Allergische Reaktion als Unfall im Sinn der privaten Unfallversicherung

OLG München, Urteil vom 01.03.2012 – 14 U 2523/11

Nach Ansicht des Senats stellt das hier streitgegenständliche versehentliche bzw. unbewusste Verzehren von Allergenen zusammen mit anderen Nahrungsstoffen einen versicherten Unfall dar (Rn. 13).

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 19.05.2011, Az. 34 O 255/11, aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 27.000,00 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 10.12.2010 zu bezahlen.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.


Gründe

I.

1

Die Klägerin macht aus eigenem und abgetretenem Recht Leistungsansprüche aus einer Unfallversicherung geltend.

2

Die Klägerin und N.J. sind die Eltern und gesetzlichen Erben der am 24.12.2009 verstorbenen, bei der Beklagten mitversicherten K. J. (geb. 2.10.1994).

3

Zwischen den Parteien ist streitig, ob der plötzliche Tod des Mädchens, das an einer angeborenen schwereren Entwicklungsstörung litt (Trisomie 18, Edwards-Syndrom) durch eine allergische Reaktion ihres Körpers auf Nahrungsmittel verursacht wurde, und ob in diesem Fall die Beklagte nach den streitgegenständlichen Versicherungsbedingungen leistungspflichtig ist.

4

Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird zunächst auf das Endurteil des Landgerichts Memmingen vom 19.5.2011 (Bl. 29/34 d.A.) Bezug genommen.

5

Das Erstgericht hat die Klage auf die der Höhe nach unstreitige Versicherungssumme von 27.000 Euro abgewiesen, da die von der Klägerin behauptete hochallergische Reaktion als Todesursache nicht unter den Unfallbegriff falle. Der von der Klagepartei vorgetragene willensgesteuerte normale Verzehr von Vollmilchschokolade sei kein von außen auf den Körper wirkendes Ereignis.

6

Soweit nach den Vertragsbedingungen Vergiftungen bei Kindern bis 14 Jahren infolge Einnahme fester und flüssiger Stoffe mitversichert seien, scheide auch eine analoge Anwendung dieser Bestimmung bereits deshalb aus, weil K. zum Todeszeitpunkt 15 Jahre alt gewesen sei und die Regelung hinsichtlich der Altersgrenze eindeutig und nicht auslegungsfähig sei.

7

Mit ihrer Berufung rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.

8

Das Erstgericht habe rechtsfehlerhaft das Vorliegen eines vertragsgemäßen Unfallgeschehens verneint.

9

Das durch eine allergische Reaktion auf ein Lebensmittel hervorgerufene Todesereignis stelle sich genauso dar wie ein Ereignis des Erstickens durch Essen, an Erbrochenem oder durch Ertrinken. Bei einer hochallergischen Grunddisposition stelle es ein Einwirken von außen auf den Körper dar, wenn der Geschädigte den die Allergie auslösenden Stoff zu sich nehme und hierdurch unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleide.

10

Im Hinblick auf den zurückgebliebenen geistigen und körperlichen Entwicklungsstand von K., der mit dem einer 8-jährigen vergleichbar gewesen sei, und den Umstand, dass K. das 15. Lebensjahr noch nicht einmal seit 2 Monaten vollendet hatte, sei außerdem nach Sinn und Zweck der vereinbarten verbesserten Versicherungsklauseln eine Fallbehandlung wie bei unter 14-Jährigen und darüber hinaus die Analogie zu einer Vergiftung gerechtfertigt.

11

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Abänderung des am 19.5.2011 verkündeten Urteils des Landgerichts Memmingen, Az. 34 O 255/11, zu verurteilen, an die Klägerin € 27.000,00 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. hieraus seit 10.12.2010 zu bezahlen.

12

Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Berufung und verteidigt das Ersturteil.

13

Der Senat hat u.a. darauf hingewiesen, dass nach den vertragsgegenständlichen „Allgemeinen Verbesserungen zu den GUB 99 – Euro mit verbesserter Gliedertaxe“ (bei Anlage K 7) auch die Folge von Lebensmittelvergiftungen ohne Altersbegrenzung mitversichert sind.

14

Im Berufungsverfahren wurde auf die Vorlage eines kinderärztlichen Attests durch die Klägerin (Anlage K 9) von der Beklagten unstreitig gestellt, dass bei K. multiple Allergien bestanden.

15

Der Senat hat Beweis erhoben zur Todesursache von K. durch Einholung eines medizinischen Gutachtens der Sachverständigen Prof. Dr. R.

16

Insoweit wird auf das schriftliche Gutachten vom 5.1.2012 (Bl. 83/91 d.A.) Bezug genommen.

17

Nach dem Verhandlungstermin vom 13.10.2011, in dem die Klägerin vom Senat persönlich angehört wurde, wurde mit Zustimmung der Parteien eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren angeordnet.

II.

18

Die zulässige Berufung ist in der Sache erfolgreich.

19

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf die vertraglich vereinbarte Leistung im Todesfall von K. in Höhe von 27.000,00 Euro.

20

Nach dem Versicherungsvertrag sind die gesetzlichen Erben bezugsberechtigt.

21

Der Vater N. J. hat seine Ansprüche unstreitig vorprozessual an die Klägerin abgetreten.

22

1. Nach dem überzeugenden widerspruchsfreien Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. R., das insbesondere auf die unstreitigen Feststellungen des behandelnden Notarztes gemäß seinem Protokoll vom 24.12.2009 (Anlage K 3) gestützt werden konnte, war der Tod von K. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Folge einer allergischen Reaktion auf Nahrungsmittel.

23

Bei K. bestanden multiple Allergien, wobei nach dem kinderärztlichen Attest vom 18.10.2011 (Anlage K 9) die Haselnussallergie in der Testung den stärksten Ausschlag gegeben hatte.

24

Nach den glaubhaften Schilderungen der Klägerin hatte K. Körper bereits in der Vergangenheit mit Juckreiz im Mund und Erbrechen auf Nussverzehr reagiert, wobei bei Erdnüssen bereits ein Kontakt mit den Spuren, die bei anderen Personen nach dem Verzehr von Erdnüssen an den Händen hafteten, bei K. massive Schwellungen verursacht hatte.

25

Auch am Abend des 24.12.2009 klagte K., die sich nach Angaben der Klägerin übergeben musste, über Juckreiz im Mund, was nach dem vorliegenden Sachverständigengutachten (dort auf S. 6 = Bl. 88 d.A.) typisch für ein orales Allergiesymptom ist.

26

Begleitend können Schwellungen von Lippen, Zunge oder Gaumen auftreten.

27

Die vom Notarzt dokumentierten massiven Schwellungen im Mund-/Rachenbereich, die die Intubation stark erschwerten (S. 2 unten von Anlage K 3), waren nach den Ausführungen der medizinischen Sachverständigen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch eine allergische Reaktion entstanden.

28

Insbesondere die vom Notarzt und der Klägerin berichteten Schwellungen im Hals-/Zungenbereich würden in Verbindung mit dem Juckreiz gegen andere in Betracht kommende Ursachen (Nesselfieber oder Reaktion auf Medikamente) sprechen.

29

Welches Nahrungsmittel der Auslöser war, ist aus gutachterlicher Sicht retrospektiv nicht zu klären, ist aber auch nicht entscheidungserheblich.

30

Der Senat geht nach den Schilderungen der Klägerin, die sich mit den objektiven Befunden decken, davon aus, dass K. unbemerkt Schokoladetäfelchen von dem gedeckten Weihnachtstisch gegessen hat, die möglicherweise Nussbestandteile beinhalteten.

31

2. Nach Ansicht des Senats stellt das hier streitgegenständliche versehentliche bzw. unbewusste Verzehren von Allergenen zusammen mit anderen Nahrungsstoffen einen versicherten Unfall dar.

32

2.1. Nach den vorliegenden Vertragsbedingungen (Anlage K 7) bietet die Beklagte Versicherungsschutz bei unfallbedingten Gesundheitsschädigungen (Ziff. 1 GUB 99-Euro).

33

Lebensmittelvergiftungen, die auf die Aufnahme verunreinigter, giftiger und zersetzter Lebensmittel zurückzuführen sind, unterliegen dem Unfallbegriff (vgl. Grimm, AUB, 4. Aufl., Rn. 92 zu Ziffer 5. AUB 99).

34

Nach Ziffer 5.2.4 GUB sind Beeinträchtigungen durch Vergiftungen infolge Einnahme fester oder flüssiger Stoffe durch den Schlund ausgeschlossen.

35

Durch die ebenfalls vertragsgegenständlichen „Allgemeine(n) Verbesserungen zu den GUB 99-Euro mit besonderer Gliedertaxe“, wird u.a. Ziffer 5.2.4. GUB dahingehend abgeändert, dass Lebensmittelvergiftungen und Vergiftungen bei Kindern bis 14 Jahren infolge Einnahme flüssiger oder fester Stoffe doch mitversichert sind (Anlage K 7).

36

2.2. Ein Unfall liegt im Privatversicherungsrecht nach § 178 Abs. 2 VVG (hier anwendbar nach Art. 1 Abs. 1 und 2 EGVVG) vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper einwirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.

37

Dabei bezieht sich das Merkmal der Unfreiwilligkeit, die bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird (§ 178 Abs. 2 Satz 2 VVG) nicht auf die Einwirkung von außen, sondern auf die dadurch bewirkte Gesundheitsschädigung (vgl. BGH VersR 1985, 177, 178).

38

Ähnlich lautet die Definition im Sozialversicherungsrecht in § 8 S. 2 SGB VII, wonach Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse sind, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.

39

Hierzu hat das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen am 31.1.2006 (Az. L 15 U 147/04) entschieden, dass der Tod eines auf Nüsse allergischen Arbeitnehmers aufgrund eines anaphylaktischen Schocks mit Kreislaufstillstand nach dem Verzehr eines Palatschinkens mit darin enthaltenen Nüssen bei einem Arbeitsessen Folge eines Arbeitsunfalls sei.

40

Das Landessozialgericht hat überzeugend ausgeführt, dass die für den Unfallbegriff erforderliche äußere Einwirkung darin liege, dass die in dem Palatschinken enthaltenen Allergene eine krankhafte Störung im Körperinneren des Versicherten hervorgerufen habe (Rn. 18 in Juris).

41

Wie in dieser Entscheidung dargelegt, dient auch im Privatversicherungsrecht das Erfordernis des von außen auf den Körper einwirkenden Ereignisses der Abgrenzung zu dem nur inneren Körpervorgang. Als Einwirkung von außen wird auch der Entzug lebensnotwendiger Stoffe gesehen (vgl. Knappmann in Prölss/Marin, VVG, 28. Aufl., Rn. 3 zu § 178 m.w.N.).

42

Das maßgebliche Ereignis, das im vorliegenden Fall die erste Gesundheitsschädigung unmittelbar ausgelöst hat, war das Aufeinandertreffen (nusshaltiger) Schokolade auf die Mundschleimhaut von K. Diese wirkte von außen ein. Die weitere Wirkungskette aufgrund der Lebensmittelallergie ist ebenso wenig entscheidend wie die körperintern wirkende toxische Reaktion eines Giftstoffes.

43

Da die gesundheitsschädigende Einwirkung der Allergene auf den Körper von K. unfreiwillig und plötzlich, nämlich unerwartet innerhalb eines kurzen Zeitraums (vgl. hierzu Knappmann, a.a.o., Rn. 13, 14 zu § 178), erfolgte, liegt nach der Definition des § 178 Abs. 2 VVG im vorliegenden Fall ähnlich einer durch verunreinigte Nahrung hervorgerufenen Lebensmittelvergiftung ein Unfallgeschehen vor.

44

Auf die Frage einer (analogen) Anwendung der Mitversicherung von Kindern bis 14 Jahren bei Vergiftungen kommt es daher nicht mehr an.

45

3. Die Leistungspflicht der Beklagten vermindert sich nicht gemäß Ziffer 3 der GUB wegen der Mitwirkung bereits vorhandener Krankheiten oder Gebrechen bei den Unfallfolgen.

46

Hierfür hat die Beklagte den Vollbeweis zu führen (§ 182 VVG, BGH VersR 2012, 92 = NJW 2012, 392).

47

Unter Krankheit i.S. dieser Klausel versteht man einen regelwidrigen Körperzustand, der eine ärztliche Behandlung erfordert (vgl. Grimm, a.a.O., Rn. 2 zu Ziffer 3 AUB 99).

48

Alleine die allergische Reaktionsbereitschaft stellt keine Krankheit dar (vgl. OLG Nürnberg, VersR 1995, 825). Die gegenteiligen, nicht näher begründeten Auffassungen des OLG Braunschweig (VersR 1995, 823) und des OLG Frankfurt (RuS 1996, 421) überzeugen nicht.

49

Das OLG Braunschweig hat selbst zutreffend ausgeführt, dass die bloße erhöhte Empfänglichkeit für Krankheiten infolge der individuellen Körperdisposition kein Gebrechen und keine relevante Krankheit ist.

50

Nach den Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. R. (S. 5 des Gutachtens = Bl. 87 d.A.) ist eine allergische Reaktion definiert als eine erworbene, krankmachende, immunologisch vermittelte Überempfindlichkeit, eine unerwünschte Immunreaktion. Krankmachende Symptome treten nach der Sensibilisierung erst bei neuerlichem Kontakt mit dem für die individuelle Person relevanten Allergen auf.

51

Solange der allergene Stoff vermieden wird, kann der allergische Versicherte also problemlos und uneingeschränkt ohne ärztliche Behandlung leben.

52

Eine Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen beim Unfallereignis selbst bleibt ohnehin außer Betracht (BGH VersR 2000, 444, 445 m.w.N.).

53

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10, 711 ZPO.

54

Die Revision wird zur Fortbildung des Rechts und Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gemäß § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zugelassen, da die nicht auf den Einzelfall beschränkten Fragen, ob eine allergische Reaktion im Zusammenhang mit dem Verzehr eines Lebensmittels den gesetzlichen und bedingungsgemäßen Unfallbegriff erfüllt, und ob eine allergische Reaktionsbereitschaft eine Krankheit i.S. des privaten Unfallversicherungsrechts darstellt, höchstrichterlich nicht geklärt sind.

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