Zum Umfang der gerichtlichen Hinweispflicht im Zivilverfahren

Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 11.12.2013 – 11 U 172/12

Der Rchter hat nach dem Willen des Gesetzgebers auch im allgemeinen Zivilprozess, wo der Beibringungsgrundsatz gilt, nicht allein die Aufgabe eines rein passiven Beobachters und distanzierten Entscheiders hat, sondern soll aktiv zur Klärung der Sach- und Rechtslage beitragen (Rn.21).

Dem voragenannten Grundsatz kommt der Richter nicht nach, wenn der unterschiedlichen Positionierung beider Seiten in den vorbereitenden anwaltlichen Schriftsätzen lediglich zusieht und erst im instanzabschließenden Urteil seine eigene Auffassung offenbart (Rn.22).

Der Richter muß grundsätzlich auch eine anwaltlich vertretene Partei auf Bedenken gegen die Zulässigkeit oder die Schlüssigkeit der Klage hinweisen; das gilt jedenfalls dann, wenn der Anwalt die Rechtslage falsch beurteilt oder  ersichtlich darauf vertraut, sein schriftsätzliches Vorbringen sei ausreichend (Rn.23).

Tenor

I. Auf die Berufung des Klägers wird das am 05. September 2012 verkündete Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) – 14 O 352/11 – einschließlich des zugrunde liegenden Verfahrens aufgehoben.

II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens – an die Eingangsinstanz zurückverwiesen.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
1

Der 1971 geborene Kläger, von Beruf Kfz-Mechaniker-Meister und zuletzt als Werkstattleiter und Kundendienstberater bei einem B… Autohaus angestellt, nimmt die Beklagte, einen Lebensversicherer, aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZ), die gemäß Versicherungsschein vom 20. November 2007 (Kopie Anlage K1/GA I 18) für die Zeit vom 01. Dezember 2007 bis zum 01. Dezember 2033 zu den Bedingungen für die R… Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung – Version 1D14 – (Kopie Anlage K2/GA I 28 ff. und II 362 ff.), im Folgenden zitiert als R…-BUZ, zwischen den Prozessparteien abgeschlossen wurde, auf Rentenzahlung und Beitragsfreistellung in Anspruch. Im Mittelpunkt des Streits beider Seiten stehen die Fragen, ob der Kläger infolge Erkrankung an Morbus Crohn, einer chronisch-granulomatösen Entzündung des Verdauungstrakts, bedingungsgemäß berufsunfähig ist und ob die Beklagte befugt war, die Vertragsbedingungen wegen einer vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung nach § 19 Abs. 4 Satz 2 VVG n.F. mit Schreiben vom 27. Mai 2011 (Kopie Anlage K9/GA I 72 f.) rückwirkend durch eine Ausschlussklausel anzupassen. Zur näheren Darstellung des Sachverhalts wird gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
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Vom Landgericht Frankfurt (Oder), das als Vorinstanz entschieden hat, wurde die Klage (nach Durchführung des schriftlichen Vorverfahrens) im dem zur Güteverhandlung und zur unmittelbar anschließenden mündlichen Verhandlung bestimmten Termin – ohne persönliche Anhörung des anwesenden Klägers und ohne Protokollierung richterlicher Hinweise – am Schluss der Sitzung mit der Begründung abgewiesen, der Anspruchsteller habe den Eintritt des Versicherungsfalles nicht gehörig dargetan, weil es an einer hinreichend detaillierten Beschreibung der zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten Tätigkeit fehle, weshalb sich eine Einschränkung seiner Berufsfähigkeit im Umfange von mindestens 50 % nicht feststellen lasse. Wegen der Einzelheiten wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen (LGU 9 ff.). Dieses ist dem Kläger – zu Händen seiner erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten – laut deren Empfangsbekenntnis am 13. September 2012 (GA I 193) zugestellt worden. Er hat am 19. September 2012 (GA II 198) mit anwaltlichem Schriftsatz Berufung eingelegt und sein Rechtsmittel – nach am 12. November 2012 (GA II 208) beantragter und bis zum 12. Dezember 2012 (GA II 210) gewährter Verlängerung der Begründungsfrist – mit einem an diesem Tag beim Brandenburgischen Oberlandesgericht per Fax eingegangenen Anwaltsschriftsatz begründet (GA II 211 ff.).

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Der Kläger ficht das landgerichtliche Urteil – im Kern seine bisherigen Darlegungen wiederholend und vertiefend – in vollem Umfange seiner Beschwer an. Dazu trägt er speziell Folgendes vor:

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Rechtsfehlerhaft habe die Eingangsinstanz angenommen, es fehle an hinreichender Darlegung bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit. Nach den besonderen einzelvertraglichen Vereinbarungen genüge es, wenn die versicherte Person zu 50 % außer Stande sei, ihren Beruf auszuüben. Das Klagevorbringen entspreche den Anforderungen, die nach der höchstrichterlichen Judikatur an eine konkrete Arbeitsbeschreibung mit einer für Außenstehende nachvollziehbaren Darstellung der regelmäßig anfallenden Tätigkeiten nach Art, Umfang und Häufigkeit zu stellen seien; berücksichtigt werden müssten in diesem Zusammenhang auch die Angaben im Leistungsantrag vom 07. Februar 2011 (Kopie Anlage K7/GA I 59 ff.) und im Arztbericht vom 03. Mai 2011 (Kopie Anlage K8/GA I 65 ff.). Die Schilderungen seien hinreichend detailliert und bezögen sich konkret auf seine – des Klägers – berufliche Tätigkeit in gesunden Tagen. Sofern sich für das Landgericht Widersprüche oder Unklarheiten ergeben hätten, sei es verpflichtet gewesen, spätestens im Termin der mündlichen Verhandlung gemäß § 139 ZPO darauf hinzuweisen und ihn, den Kläger, persönlich anzuhören. Die einzelnen Tätigkeitsbereiche, zu denen sich der behandelnde Arzt DM R. S… auf Seite 8 seines Berichts (Kopie Anlage K8/GA I 65, 70) geäußert habe, seien von der Beklagten vorgegeben worden. In der vorprozessualen Korrespondenz habe allein die ihm – dem Kläger – angelastete Obliegenheitsverletzung eine Rolle gespielt. Aus der Gesamtschau aller Umstände lasse sich ohne Weiteres ersehen, dass die schweren Tätigkeiten mit stressbedingten und feinmotorischen Anforderungen, die seinem Beruf das Gepräge gäben, von ihm nicht mehr ausgeübt werden könnten. Da seine Erkrankung in Schüben progredient verlaufe, könne er an mindestens fünf Tagen monatlich nicht einmal einfachste Hausarbeiten oder Einkäufe erledigen. Seine Tätigkeit als Kfz-Mechaniker-Meister sei trotz Verwendung technischer Hilfsmittel körperlich anstrengend. Die Zivilkammer hätte in die Beweisaufnahme eintreten müssen; tauglicher Zeugen- und Sachverständigenbeweis sei angeboten worden. Das verkündete Urteil stelle sich deshalb als Überraschungsentscheidung dar. Hätte die Eingangsinstanz die – ausgehend von ihrer Rechtsansicht – gebotenen Hinweise erteilt, wäre weiterer Sachvortrag erfolgt, wie es nunmehr in den Anlagen K14 (GA II 262 ff.) und K14a (GA II 332 ff.) geschehen sei.

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Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil

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a) abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm – dem Kläger –
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aa) € 11.250,00 zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus je € 750,00 ab 01.09.2010, 01.10.2010, 01.11.2010, 01. 12.2010, 01.01.2011, 01.02.2011, 01.03.2011, 01.04.2011, 01.05.2011, 01.06.2011, 01.07.2011, 01.08.2011, 01.09.2011, 01.10.2011 und 01.11.2011,
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ab) € 1.875,00 zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit,
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ac) ab 01.12.2011 bis längstens 01.12.2033
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(1) eine Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von jährlich € 9.000,00 zu zahlen, zahlbar in monatlichen Teilbeträgen von je € 750,00 im Voraus,
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(2) Beitragsbefreiung in Höhe der monatlichen Versicherungsprämie von € 125,00 zu gewähren,
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ad) € 2.170,56 zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit;
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b) hilfsweise aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Sie verteidigt – ihre erstinstanzlichen Darlegungen im Kern ebenfalls wiederholend und vertiefend – das ihr günstige Urteil des Landgerichts. Dazu trägt sie insbesondere Folgendes vor:

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Die nur grobe Schilderung des Tagesablaufs in der Klageschrift ohne Angabe von konkreten Beeinträchtigungen habe den Anforderungen an die Darlegung des Eintritts des Versicherungsfalles nicht genügt. Mit seinem ergänzenden – ohnedies nach wie vor unstimmigen – Vorbringen in der Berufungsinstanz sei der Kläger präkludiert. Die Voraussetzungen für die Vernehmung von Zeugen und die Einholung eines Sachverständigengutachtens hätten – mangels ausreichender Anknüpfungstatsachen – nicht vorgelegen. Als Überraschungsentscheidung stelle sich das landgerichtliche Urteil keinesfalls dar. Ob eine Prozesspartei persönlich angehört werde, stehe allein im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Eines richterlichen Hinweises bedürfe es nicht, wenn die jeweilige Partei – wie hier mit dem Beklagtenvorbringen geschehen – schon von anderer Seite auf die Mängel ihres Vorbringens aufmerksam gemacht worden sei. Angesichts dessen habe die Zivilkammer annehmen dürfen, dass der hiesige Kläger keine weiteren Nachbesserungen mehr vornehmen wolle. Einen eigenen Vergleichsvorschlag habe das Landgericht den Parteien nicht unterbreiten müssen.

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Im Termin der mündlichen Verhandlung zweiter Instanz wurde die Sach- und Rechtslage mit den Prozessbevollmächtigten beider Seiten eingehend erörtert; dabei hat der Senat – im Rahmen von § 139 ZPO – auf alle entscheidungserheblichen Aspekte hingewiesen. Ein Vergleichsvorschlag, der den Prozessparteien durch Beschluss vom 30. Oktober 2013 (GA II 376 ff.) unterbreitet wurde, hat keine beiderseitige Zustimmung gefunden. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie der bisherigen Prozessgeschichte wird ergänzend auf die anwaltlichen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, auf sämtliche Terminsprotokolle und auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen.

II.

A.
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Das klägerische Rechtsmittel ist an sich statthaft und auch im Übrigen zulässig; es wurde insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 517 ff. ZPO). In der Sache selbst hat es – zumindest vorläufig – Erfolg. Es führt gemäß § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils (einschließlich des diesem zugrunde liegenden Verfahrens) und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht Frankfurt (Oder). Denn das Verfahren des ersten Rechtszuges leidet an einem wesentlichen – entscheidungsrelevanten (vgl. dazu Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 34. Aufl., § 538 Rdn. 9; ferner Saenger/Wöst-mann, Hk-ZPO, 5. Aufl., § 538 Rdn. 10; jeweils m.w.N.) – Mangel, aufgrund dessen eine sehr umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich ist. Geht man von dem durch die Zivilkammer für notwendig erachteten Maß an Substanziierung betreffend die seitens des Anspruchstellers zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte berufliche Tätigkeit aus, hätte die Klage nicht abgewiesen werden dürfen, bevor von der Eingangsinstanz gemäß § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO auf eine entsprechende Ergänzung des Vorbringens hingewirkt worden ist (vgl. dazu Zöller/Heßler, ZPO, 29. Aufl., § 538 Rdn. 20, m.w.N.). Der Anspruchsteller hätte dadurch Gelegenheit gehabt, seine Darlegungen noch im ersten Rechtszug zu vervollkommnen, wie es nunmehr in der Berufungsinstanz geschehen und in jedem Falle ausreichend ist. Novenrechtliche Probleme ergeben sich nach § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO nicht. Ob beim Rechtsmittelführer die Voraussetzungen für eine Berufsunfähigkeit im Sinne des § 2 R…-BUZ vorliegen und er gemäß § 172 Abs. 1 VVG n.F. i.V.m. § 1 R…-BUZ sowie Art. 1 Abs. 1 und 2 EGVVG Anspruch auf Versicherungsleistungen hat, lässt sich ohne die Vernehmung von vier Zeugen zur zuletzt ausgeübten Erwerbstätigkeit und ohne die Einholung eines – wenn nicht gar zweier – gerichtlicher Sachverständigengutachten (einerseits zu den behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen und andererseits zu deren Auswirkungen auf die Fähigkeit zu Berufsausübung) nicht beantworten. Das Landgericht hat die dafür notwendigen tatsächlichen Feststellungen, die im Rahmen des § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO die Grundlage für die Verhandlung und Entscheidung in zweiter Instanz bilden, nicht getroffen, obwohl es – bei prozessordnungsgemäßer Verfahrensweise – in die Beweisaufnahme hätte eintreten müssen. Trotz des Ausnahmecharakters von § 538 Abs. 2 ZPO ist die Aufhebung und Zurückverweisung unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der schützenswerten Interessen beider Parteien, im Streitfall gerechtfertigt, weil der Senat – bedingt durch vorrangig zu bearbeitende umfangreiche Versicherungs-, Bau- und Kapitalanlageberatungssachen – langfristige Terminstände hat, so dass die Beweiserhebung vor der Zivilkammer die Möglichkeit eröffnet, das Verfahren zu beschleunigen. Im Einzelnen gilt Folgendes:

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1. Ihrer zivilprozessualen Pflicht zur materiellen Prozessleitung ist die Eingangsinstanz nicht gehörig nachgekommen.

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a) Gemäß § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO hat das Gericht darauf hinzuwirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen. Die Vorschrift ist Ausdruck dessen, dass der Richter nach dem Willen des Gesetzgebers auch im allgemeinen Zivilprozess, wo der Beibringungsgrundsatz gilt, nicht allein die Aufgabe eines rein passiven Beobachters und distanzierten Entscheiders hat, sondern aktiv zur Klärung der Sach- und Rechtslage beitragen soll (vgl. dazu die Begründung zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/ 4722, S. 58, 77; ferner Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 139 Rdn. 1). Damit ist – entgegen der Auffassung des Landgerichts (LGU 12) – weder eine Verzerrung des Konkurrenzverhältnisses der anwaltlich vertretenen Parteien noch die Preisgabe der richterlichen Neutralität oder des Gleichbehandlungsgrundsatzes verbunden, solange es bei einer – gesetzlich ausdrücklich gewollten – ergänzenden richterlichen Hilfestellung verbleibt, durch die es lediglich zu einer Modifizierung der Verhandlungsmaxime kommt und bei der speziell keine neuen Anspruchsgrundlagen, Einreden oder Anträge in den Prozess eingeführt werden, die im bisherigen streitigen Vorbringen beider Seiten nicht zumindest andeutungsweise eine Grundlage haben (vgl. Begründung aaO; Musielak/Stadler, ZPO, 10. Aufl., § 139 Rdn. 1 und 5). Vielmehr dient die materielle Prozessleitung durch das Gericht der Erfüllung des Anspruchs der Parteien auf rechtliches Gehör, der Gewährleistung eines fairen Verfahrensablaufes und der Erzielung eines richtigen Prozessergebnisses (vgl. Musielak/Stadler aaO Rdn. 1; Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 34. Aufl., § 139 Rdn. 1). Die vom Gesetz gebotenen Hinweise sind so früh wie möglich – spätestens im letzten Termin der mündlichen Verhandlung mit ausreichender Gelegenheit zur Stellungnahme (§ 139 Abs. 5 und § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) – zu erteilen und aktenkundig zu machen (§ 139 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Inhaltlich dürfen sie keineswegs allgemein oder pauschal gehalten werden, sondern müssen die Adressaten unmissverständlich auf den fehlenden Sachvortrag aufmerksam machen, den der Richter für entscheidungserheblich hält; dies gilt insbesondere in Konstellationen, in denen die Notwendigkeit ergänzenden Vortrags – wie etwa bei den Anforderungen an die Darlegung eines Anspruchs – von der Bewertung des Gerichts im Einzelfall abhängt und sich nicht schon aus dem erheblichen Bestreiten der Gegenseite ergibt (vgl. dazu BGH, Urt. v. 11.02.1999 – VII ZR 399/97, LS und Rdn. 13; BGHZ 140, 365 = WM 1999, 811; Urt. v. 25.06.2002 – X ZR 83/00, LS und Rdn. 27; BGH-Rp 2002, 966 = WM 2003, 541; Urt. v. 22.09.2005 – VII ZR 34/04, Rdn. 29, BGHZ 164, 166 = WM 2006, 1026; ferner BeckOK-ZPO/v. Selle, Edition 10, § 139 Rdn. 44; Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 34. Aufl., § 139 Rdn. 27).

22

b) Mit den zuvor erörterten Grundsätzen ist es unvereinbar, wenn der Richter – wie hier nach dem Inhalt der Akten in der Eingangsinstanz geschehen (§ 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO) – der unterschiedlichen Positionierung beider Seiten in den vorbereitenden anwaltlichen Schriftsätzen zu den Anforderungen an das Maß der Substanziierung des Klagevorbringens betreffend die Voraussetzungen für eine Berufsunfähigkeit des Anspruchsstellers lediglich zusieht und erst im instanzabschließenden Urteil seine eigene – dem Kläger ungünstige – Auffassung offenbart.

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ba) Gemäß dem Wortlaut von § 139 Abs. 1 Satz 2 ZPO obliegt es dem Gericht darauf hinzuwirken, dass die Prozessparteien ungenügende Angaben zu den von ihnen geltend gemachten Tatsachen rechtzeitig ergänzen. Dabei unterscheidet das Gesetz nicht zwischen Anwalts- und Parteiprozessen (vgl. dazu Schellhammer, Zivilprozess, 14. Aufl., Rdn. 409). Deshalb entfällt die Aufgabe, die es dem Richter zugewiesen hat, keineswegs schon dadurch, dass die jeweilige Partei selbst von einem Rechtsanwalt vertreten wird oder dass die anwaltlichen Bevollmächtigten des Gegners Ausführungen zur Sach- und Rechtslage gemacht haben, die das erkennende Gericht für zutreffend erachtet. Nach der höchstrichterlichen Judikatur, der sich der Senat angeschlossen hat, muss der Richter grundsätzlich auch eine anwaltlich vertretene Partei auf Bedenken gegen die Zulässigkeit oder die Schlüssigkeit der Klage hinweisen; das gilt jedenfalls dann, wenn der Anwalt die Rechtslage falsch beurteilt oder – wie im vorliegenden Zivilprozess – ersichtlich darauf vertraut, sein schriftsätzliches Vorbringen sei ausreichend (vgl. dazu BGH, Urt. v. 04.07.1989 – XI ZR 45/88, Rdn. 8, BGHR ZPO § 139 Abs. 1 Anwaltsprozess 3; Urt. v. 27.10.1994 – VII ZR 217/ 93, Rdn. 29, BGHZ 127, 254 = WM 1995, 498; Urt. v. 27.11.1996 – VIII ZR 311/95, Rdn. 11, NJW-RR 1997, 441 = LM ZPO § 139 Nr. 27a). Entsprechend verhält es sich, wenn der Prozessgegner Bedenken gegen die Schlüssigkeit des Vortrags der anderen Partei geltend gemacht hat (vgl. dazu BGH, Urt. v. 07.12.2000 – I ZR 179/98, LS und Rdn. 38, BGH-Rp 2001, 485 = MDR 2001, 1009; Urt. v. 17.06.2004 – VII ZR 25/03, LS und Rdn. 20, BauR 2004, 1477 = NJW-RR 2004, 1247; Beschl. v. 10. 07.2012 – II ZR 212/10, Rdn. 8, NJW 2012, 3035 = MDR 2012, 1235; ferner BeckOK-ZPO/v. Selle, Edition 10, § 139 Rdn. 19; Reichold in Thomas/Putzo, ZPO, 34. Aufl., § 139 Rdn. 12; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 139 Rdn. 6a).

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bb) Im Streitfall konnte der Kläger die nötige Unterrichtung von der Beklagten bereits deswegen nicht erhalten, weil die Erforderlichkeit ergänzenden Vortrags – insbesondere zu weiteren Einzelheiten der in gesunden Tagen ausgeübten Berufstätigkeit – von der Bewertung des erkennenden Gerichts im Einzelfall abhing. Den detaillierten Ausführungen in der Klageschrift (GA I 6 ff.), die durch eine – mit Zeitangaben versehene – wochenbezogene Arbeitsbeschreibung in der Anlage K4 (GA I 38 ff.) komplettiert werden und deren lediglich auszugsweise Wiedergabe im Tatbestand des angefochtenen Urteils allein rund vier Seiten umfasst, ist die Beklagte im Kern – zulässigerweise – durch Bestreiten mit Nichtwissen entgegengetreten; darüber hinaus hat sie gerügt, es fehle Vorbringen dazu, welche Aufgaben der Anspruchssteller in seiner Eigenschaft als Werkstattleiter an seine Mitarbeiter delegiere, welchen Zeitumfang seine Tätigkeit als Kundendienstberater einnehme und inwieweit er – nicht mit körperlichen Beanspruchungen einhergehende – organisatorische Arbeiten durchführe (GA I 101, 110 ff. und 154, 158 f.). Der Kläger hatte sein Unverständnis darüber geäußert, darauf verwiesen, dass seine wochenbezogene Tätigkeitsbeschreibung vollständig sei, und ergänzend angemerkt, die Erkrankung verlaufe schubweise, wobei er während der Exazerbation wegen starken Schmerzen keinerlei Tätigkeit ausüben könne (GA I 128, 136 f.). Angesichts dessen durfte die Vorinstanz den Berufungsführer nicht darüber im Unklaren lassen, zu welchen Punkten und inwieweit sie selbst das bisherige tatsächliche Vorbringen für substanziierungsbedürftig erachtet, zumal in den Anwaltsschriftsätzen der Parteien noch andere Fragen – speziell die einer vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung durch den Versicherungsnehmer – breiten Raum eingenommen haben. Indem sich das Landgericht bedeckt hielt und schon am Schluss der Sitzung ein instanzabschließendes Urteil verkündete, hat es das Prinzip fairer Verfahrensführung verletzt.

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2. Für das weitere Verfahren in dem wiedereröffneten ersten Rechtszug weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:

26

a) Ob der Kläger bei der Antragstellung Gesundheitsfragen falsch beantwortet hat, ist für die Entscheidung des Streitfalles erst dann relevant, wenn er nicht bereits – wie von ihm geltend gemacht wird (GA I 1, 15 f.) – allein infolge einer enteropathischen Arthritis, die auf einen im Jahre 2008 erstmals bei ihm diagnostizierten Morbus Crohn zurückgeht, im Sinne des § 2 R…-BUZ berufsunfähig ist. Denn falls die Beklagte gemäß § 19 Abs. 4 Satz 2 1. Halbs. VVG n.F. durch ihr Schreiben vom 27. Mai 2011 (Kopie Anlage K9/GA I 72 f.) – mit Rückwirkung – rechtsgültig andere Bedingungen in Gestalt einer Ausschlussklausel in das Versicherungsverhältnis eingeführt haben sollte, dessen Fortbestand an sich davon unberührt bliebe, würden lediglich Erkrankungen und Funktionsstörungen wegen Psoriasis (Schuppenflechte) und Psoriasisarthritis (einer damit korrespondierenden entzündlichen Gelenkerkrankung) und wegen allergischer Erkrankungen und deren Folgen, soweit ein ursächlicher Zusammenhang mit den oben genannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen medizinisch nachweisbar ist, nicht mehr für die Bejahung der Berufsunfähigkeit und die Festsetzung ihres Grades herangezogen werden können. Auf den so genannten Kausalitätsgegenbeweis nach § 21 Abs. 2 Satz 1 VVG n.F., auf den in der Klageschrift Bezug genommen wird (GA I 1, 16), kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Ihrem Wortlaut gemäß setzt die Vorschrift einen Rücktritt wegen Anzeigepflichtverletzung im Sinne des § 19 Abs. 2 VVG n.F. voraus, der im Streitfall schon nicht erklärt wurde; ob der in der Norm enthaltene Rechtsgedanke analogiefähig ist, kann derzeit offen bleiben.

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b) Sollte es im weiteren Prozessverlauf darauf ankommen, ob vom Kläger bei der Antragstellung Fragen zu seiner Gesundheit unrichtig beantwortet worden sind, wird das Landgericht unter anderem zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen des § 16 Abs. 1 VVG a.F. vorliegen, weil für die tatbestandliche Seite einer vorvertraglichen Anzeigepflichtverletzung bei Altverträgen im Sinne des Art. 1 Abs. 1 EGVVG gemäß dem so genannten (intertemporalen) Spaltungsmodell, stets das alte – zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltende – Recht maßgeblich ist (vgl. die Begründung zum Regierungsentwurf eines Versicherungsvertragsreformgesetzes, BT-Drucks. 16/3945, S. 47, 118). Es spricht vieles dafür, diesen Grundsatz entsprechend auf Belehrungsobliegenheiten anzuwenden, die der Versicherer bereits im Zusammenhang mit der Eingehung des Versicherungsgeschäfts zu erfüllen hatte. Die Frage, ob er zur Vertragsanpassung nach § 19 Abs. 4 Satz 2 VVG selbst bei Vorsatz des Versicherungsnehmers befugt ist, wurde im Schrifttum bejaht (vgl. Prölss in Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl., § 19 Rdn. 54). Eine Falschbeantwortung der Frage Nr. 2 gemäß Antrag vom 19. November 2007 (Kopie Anlage K3/GA I 36 f.) nach derzeitigen körperlichen, psychischen oder geistigen Beeinträchtigungen kann ausscheiden, wenn weder die Pollenallergie des Klägers gegen Frühblüher noch seine Schuppenflechte (Psoriasis vulgaris) damals in Erscheinung getreten ist. Insoweit wird es – ebenso wie hinsichtlich der Gesundheitsfrage Nr. 4, wo sich die Problematik ergibt, ob hinreichend deutlich geworden ist, dass es sich bei deren lit. a) und b) um bloße Unterpunkte handelt – im Ergebnis darauf ankommen, ob die Beklagte, den Nachweis zu führen vermag, dass ihre Agentin dem Kläger die Fragen sachgerecht nahegebracht hat; gelingt dies nicht, kann dessen eingeschränktes Verständnis, dass er substanziiert dargetan hat, zugrunde gelegt und die Frage als zutreffend beantwortet angesehen werden (vgl. dazu Prölss aaO Rdn. 26, m.w.N.). Der jeweilige Antragsteller ist nach herrschender Meinung auch nicht ohne Weiteres verpflichtet, sich der vorgedruckten Fragen zu vergewissern und vom Versicherungsvertreter vorgenommene Eintragungen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen (vgl. aaO Rdn. 25 und 28).

B.
28

Über die Kosten des Rechtsstreits – einschließlich derjenigen des Berufungsverfahrens – kann der Senat nicht befinden, weil der Kostenausspruch einheitlich zu ergehen hat und derzeit noch nicht feststeht, welche Partei letztlich inwieweit unterlegen sein wird. Deshalb ist die Entscheidung in den Fällen der vorliegenden Art regelmäßig dem Schlussurteil des Landgerichts vorbehalten (vgl. dazu OLG Köln, Urt. v. 18.03.1987 – 2 U 99/86, NJW-RR 1987, 1152; ferner BeckOK-ZPO/Wulf, Edition 10, § 538 Rdn. 33; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 34. Aufl., § 97 Rdn. 9; Saenger/Gierl, Hk-ZPO, 5. Aufl., § 97 Rdn. 14; Zöller/Heßler, ZPO, 29. Aufl., § 538 Rdn. 58). Eine Kostentrennung gemäß § 97 Abs. 1 ZPO kommt grundsätzlich allein dann in Betracht, wenn – was hier im Streitfall keineswegs zutrifft – das jeweilige Rechtsmittel in vollem Umfange erfolglos geblieben ist (vgl. Hüßtege aaO Rdn. 2 und 8).

C.
29

Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Berufungsurteils ergibt sich aus § 708 Nr. 10 ZPO. Obwohl es selbst keinen vollstreckungsfähigen Inhalt im eigentlichen Sinne hat und die vorläufige Vollstreckbarkeit der angefochtenen Entscheidung laut § 717 Abs. 1 ZPO bereits mit Verkündung des aufhebenden Urteils außer Kraft tritt, bedarf es eines Ausspruchs zur vorläufigen Vollstreckbarkeit, da nach zwar keineswegs unumstrittener, aber doch wohl herrschender Auffassung das jeweilige Vollstreckungsorgan die Zwangsvollstreckung aus dem erstinstanzlichen Urteil gemäß § 775 Nr. 1 und 776 Satz 1 ZPO erst einstellen und schon getroffene Vollstreckungsmaßregeln aufheben darf, wenn eine vollstreckbare Ausfertigung vorgelegt wird (so OLG München, Urt. v. 18.09. 2002 – 27 U 1011/01, Rdn. 75, NZM 2002, 1032, m.w.N.; ferner OLG Karlsruhe, Urt. v. 25.05.1984 – 10 U 254/83, JZ 1984, 635 = BeckRS 1984, 04042; Musielak/Lackmann, ZPO, 10. Aufl., § 708 Rdn. 9; Saenger/Kindl, Hk-ZPO, 5. Aufl., § 708 Rdn. 12; Seiler in Thomas/Putzo, ZPO, 34. Aufl., § 708 Rdn. 11; Zöller/Heßler, ZPO, 29. Aufl., § 538 Rdn. 59; a.M. BeckOK-ZPO/Ulrici, Edition 10, § 717 Rdn. 5, m.w.N.). Für Schutzanordnungen nach § 711 ZPO bleibt indes kein Raum, weil es an einem vollstreckbaren Leistungsausspruch im Berufungsurteil fehlt.

D.
30

Die Revision wird vom Senat – in Ermangelung der gesetzlichen Voraussetzungen gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO i.V.m. § 133 GVG – nicht zugelassen. Die vorliegende Rechtssache hat weder grundsätzliche – über den Streitfall hinausgehende – Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes als Revisionsgericht. Das Berufungsurteil beruht im Wesentlichen auf der Rechtsanwendung im vorliegenden Einzelfall und der Würdigung von dessen tatsächlichen Umständen. Eine Divergenz zur höchstrichterlichen Rechtsprechung oder zu Entscheidungen anderer Oberlandesgericht ist nicht ersichtlich.

E.
31

Der Gebührenstreitwert für den zweiten Rechtszug beträgt € 49.875,00 (§ 47 Abs. 1 Satz 1 und § 39 Abs. 1 GKG). Davon entfallen gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 GKG € 11.250,00 auf die bei Einreichung der Klage bereits fälligen Beträge der begehrten Berufsunfähigkeitsrente, nach § 3 1. Halbs. ZPO i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 GKG € 1.875,00 auf die zurückverlangten Versicherungsprämien und entsprechend § 9 Satz 1 ZPO i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 GKG € 36.750,00 auf die künftige Rentenzahlung und Beitragsfreistellung (3,5 x [€ 9.000,00 p.a. + 12 m. x € 125,00 p.m.]). Bei den vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten des Klägers handelt es sich um eine Nebenforderung im Sinne des § 43 Abs. 1 GKG, die nach der ganz herrschenden Meinung, welche vom Senat geteilt wird, streitwertneutral bleibt (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 30.01.2007 – X ZB 7/06, LS, BGH-Rp 2007, 571 = VersR 2007, 1102; ferner Zöller/Herget, ZPO, 29. Aufl., § 4 Rdn. 13, m.w.N.).

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