Recht zur Leistungskürzung durch den Versicherer auf Grund einer Trunkenheitsfahrt

OLG Stuttgart, Beschluss vom 18.08.2010 – 7 U 102/10

Zwar legt der Wortlaut § 81 Abs. 2 VVG in Abgrenzung zur Leistungsfreiheit nahe, dass der Versicherer bei grob fahrlässig herbeigeführten Versicherungsfall jedenfalls einen geringen Betrag zu zahlen hat (Rn. 11). Dagegen spricht aber, dass eine auch minimale Leistungspflicht der in § 81 Abs. 2 VVG vorgesehenen, dem Verschulden entsprechenden Leistungskürzung dann gerade nicht entspricht, wenn der Verschuldensgrad – wie hier – als sehr vorsatznah zu beurteilen ist. Es ist daher inzwischen nahezu allgemein anerkannt, dass der Versicherer i. d. R. zur Kürzung in Höhe von 100 % berechtigt ist, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit herbeiführt (Rn. 12)

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers durch einstimmigen Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.

2. Die Parteien erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 10.09.2010.

Gründe

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Der Senat ist davon überzeugt, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg und die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat. Eine Entscheidung des Berufungsgerichts ist weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich.

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Die Berufungsbegründung enthält keine konkreten Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen durch das Landgericht Tübingen begründen. Da solche auch sonst nicht ersichtlich sind, ist der Senat nach § 529 Abs. 1 Satz 1 ZPO hieran gebunden. Sie rechtfertigen keine andere Entscheidung.

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Zu Recht hat das Landgericht die Klage als unbegründet abgewiesen, da die Beklagte nach § 81 Abs. 2 VVG berechtigt war, die Leistung um 100 % zu kürzen. Denn der Sohn des Klägers hat als dessen Repräsentant den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt, und die Schwere des Verschuldens rechtfertigt eine Kürzung um 100 %.

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1. Indem der Sohn des Klägers das versicherte Fahrzeug mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,29 ‰ im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit führte, hat er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt und damit objektiv grob fahrlässig gehandelt (zum Begriff der groben Fahrlässigkeit im Sinne des § 81 Abs. 2 VVG siehe statt vieler BGH, Urteil vom 29.01.2003, Az. IV ZR 173/01, zit. nach juris, Rn. 9 f.; Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. 2010, § 28 VVG, Rn. 121; Burmann in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, § 81 VVG, Rn. 3). Ihm war bewusst, dass er damit sich und andere erheblich gefährdete. Insoweit wird auf die vom Senat geteilten Entscheidungsgründe des Landgerichts Tübingen verwiesen.

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a) Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass es sich vorliegend objektiv um einen besonders schwerwiegenden Verstoß gegen die allgemeinen Sorgfaltsanforderungen handelt, wie sich insbesondere aus den normativen Vorprägungen anderer Rechtsgebiete, hier des Verkehrsstrafrechts, ergibt. Denn diese sind zur Beurteilung des objektiven Schuldvorwurfs maßgeblich zu beachten (Burmann in: Burmann/Heß/Hanke/Janker, Straßenverkehrsrecht, § 81 VVG, Rn. 11; Nehm, ZfS 2010, 12 zu den Empfehlungen des 47. Deutschen Verkehrsgerichtstages vom Januar 2009 [so genannter „Goslarer Orientierungsrahmen“]; Nugel, MDR 2010, 597 [598]; Rixecker, ZfS 2009, 5, Ziff. 6). Indem der Sohn des Klägers mit seiner Trunkenheitsfahrt den Straftatbestand des § 315 c) Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllte, hat er zum einen eine schwere Verkehrsstraftat begangen. Zum anderen hat sich mit der Beschädigung eines anderen Fahrzeugs das der Trunkenheitsfahrt immanente Risiko der Gefährdung anderer Rechtsgüter sogar verwirklicht.

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b) Auch in subjektiver Hinsicht ist dem Repräsentanten des Klägers sein Verhalten in besonderem Maße vorzuwerfen, was die Beklagte zu einer der Schwere des Verschuldens entsprechenden Kürzung um 100 % der Versicherungsleistung berechtigte. Insbesondere entlastet den Sohn des Klägers nicht, dass er zunächst vorgehabt hat, nicht mit dem Auto nach Hause zu fahren, sondern zu Fuß zu gehen. Dies kann ohne weiteres unterstellt werden. Zwar hat das OLG Düsseldorf in seinem Beschluss vom 12.11.1986 (Az. 20 W 58/86, VersR 1988, 369) entschieden, dass einem Versicherungsnehmer unter Umständen der Vorwurf grober Fahrlässigkeit trotz Führens eines Kraftfahrzeuges im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit nicht gemacht werden kann, wenn dieser zunächst nicht vorgehabt hat, nach Alkoholgenuss selbst zu fahren und sogar Vorkehrungen getroffen hat, dies zu verhindern. Anders als im dortigen Fall ließ sich der Sohn des Klägers jedoch nicht durch ganz besondere, nachvollziehbare äußere Umstände dazu verleiten, entgegen seinem ursprünglichen Vorhaben doch mit dem Auto zu fahren. Dass er sich lediglich spontan über seinen ursprünglichen Plan hinwegsetzte, zeigt vielmehr, dass er es in ganz besonderem Maße am erforderlichen Verantwortungsbewusstsein fehlen ließ. Dies gilt insbesondere, weil es für ihn ein Leichtes gewesen wäre, die kurze Strecke von nur ca. 1000 m zu Fuß zurückzulegen und ohne Auto nach Hause zu kommen.

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Wie das Landgericht Tübingen zu Recht ausgeführt hat, ist diese Abkehr vom ursprünglichen Plan auch kein Augenblicksversagen, das den subjektiven Schuldvorwurf entschärfen könnte. Zum einen hat der Sohn des Klägers den Versicherungsfall überhaupt nicht durch das so genannte Augenblicksversagen herbeigeführt. Denn darunter versteht man den Umstand, dass der Handelnde die im Verkehr erforderliche Sorgfalt für kurze Zeit außer Acht ließ (BGH, Urteil vom 08.07.1992, Az. IV ZR 223/91, zitiert nach juris, Rn. 13; Schwintowski/Brömmelmeyer, VVG, Klothe/Neuhaus, § 81, Rn. 27 f.). Dabei sind dem Wortlaut entsprechend nur einmalige, punktuelle Gegebenheiten wie beispielsweise das Nichteinrasten des Lenkradschlosses oder das Übersehen des Umspringens einer Ampel überhaupt als Augenblicksversagen zu werten (vgl. nur die Übersicht bei Schwintowski/Brömmelmeyer a.a.O., Rn. 29). Entgegen der Auffassung des Klägers hat sein Sohn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt jedoch nicht nur in dem Augenblick außer Acht gelassen, in dem er den Entschluss gefasst hat, trotz seines erheblichen Alkoholgenusses mit dem Auto zu fahren. Er ließ sie vielmehr während der gesamten Dauer der Fahrt außer Acht.

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Überdies könnte selbst Augenblicksversagen den subjektiven Schuldvorwurf nur dann entschärfen, wenn weitere, entlastende Umstände hinzuträten, die den Grund des kurzfristigen Versagens erkennen und in einem milderen Licht erscheinen ließen (BGH a.a.O., Rn. 13 f.; Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. 2010, § 81 VVG, Rn. 18), beispielsweise eine krankheitsbedingte Konzentrationsstörung (BGH a.a.O., Rn. 14) oder auch die Ablenkung durch schreiende Kinder (Rixecker, ZfS 2009, 5, Ziff. 6). Hierzu hat der Kläger weder etwas vorgetragen, noch sind entlastende Umstände sonst ersichtlich.

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Beizupflichten ist dem Landgericht Tübingen vielmehr darin, dass der Sohn des Klägers den Versicherungsfall jedenfalls sehr vorsatznah herbeigeführt hat. Denn er hat sich nicht nur ohne jeden ersichtlichen Grund über sein ursprüngliches Vorhaben hinweggesetzt, zu Fuß zu gehen. Er fuhr sogar nach einer Fahrtunterbrechung bei seinem Freund, den er nahe der Unfallstelle absetzte, erneut los. Damit setzte er sich in verantwortungsloser Weise ein zweites Mal über seinen eigenen Entschluss hinweg, das Auto stehen zu lassen.

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2. Entgegen der Berufungsbegründung ist die Wertung des Landgerichts nicht zu beanstanden, dass der Alkoholgenuss für die Herbeiführung des Versicherungsfalls kausal geworden ist. Auch insofern wird auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des Landgerichts Tübingen verwiesen. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass sich die durch den Transporter verursachte Engstelle nicht an, sondern mehrere Fahrzeuglängen vor der Unfallstelle befand. Dies ist aus den Lichtbildern Bl. 33 f. der beigezogenen Strafakte (Az. 2 Cs 36 Js 10906/09 des Amtsgerichts Calw) ersichtlich, die die Fahrzeuge in Unfallendstellung zeigen. Ebenso wie das Landgericht Tübingen geht der Senat davon aus, dass ein nicht alkoholisierter Fahrer diese insgesamt unfallfrei passiert hätte. Denn die einzige vom Kläger vorgetragenen Schwierigkeit war die durch parkende Fahrzeuge verengte Fahrbahn in einer Wohnstraße. Die Kollision erfolgte bei übersichtlicher Verkehrssituation im ruhendem Verkehr.

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3. Obwohl § 81 Abs. 2 VVG den Versicherer lediglich zur dem Schuldvorwurf entsprechenden Kürzung seiner Versicherungsleistung berechtigt, die Leistungspflicht bei grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls also nicht mehr vollständig entfällt, war die Beklagte zur Kürzung um 100 % berechtigt. Zwar legt der Wortlaut in Abgrenzung zur Leistungsfreiheit nahe, dass der Versicherer bei grob fahrlässig herbeigeführten Versicherungsfall jedenfalls einen geringen Betrag zu zahlen hat (so auch Rokas, VersR 2008, 1457, II Ziff. 3 d), vgl. auch Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. 2010, § 28 VVG, Rn. 136; Marlow, VersR 2007, 43, Ziff. 2 b)). Auch wurde vereinzelt vertreten, dass die 100-Prozent-Kürzung mit der ratio der Abschaffung des so genannten „Alles-oder-nichts-Prinzips“ nicht vereinbar sei (vgl. nur Nugel, MDR 2008, 1320 [2323 f.]; Schimikowski, in JurisPR-VersR 7/2007 Anm. 4, Ziff. III).

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Dagegen spricht aber, dass eine auch minimale Leistungspflicht der in § 81 Abs. 2 VVG vorgesehenen, dem Verschulden entsprechenden Leistungskürzung dann gerade nicht entspricht, wenn der Verschuldensgrad – wie hier – als sehr vorsatznah zu beurteilen ist. Auch diesbezüglich wird auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des Landgerichts verwiesen. Daher ist inzwischen auch nahezu allgemein – z. T. auch von Kritikern (z. B. jetzt Nugel, MDR 2010, 597; ders. JurisPR-VerkR 16/2010, Anm. 4; Schimikowski a.a.O.) – anerkannt, dass der Versicherer i. d. R. zur Kürzung in Höhe von 100 % berechtigt ist, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit herbeiführt (LG Münster, Urteil vom 24.09.2009, Az. 15 275/09; AG Brühl , Urteil vom 14.05.2009, Az. 7 C 88/09; Burmann in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21 Aufl. 2010, § 81 VVG, Rn. 16; Schwintowski/Brömmelmeyer, VVG; Kloth/Neuhaus, § 81, Rn. 49; Nehm, ZfS 2010, 12, Ziff. II.1; Rixecker, ZfS 2009, 5, Ziff. 4)

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Letztlich ergibt sich auch aus dem Gesetzgebungsverfahren, dass der Gesetzgeber eine Kürzung um 100 % nicht verhindern wollte. Denn zur Parallelvorschrift des § 28 Abs. 2 Satz 1 VVG sah der Regierungsentwurf die Leistungsfreiheit zunächst „nur“ bei Vorsatz vor (BT-Drucks. 16/39/45, S. 13). Auf die damit verbundenen Wertungswidersprüche gerade bei der Verursachung von Verkehrsunfällen im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit aufmerksam gemacht (Stellungnahme Rixecker in der öffentlichen Anhörung vom 28.03.2007, abrufbar unter: http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?fileToLoad=1251&id=1134 , Stand 18.08.2010), wurde die Einschränkung in § 28 Abs. 2 Satz 2 VVG auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages (BT-Drucks. 16/5862, S. 14) gestrichen.

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Zwar hat der Rechtsausschuss die Änderung des § 28 Abs. 2 Satz 2 VVG ausdrücklich nur mit dem beabsichtigten Gleichlauf zu § 81 Abs. 2 VVG begründet (BT-Drucks. 16/5862, S. 99, worauf auch Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. 2010, § 28 VVG, Rn. 136 hinweisen). Der Gesetzgeber hat jedoch in Kenntnis der Problematik § 28 VVG geändert, anstatt in § 81 Abs. 2 VVG das Wort „nur“ einzufügen. Daran ist ersichtlich, dass der Gesetzgeber die Kürzung um 100 % durchaus ermöglichen wollte.

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Der Senat stellt dem Kläger nach alldem anheim, die Berufung aus Kostengründen zurückzunehmen.

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