BGH, Urteil vom 12. Oktober 2011 – IV ZR 199/10
Unterbliebene Anpassung von Allgemeinen Versicherungsbedingungen an das VVG 2008 gemäß Art. 1 Abs. 3 EGVVG führt zur Unwirksamkeit der Regelungen über die Verletzung vertraglicher Obliegenheiten
Am 1. Januar 2008 ist das neue Versicherungsvertragsgesetz vom 23. November 2007 (VVG 2008) in Kraft getreten. Der Gesetzgeber hat in Art. 1 Abs. 3 EGVVG den Versicherern für Versicherungsverhältnisse, die bis zum 1. Januar 2008 entstanden waren (Altverträge), eine bis zum 1. Januar 2009 befristete Möglichkeit eingeräumt, ihre bestehenden Allgemeinen Versicherungsbedingungen an das neue Recht anzupassen. Hiervon haben nicht alle Versicherer Gebrauch gemacht.
In einem leerstehenden Haus wurden während der Frostperiode die wasserführenden Leitungen nicht entleert. Der daraufhin eingetretene Leitungswasserschaden wurde vom Gebäudeversicherer unter anderem unter Berufung auf eine Verletzung der Obliegenheit zur regelmäßigen Kontrolle des Gebäudes und zur Entleerung aller wasserführenden Anlagen nur zur Hälfte reguliert.
Der unter anderem für das Versicherungsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die unterbliebene Anpassung von Allgemeinen Versicherungsbedingungen in Altverträgen dazu führt, dass sich der Versicherer nicht mehr auf die Verletzung vertraglicher Obliegenheiten berufen kann, wenn sich die Klausel im Altvertrag wie gewöhnlich an der gesetzlichen Regelung des § 6 VVG a.F. orientiert. Diese Regelung hat das neue Versicherungsvertragsgesetz in § 28 Abs. 2 Satz 2 VVG durch eine für den Versicherungsnehmer günstigere Regelung ersetzt (Leistungskürzung statt vollständigen Wegfalls der Leistung bei grob fahrlässiger Obliegenheitsverletzung). An der alten Gesetzeslage ausgerichtete Bestimmungen in Allgemeinen Versicherungsbedingungen widersprächen dem neuen Recht und seien deshalb unwirksam. Die hierdurch entstehende Vertragslücke für die Rechtsfolgen der Verletzung vertraglicher Obliegenheiten könne nicht geschlossen werden. § 28 Abs. 2 Satz 2 VVG enthalte kein gesetzliches Leistungskürzungsrecht, sondern setze eine vertragliche Vereinbarung voraus. Aus Entstehungsgeschichte und Gesetzessystematik des Art. 1 Abs. 3 EGVVG folge, dass der Gesetzgeber bei einer unterbliebenen Vertragsanpassung eine spätere Lückenfüllung ausschließen wollte. Mithin sei die Sanktionslosigkeit der Verletzung vertraglicher Obliegenheiten hinzunehmen. Da es sich bei Art. 1 EGVVG um eine Spezialregelung zur allgemeinen Bestimmung des § 306 Abs. 2 BGB handele, könne die Bestimmung des § 28 Abs. 2 Satz 2 VVG nicht zur Schließung der Vertragslücke herangezogen werden. Ferner lägen die Voraussetzungen einer ergänzenden Vertragsauslegung nicht vor.
Dem Versicherer sei es jedoch weiterhin möglich, sich auf eine grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalles gemäß § 81 Abs. 2 VVG oder eine Gefahrerhöhung gemäß §§ 23 ff VVG zu berufen.
Da das Berufungsgericht die vom Versicherer geltend gemachte grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalles gemäß § 81 Abs. 2 VVG nicht hinreichend aufgeklärt hat, wurde die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die maßgeblichen Normen lauten wie folgt:
Einführungsgesetz zum Versicherungsvertragsgesetz
Art. 1. Altverträge, Allgemeine Versicherungsbedingungen
(1) Auf Versicherungsverhältnisse, die bis zum Inkrafttreten des Versicherungsvertragsgesetzes vom 23. November 2007 (BGBl. I S. 2631) am 1. Januar 2008 entstanden sind (Altverträge), ist das Gesetz über den Versicherungsvertrag in der bis dahin geltenden Fassung bis zum 31. Dezember 2008 anzuwenden, soweit in Absatz 2 und den Artikeln 2 bis 6 nichts anderes bestimmt ist.
(2) …
(3) Der Versicherer kann bis zum 1. Januar 2009 seine Allgemeinen Versicherungsbedingungen für Altverträge mit Wirkung zum 1. Januar 2009 ändern, soweit sie von den Vorschriften des Versicherungsvertragsgesetzes abweichen, und er dem Versicherungsnehmer die geänderten Versicherungsbedingungen unter Kenntlichmachung der Unterschiede spätestens einen Monat vor diesem Zeitpunkt in Textform mitteilt.
Versicherungsvertragsgesetz in der ab 1. Januar 2008 gültigen Fassung
§ 28 Verletzung einer vertraglichen Obliegenheit
(1) Bei Verletzung einer vertraglichen Obliegenheit, die vom Versicherungsnehmer vor Eintritt des Versicherungsfalles gegenüber dem Versicherer zu erfüllen ist, kann der Versicherer den Vertrag innerhalb eines Monats, nachdem er von der Verletzung Kenntnis erlangt hat, ohne Einhaltung einer Frist kündigen, es sei denn, die Verletzung beruht nicht auf Vorsatz oder auf grober Fahrlässigkeit.
(2) Bestimmt der Vertrag, dass der Versicherer bei Verletzung einer vom Versicherungsnehmer zu erfüllenden vertraglichen Obliegenheit nicht zur Leistung verpflichtet ist, ist er leistungsfrei, wenn der Versicherungsnehmer die Obliegenheit vorsätzlich verletzt hat. Im Fall einer grob fahrlässigen Verletzung der Obliegenheit ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen; die Beweislast für das Nichtvorliegen einer groben Fahrlässigkeit trägt der Versicherungsnehmer.
…
Quelle: Pressemitteilung Nr. 162/2011 Bundesgerichtshofes vom 12.10.2011