der Senat schließt sich insofern der zu § 24 SGB VIII ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung an, wonach Sinn und Zweck des § 16 SGB I gerade ist, das bedarfsanmeldende Elternteil davor zu bewahren, mit seinem Begehren an den Zuständigkeitsabgrenzungen innerhalb der gegliederten Sozialverwaltung zu scheitern. Diesem Zweck würde eine Auslegung der Regelung nicht gerecht, die es der Stelle, bei der der Antrag gestellt wurde, erlaubte, durch eine unterlassene Weiterleitung des Antrags die Leistungsgewährung zu vereiteln (vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urt. v. 14.3.2017, 4 A 280/16, juris Rn. 36; VG München, Urt. v. 4.7.2018, M 18 K 17.324, juris Rn. 37; VG Mainz, Urt. v. 9.3.2020, 1 L 76/20.MZ, juris Rn. 10; s. auch BSG, Urt. v. 26.8.2008, B 8/9b SO 18/07 R, juris Rn. 22). Diese Intention des Gesetzgebers wird nicht zuletzt in § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I deutlich, wonach bei antragsabhängigen Sozialleistungen der Antrag als in dem Zeitpunkt gestellt gilt, in dem er bei einer der in § 16 Abs. 2 Satz 1 genannten Stellen – darunter die für die Sozialleistung nicht zuständige Gemeinde – eingegangen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gilt dies im Übrigen auch für Leistungen, die nicht im engeren Sinne antragsabhängig sind, sondern bei der die Kenntnis des Leistungsträgers von den anspruchsauslösenden Umständen genügt (BVerwG, Urt. v. 18.5.1995, 5 C 1/93, juris Rn. 22) . Damit muss sich der Beklagte die Bedarfsanmeldung bei der Gemeinde Ort4 entgegenhalten lassen.

34
Ohne dass es hierauf noch ankäme, spricht vorliegend einiges dafür, dass sich das vorstehende Ergebnis auch mit den Grundsätzen der Wissenszurechnung entsprechend § 166 BGB rechtfertigen ließe, die auch im öffentlichen Recht gelten (vgl. dazu MüKoBGB/Schubert, 8. A. 2018, § 166 Rn. 48, 75 ff.). Zwar findet grundsätzlich zwischen verschiedenen Behörden desselben oder eines anderen Rechtsträgers keine Wissenszurechnung nach dem Rechtsgedanken des § 166 BGB statt. Aus Respekt vor der gesetzlichen Zuständigkeitsordnung hat die Beurteilung behördlichen Handelns vielmehr regelmäßig nur auf das bei der zuständigen Behörde vorhandene Wissen abzustellen (stRspr; vgl. BGH, Urt. v. 4.2.1997, VI ZR 306/95, juris Rn. 14 ff., Urt. v. 30.6.2011, IX ZR 155/08, juris Rn. 16 ff.; BSG, Urt. v. 17.4.2008, B 13 R 123/07 R, juris Rn. 20; BVerwG, Urt. v. 12.3.2015, 3 C 6/14, juris Rn. 16 f.). Hiervon sind allerdings Ausnahmen anerkannt, nach denen in Anwendung vorrangiger Rechtsgrundsätze eine Wissenszurechnung auch zwischen verschiedenen Behörden desselben oder eines anderen Rechtsträgers geboten ist. So muss etwa eine Behörde, die eine andere mit der Erledigung ihrer Angelegenheiten in eigener Verantwortung betraut, sich das Wissen zurechnen lassen, das die ausführende Behörde in diesem Rahmen erlangt (BGH, Beschluss v. 14.2.2013, IX ZR 115/12, juris Rn. 4 ff.; Urt. v. 25.6.1996, VI ZR 117/95, juris Rn. 26 ff.; Urt. v. 4.2.1997, VI ZR 306/95, juris Rn. 17). Eine Zurechnung kann auch aus Gründen des Verkehrsschutzes geboten sein, wenn etwa der Beteiligte eines Verwaltungsverfahrens berechtigterweise darauf vertrauen darf, dass das von einem Bediensteten erlangte Wissen in einer Verwaltungseinheit übergreifend verfügbar ist. Die Risiken einer Wissensaufteilung hat dabei derjenige zu tragen, der sie veranlasst hat und durch zweckmäßige Organisation beherrschen kann (vgl. BGH, Urt. v. 2.2.1996, V ZR 239/94, juris 20 f.). Beide Gesichtspunkte kommen vorliegend angesichts der in § 30 HKJGB festgelegten ineinandergreifenden Aufgabenverteilung hinsichtlich der Zurverfügungstellung von Betreuungsplätzen unter der Gesamtverantwortung des Beklagten durchaus in Betracht. Es ist auch davon auszugehen, dass der Beklagte die hierdurch hervorgerufene Wissensaufteilung durch zweckmäßige Organisation beherrschen kann. Das Wissen hinsichtlich des Betreuungsbedarfs der Klägerin lag aufgrund der Bedarfsanmeldung bei der Gemeinde Ort4 unzweifelhaft vor.

35
bb) Trotz der hiernach rechtzeitigen Bedarfsanmeldung hat der Beklagte der Klägerin keinen zumutbaren Betreuungsplatz für ihren Sohn zur Verfügung gestellt bzw. nachgewiesen. Der Nachweis eines Angebotes zur frühkindlichen Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege genügt den Anforderungen des § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII nämlich nur, wenn es dem konkret-individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes und seiner Erziehungsberechtigten insbesondere in zeitlicher und räumlicher Hinsicht entspricht (BVerwG, Urt. v. 26.10.2017, 5 C 19/16, juris Rn. 41), was vorliegend nicht der Fall war.

36
Die Plätze bei den Tagespflegepersonen in Ort1 und Ort3 sind der Klägerin ausweislich des Schreibens des Beklagten vom 15.5.2018 (Anlage K 14, Bl. 133 d. A.) schon nicht nachgewiesen worden. Das Schreiben weist nämlich lediglich darauf hin, dass Plätze bei Tagespflegepersonen in Ort1 bzw. Ort3 „vorhanden“ gewesen seien, von denen die Klägerin „durch Kontaktaufnahme mit der dortigen Vermittlungsstelle [hätte] Kenntnis erlangen können“. Der Nachweis eines Betreuungsplatzes erfordert jedoch ein aktives Handeln des Beklagten im Sinne eines Vermittelns bzw. Verschaffens (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.10.2017, 5 C 19/16, juris Rn. 28; VG München, Beschluss v. 16.6.2020, M 18 E 20.1940, juris Rn. 28), das damit schon nach dem eigenen Vortrag des Beklagten nicht vorlag.

37
Hinsichtlich des Betreuungsplatzes in Ort2 ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die räumliche Entfernung angesichts einer Fahrzeit vom Wohnort bis zum Betreuungsplatz von rund 30 Minuten und einer Gesamtfahrzeit für eine Strecke vom Wohnort über den Betreuungsplatz bis zur Arbeitsstelle der Klägerin von rund 56 Minuten, wobei der Zeitansatz in beiden Fällen die erhebliche Verkehrsbelastung dieser Strecke in den üblichen Bring- und Abholzeiten noch nicht einmal berücksichtigt, als unzumutbar zu bewerten ist. Soweit der Beklagte meint, die Lage der Arbeitsstelle der Klägerin müsse bei der Bewertung außer Betracht bleiben, vermag sich der Senat dieser Ansicht nicht anzuschließen. Vielmehr entspricht es der ganz herrschenden Rechtsprechung, neben dem konkret-individuellen Bedarf des anspruchsberechtigten Kindes auch den seiner Erziehungsberechtigten in den Blick zu nehmen, wozu auch die Entfernung des Betreuungsplatzes zur Arbeitsstätte gehört (so etwa BVerwG, Urt. v. 26.10.2017, 5 C 19/16, juris Rn. 41 ff.; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 4.2.2020, 3 MB 38/19, juris Rn. 3; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 8.12.2016, 12 S 1782/15, juris Rn. 42). Dabei kann im Streitfall dahingestellt bleiben, in welchem Umfang die Fahrtzeit zum Arbeitsplatz zu berücksichtigten ist, denn die – auch vom Beklagten nicht grundsätzlich in Frage gestellte – Zumutbarkeitsgrenze von 30 Minuten als grober Richtwert (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 8.12.2016, 12 S 1782/15, juris Rn. 42; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 22.3.2018, 6 S 2.18, juris Rn. 18; Sächsisches OVG, Beschluss v. 28.3.2018, 4 B 40/18, juris Rn. 10; VG München, Urt. v. 13.7.2016, M 18 K 14.3284, juris Rn. 48) wird bereits bei Berücksichtigung der Verkehrsbelastung der in Rede stehenden Strecke in den üblichen Bring- und Abholzeiten und erst recht bei (anteiliger) Einbeziehung der Fahrtzeit zum Arbeitsplatz deutlich überschritten. Bei Überschreitung des Richtwerts wird im Regelfall die Unzumutbarkeit indiziert, wobei stets alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 14.11.2017, 6 S 43.17, juris Rn. 5). Umstände, die dafürsprechen, dass der Betreuungsplatz in Ort2 trotz Überschreitung des Richtwerts ausnahmsweise als zumutbar zu bewerten ist, sind für den Senat indes nicht ersichtlich.

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c) Die Klägerin gehört als personensorgeberechtigte Mutter auch zu dem Personenkreis, dessen Interessen durch die mit § 24 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII korrespondierende Amtspflicht, dem Kind bei rechtzeitiger Bedarfsanmeldung ab Vollendung des ersten Lebensjahres einen Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen, (mit) geschützt werden soll (BGH, Urt. v. 20.10.2016, III ZR 302/15, juris Rn. 24 ff.).

39
d) Dem Beklagten ist eine schuldhafte Amtspflichtverletzung anzulasten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der sich der Senat vollumfänglich anschließt, genügt für den grundsätzlich dem Geschädigten obliegenden Nachweis des Verschuldens des Amtsträgers der Beweis eines Sachverhalts, der nach dem regelmäßigen Ablauf der Dinge die Folgerung begründet, dass ein Beamter seine Amtspflicht schuldhaft verletzt hat. Auf dieser Grundlage besteht zugunsten des Geschädigten in Bezug auf das Verschulden des Amtsträgers ein Beweis des ersten Anscheins. Ein solcher Sachverhalt liegt vor, wenn der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe seiner unbedingten Gewährleistungspflicht, einen rechtzeitig beantragten Betreuungsplatz zur Verfügung zu stellen, nicht nachkommt (BGH, Urteil v. 20.10.2016, III ZR 302/15, juris Rn. 39 ff.). Der Beklagte hat, wie das Landgericht in jeder Hinsicht zutreffend festgestellt hat, keinen Vortrag gehalten, der geeignet, wäre, den gegen ihn streitenden Anscheinsbeweis zu erschüttern

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40
e) Eine Haftung des Beklagten ist auch nicht etwa nach § 839 Abs. 3 BGB ausgeschlossen, weil die Klägerin schuldhaft unterlassen hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden. Sinn und Zweck der Regelung des § 839 Abs. 3 BGB ist es, den Betroffenen dazu anzuhalten, in erster Linie Primärrechtsschutz in Anspruch zu nehmen, soweit ihm dies möglich und zumutbar ist, und damit den Schaden möglichst gering zu halten (Palandt/Sprau, BGB, 80. A. 2021, § 839 Rn. 68). Rechtsmittel im Sinne des § 839 Abs. 3 BGB sind dabei alle Rechtsbehelfe im weitesten Sinn, die sich unmittelbar gegen ein bereits erfolgtes, sich als Amtspflichtverletzung darstellendes Verhalten eines Amtsträgers richten und darauf abzielen und geeignet sind, einen Schaden dadurch abzuwenden oder zu mindern, dass dieses schädigende Verhalten beseitigt oder berichtigt wird (BGH, Urt. v. 8.1.2004, III ZR 39/03, juris Rn. 16). Entgegen der Ansicht des Beklagten trifft die Darlegungs- und Beweislast für ein Eingreifen des Haftungsausschlusses des § 839 Abs. 3 BGB den Ersatzpflichtigen (BGH, Urt. v. 11.3.2010, III ZR 124/09, NJW-RR 2010, 1465; MüKo/Papier/Shirvani, BGB, 8. A. 2020, § 839 Rn. 393; Palandt/Sprau, BGB, 80. A. 2021, § 839 Rn. 85).

41
Im Streitfall fehlt es bereits an hinreichend substantiiertem Vortrag des Beklagten, dass der Schaden durch ein Rechtsmittel der Klägerin hätte beseitigt werden können. Insbesondere hat der Beklagte nicht dargelegt, dass ein zumutbarer Betreuungsplatz für den Sohn der Klägerin im fraglichen Zeitraum überhaupt vorhanden war. Soweit der Beklagte im Berufungsverfahren vorgetragen hat, wenn die Klägerin im Wege des Eilrechtsschutzes gegen ihn vorgegangen wäre, hätte er einen Überhangplatz geschaffen und der Klägerin zur Verfügung gestellt, ist dieser Vortrag neu im Sinne des § 531 Abs. 2 ZPO, ohne dass Zulassungsgründe hierfür ersichtlich wären. Darüber hinaus hat die Klägerin diese Behauptung in der mündlichen Verhandlung über die Berufung vom 19.3.2021 substantiiert bestritten, ohne dass der Beklagte ihn unter Beweis gestellt hätte.

42
Dass die Inanspruchnahme von Eilrechtsschutz der Klägerin vor diesem Hintergrund zumutbar gewesen wäre, ist ebenfalls nicht erkennbar. Der Grundsatz der Vorrangigkeit des Primärrechtsschutzes kommt in Fällen wie dem vorliegenden nur dann zum Tragen, wenn Abhilfe durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe tatsächlich erwartet werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.9.2013, 5 C 35/12, juris Rn. 52). Daran fehlt es, wenn – wie hier – nicht absehbar war, wann der Träger seiner Bereitstellungs- und Nachweisverpflichtung würde genügen können (BVerwG, Urt. v. 12.9.2013, 5 C 35/12, juris Rn. 52; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss v. 17.11.2015, 12 ZB 15.1191, juris Rn. 37). Eine Verpflichtung, ein offensichtlich aussichtsloses Rechtsmittel einzulegen, ist der Rechtsordnung fremd (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss v. 17.11.2015, 12 ZB 15.1191, juris Rn. 37).

43
f) Der Klägerin ist durch die Amtspflichtverletzung des Beklagten ein Verdienstausfallschaden entstanden. Da die Klägerin ihren Betreuungsbedarf nach den vorstehenden Ausführungen bereits durch das Schreiben an die Gemeinde Ort4 vom 25.3.2017 angemeldet hat und ihr bis November 2017 kein zumutbarer Betreuungsplatz für den begehrten Zeitraum zur Verfügung gestellt worden ist, ist die weitere Inanspruchnahme von Elternzeit aufgrund des Antrags vom 15.11.2017 (Anlage K3a, Anlagenband) kausal auf die Amtspflichtverletzung des Beklagten zurückzuführen.

44
g) Der von der Klägerin geltend gemachte Verdienstausfallschaden wird vom Schutzbereich der verletzten Amtspflicht umfasst (BGH, Urt. v. 20.10.2016, III ZR 302/15, juris Rn. 33). Der Höhe nach steht der Klägerin als Verdienstausfallschaden ein Betrag von 23.171,11 € und – wegen des geringeren Elterngeldes nach der Geburt des zweiten Kindes – ein Betrag von 3.326,48 € zu. Insofern nimmt der Senat Bezug auf die in jeder Hinsicht zutreffenden und von der Berufung nicht angegriffenen Ausführungen zur Höhe des Verdienstausfallschadens im angefochtenen Urteil (Bl. 208 f. d. A.).

45
h) Der Zinsanspruch hinsichtlich der Forderung in Höhe von 23.171,11 € beruht auf §§ 286, 288 Abs. 1 BGB. Der Beklagte hat die Forderung mit Schreiben vom 10.7.2018 (Anlage K 8, Anlagenband) endgültig zurückgewiesen. Der Zinsanspruch hinsichtlich der Forderung in Höhe von 3.266,49 € ergibt sich aus §§ 291 Satz 1, 288 Abs. 1 BGB.

46
2. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.

47
3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 709 Satz 2 ZPO.

48
4. Eine Zulassung der Revision ist nicht veranlasst, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).

49
5. Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach §§ 47 GKG, 3 ZPO.

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