Zum Beweis des ersten Anscheins bei der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten

BGH, Urteil vom 14.12.1993 – VI ZR 271/92

Der Beweis des ersten Anscheins ist auch bei der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten geboten, die wie Schutzgesetze und Unfallverhütungsvorschriften typischen Gefährdungen entgegenwirken sollen, wenn sich in dem Schadensfall gerade diejenige Gefahr verwirklicht, der durch die Auferlegung bestimmter Verhaltenspflichten begegnet werden soll.

(Leitsatz des Gerichts)

Tatbestand
1
Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen eines Sturzes im Treppenhaus des von ihr bewohnten Hauses in B., dessen Eigentümer und Vermieter die Beklagten sind, auf Schadensersatz in Anspruch. Sie macht geltend, sie sei in der Nacht zum 10. April 1988 gegen ca. 1.00 Uhr von ihrer im ersten Stock des Hauses gelegenen Wohnung die mit Steinfliesen belegten Treppenstufen hinunter gegangen, um einem Besucher die verschlossene Haustür zu öffnen. Dabei sei sie aufgrund des extrem glatten Fußbodens auf der letzten Stufe der Treppe zum Mittelpodest zwischen dem ersten Stock und dem Erdgeschoß ins Rutschen gekommen, aufgrund der fehlenden Rutschkante über die Stufe hinausgeglitten und auf den Steinfußboden des Podestes gefallen. Dabei habe sie sich erheblich verletzt. Sie verlangt von den Beklagten den Ersatz der Kosten für eine häusliche Krankenpflege in Höhe von 24.940 DM, ein Schmerzensgeld sowie eine monatliche Verdienstausfallrente von 400 DM.

2
Die Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe
I.

3
Nach Auffassung des Berufungsgerichts läßt sich aufgrund des Vorbringens der Klägerin nicht feststellen, daß sie infolge der behaupteten Glätte gestürzt ist. Der Vortrag der Klägerin, sie habe sich am Handlauf festgehalten und sei aufgrund des extrem glatten Fußbodens auf der Treppe ins Rutschen gekommen und wegen der fehlenden Rutschkante über die Treppenstufen hinausgeglitten und gestürzt, lasse keinen ausreichend sicheren Schluß auf die Glätte als Unfallursache zu. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß gerade die behauptete extreme Glätte und nicht eine andere Ursache den Sturz der Klägerin herbeigeführt habe.

4
Auf den Beweis des ersten Anscheins könne sich die Klägerin nicht berufen, da bei Unfällen durch Glätte, z.B. durch zu starkes Bohnern, anders als bei Glatteisunfällen, keine Vermutung dafür spreche, daß es bei Beachtung der Verkehrssicherungspflicht nicht zu dem Unfall gekommen wäre.

II.

5
Diese Ausführungen halten der revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand. Die Revision rügt zu Recht, daß das Berufungsgericht bei der von ihm unterstellten extremen Glätte der Treppenstufen den Anscheinsbeweis nicht für gerechtfertigt hält. Die Frage, ob der Anscheinsbeweis eingreift, unterliegt der Prüfung durch das Revisionsgericht (BGHZ 100, 31, 33; Senatsurteil vom 4. Oktober 1983 – VI ZR 38/82 – VersR 1984, 40, 41).

6
Die Anwendung der Grundsätze über den Beweis des ersten Anscheins bei der Kausalitätsfeststellung ist immer dann geboten, wenn das Schadensereignis nach allgemeiner Lebenserfahrung eine typische Folge der Pflichtverletzung darstellt. Diese Voraussetzungen hat der Senat in der Regel bei der Verletzung von Schutzgesetzen im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB bejaht. Hat der vom Verletzten in Anspruch Genommene gegen ein Schutzgesetz verstoßen, das typischen Gefährdungsmöglichkeiten entgegenwirken soll, und ist im Zusammenhang mit dem Verstoß gerade derjenige Schaden eingetreten, der mit Hilfe des Schutzgesetzes verhindert werden sollte, so spricht grundsätzlich der Beweis des ersten Anscheins dafür, daß der Verstoß für den Schadenseintritt ursächlich gewesen ist (Senatsurteile vom 24. September 1968 – VI ZR 160/67VersR 1968, 1144; vom 27. Juni 1975 – VI ZR 42/74VersR 1975, 1007, 1008; vom 4. Oktober 1983 aaO; vom 22. April 1986 – VI ZR 77/85VersR 1986, 916, 917). Ebenso ist der Anscheinsbeweis nach ständiger Rechtsprechung bei Verstößen gegen Unfallverhütungsvorschriften gerechtfertigt, wenn sich in dem Unfall gerade die Gefahr verwirklicht hat, zu dessen Verhinderung die Vorschriften erlassen worden sind (Senatsurteile vom 9. November 1971 – VI ZR 58/70VersR 1972, 149, 150; vom 6. November 1973 – VI ZR 76/72VersR 1974, 263, 264; vom 25. Januar 1983 – VI ZR 92/81VersR 1983, 440; vom 8. Mai 1984 – VI ZR 296/82VersR 1984, 775, 776).

7
Aus den gleichen Erwägungen ist die Anwendung des Anscheinsbeweises auch bei der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten geboten, die wie Schutzgesetze und Unfallverhütungsvorschriften durch genaue Verhaltensanweisungen typischen Gefährdungen entgegenwirken sollen, wenn sich in dem Schadensereignis gerade diejenige Gefahr verwirklicht, der durch die Auferlegung der konkreten Verhaltenspflichten begegnet werden sollte (vgl. RGRK-BGB, 12. Aufl. BGB § 823 Rdn. 520). Denn auch solche Verkehrssicherungspflichten beruhen auf einer Erfahrenstypik, die die Feststellung rechtfertigt, daß sich die Gefahr, der sie steuern sollen, bei pflichtgemäßem Verhalten nicht verwirklicht.

8
Im Streitfall ist die Anwendung des Anscheinsbeweises auch von der Sache her geboten. Gerade bei extrem glatten Treppenstufen liegt die Gefahr des Ausrutschens besonders nahe. Deshalb ist der Verkehrssicherungspflichtige gehalten, bei der Reinigung von Treppen im Treppenhaus die Wahl des Pflegemittels dem Belag anzupassen, auf sorgfältige Verteilung des Mittels zu achten und auch sonst darauf zu sehen, daß keine übermäßige Glätte durch die Bodenpflege auftritt (vgl. RGRK-BGB aaO Rdn. 222 m.w.N.). Kommt daher jemand auf einer übermäßig glatten Treppe zu Fall, so spricht die Erfahrung des Lebens dafür, daß die Verletzung der Verkehrssicherungspflicht eine Ursache für den Sturz bildete. Das Ausgleiten auf einer glatten Stufe stellt auch einen typischen Geschehensverlauf dar. Kann daher im Streitfall festgestellt werden, was zur Beweislast der Klägerin steht, daß die Treppe zur Zeit des Unfalls durch Behandlung mit Reinigungs- und Pflegemitteln extrem glatt war und die Klägerin auf ihr zu Fall kam, dann ist prima facie zu vermuten, daß die auf der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht beruhende Glätte eine Bedingung für die Verletzungen war, die sich die Klägerin bei dem Unfall zugezogen hat. Der Senat hat deshalb auch in Glatteisfällen die Anwendung des Anscheinsbeweises bejaht, wenn der Verletzte an nicht gestreuter Stelle innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht zu Fall gekommen ist (Senatsurteil vom 4. Oktober 1993 aaO m.w.N.).

9
Dieser Beweis des ersten Anscheins kann nur durch feststehende Tatsachen entkräftet werden, die die Möglichkeit eines anderen Geschehensverlaufs ernsthaft in Betracht kommen lassen. Hierzu genügt nicht bereits der Umstand, daß die Klägerin in Eile war, denn eine Treppe muß sich auch für den Eiligen und unvorsichtigen Benutzer in einem gefahrlosen Zustand befinden (vgl. Senatsurteil vom 16. Januar 1990 – VI ZR 109/89NJW-RR 1990, 409, 410).

III.

10
Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, damit die von der Klägerin angebotenen Beweise über den Zustand der Treppenstufen und den von ihr behaupteten Sturz erhoben werden können.

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