Zur vorübergehenden Einstellung der Zwangsräumung einer Wohnung wegen Suizidgefahr des Mieters

LG Hamburg, Beschluss vom 28. August 2018 – 307 T 29/18

1. Ist im Fall einer Zwangsräumung – fachärztlich nachgewiesen – von einer konkreten und sehr hoch einzuschätzenden Suizidgefahr des Schuldners auszugehen, rechtfertigt dies eine erneute nicht unbefristete aber mehrere (hier: 8) Monate betragende einstweilige Einstellung der Vollstreckung (hier: Räumungtitel vom 02.04.2015; Einstellung nunmehr bis 31.12.2018), wenn der Schuldner nunmehr (hier: ca. 4 Jahre nach der Kündigung) intensive Bemühungen um alternativen Wohnraum glaubhaft macht.(Rn.11)

2. Eine befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung ist regelmäßig mit Auflagen zu versehen, die das Ziel haben, die Gesundheit des Schuldners wiederherzustellen (BGH, NZM 2017, 820 = WuM 2017, 668; BGH, DGVZ 2010, 149 = WuM 2017, 250; Einstellung für 4 Monate nebst Auflage an den Schuldner, sich in ambulante oder – soweit erforderlich – stationäre fachärztliche Behandlung zu begeben und deren Aufnahme dem Vollstreckungsgericht unverzüglich nachzuweisen sowie den Verlauf der Behandlung durch Vorlage von fachärztlichen Bescheinigungen darzulegen).(Rn.17)

3. Eine unbefristete Einstellung der Zwangsräumung würde voraussetzen, dass der Schuldner dauerhaft trotz ärztlicher Behandlung einer Suizidgefahr im Falle der Räumung unterliegt.(Rn.15)

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Schuldners wird der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese vom 06.10.2016, Az. 542a M 229/16, abgeändert: Die Räumungsvollstreckung aus dem Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese (531 C 222/14) vom 2.4.2015 bis zum 31.12.2018 einstweilen eingestellt. Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin wird zurückgewiesen.

2. Dem Schuldner wird auferlegt, sich weiterhin intensiv um Ersatzwohnraum sowie um die Therapie seiner diagnostizierten Suizidneigung zu bemühen.

3. Der Schuldner trägt die Kosten des Verfahrens.

4. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.631,04 € festgesetzt.

Gründe
I.

1
Der Schuldner wurde mit Anerkenntnisurteil vom 2.4.2015 verurteilt, die von ihm bewohnte Wohnung im I. …, 6. Etage links, … H. zu räumen und an die Gläubigerin herauszugeben.

2
Wegen einer für den 4.5.2016 angesetzten Räumung beantragte der Schuldner mit Schreiben vom 14.4.2016, beim Amtsgericht Hamburg-Blankenese eingegangen am 15.4.2016, Räumungsschutz und begründete dies u.a. mit einer bestehenden Suizidgefahr für den Fall der Räumung. Der Räumungsauftrag für den 4.5.2016 wurde zunächst von der Gläubigerin zurückgenommen.

3
Das Gericht stellte die Räumungsvollstreckung auf die Beschwerde des Schuldners gegen den zurückweisenden Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese vom 6.10.2016 einstweilen bis zum 31.7.2017 ein.

4
Mit Schreiben vom 17.7.2017, beim Amtsgericht Hamburg-Blankenese eingegangen am 20.7.2017, beantragte der Schuldner erneut Räumungsschutz für einen am 1.8.2017 anberaumten Räumungstermin.

5
Mit Beschluss vom 27.7.2017 stellte das Amtsgericht Hamburg-Blankenese die Zwangsvollstreckung hinsichtlich des Räumungsanspruches zunächst einstweilen bis zur Entscheidung über den Antrag, mit Beschluss vom 5.9.2017 sodann bis zum 1.4.2018 ein.

6
Mit Schreiben vom 29.3.2018, beim Amtsgericht Hamburg-Blankenese eingegangen am 4.4.2018, beantragte der Schuldner erneut Räumungsschutz für weitere 8 Monate für einen am 15.5.2018 anberaumten Räumungstermin.

7
Mit Beschluss vom 8.5.2018 stellte das Amtsgericht Hamburg-Blankenese die Zwangsvollstreckung hinsichtlich des Räumungsanspruches bis zum 1.11.2018 ein und wies den weitergehenden Antrag des Schuldners zurück. Zur Begründung führte es aus, dass eine unmittelbare Zwangsräumung gegenwärtig weiterhin eine unzumutbare Härte für den Schuldner darstelle, da der Schuldner auch nach dem aktuellen Attest des Dr. K. vom 28.03.2018 nach wie vor unter einer schweren Persönlichkeitsstörung mit wiederkehrenden depressiven Episoden und latenter Suizidneigung leide. Auch habe sich der Schuldner im Rahmen seiner krankheitsbedingt eingeschränkten Möglichkeiten bemüht, den Auflagen des Gerichts nachzukommen und sich um Ersatzwohnraum bemüht. Dies habe er insbesondere durch Vorlage des Sozial- und Verlaufsberichts für ambulante Eingliederungshilfeleistungen vom 26.4.2018 glaubhaft gemacht. Die Einstellung sei jedoch auf sechs Monate zu beschränken gewesen, da die Gläubigerin einen Titel erlangt habe, dessen Durchsetzung sie auf lange Sicht verlangen könne. Der Schuldner müsse sich weiterhin intensiv um Ersatzwohnraum kümmern und sich darauf einstellen, notfalls in eine Klinik für psychisch kranke Menschen zu ziehen.

8
Gegen diesen Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde der Gläubigerin vom 28.5.2018 und die sofortige Beschwerde des Schuldners vom 16.5.2018.

9
Das Amtsgericht Hamburg-Blankenese hat den Beschwerden nicht abgeholfen und die Beschwerden dem Landgericht Hamburg zur Entscheidung vorgelegt.

II.

10
Die zulässige sofortige Beschwerde des Schuldners ist aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die zulässige sofortige Beschwerde der Gläubigerin hingegen ist unbegründet.

1.

11
Dem Schuldner ist gemäß § 765a ZPO Vollstreckungsschutz zu gewähren. Gemäß § 765a ZPO kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist.

12
Die Entscheidung nach § 765a ZPO verlangt eine umfassende Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalls. Zu berücksichtigen ist hierbei einerseits das Interesse des Gläubigers an der Durchsetzung seines titulierten Räumungsanspruches (Art. 14 GG) sowie sein Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und andererseits die auf Seiten des Schuldners betroffenen Grundrechte, insbesondere sein Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO zu beschränken, wenn eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen ergibt, dass die der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich schwerer wiegen als das Interesse des Gläubigers an der Durchsetzung seines Räumungstitels. Aufgrund des überzeugenden fachärztlichen Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie und Innere Medizin H. vom 22.08.2017 ist für den Fall einer Zwangsräumung von einer konkreten und sehr hoch einzuschätzenden Suizidgefahr des Schuldners auszugehen. Vor dem Hintergrund dieser ärztlichen Einschätzung, der zwei ausführliche Gespräche sowie eine Auswertung des umfangreichen Schriftverkehrs zugrunde lag, sind die Interessen des Schuldners höher zu bewerten als die Interessen der Gläubigerin an der Durchsetzung ihres Räumungstitels, zumal derzeit nach Angaben der Gläubigerin die laufende Nutzungsentschädigung gezahlt wird. Ausweislich des Gutachtens kann der Suizidgefahr auch durch andere therapeutische Maßnahmen nicht anders als durch die Zurverfügungstellung eines alternativen Wohnraumes, der zur Zeit noch nicht gefunden ist, begegnet werden. Die gutachterliche Einschätzung wird bestätigt durch die aktuellere Stellungnahme des Psychiaters Dr. K. vom 28.3.2018. Auch wenn es sich hierbei nicht um ein förmliches Attest handelt, hat der Schuldner durch Vorlage der Stellungnahme des ihn seit 1 1/2 Jahren behandelnden Funktionsoberarztes zusammen mit dem ausführlichen Gutachten des Psychiaters H. seine bei einer vorstehenden Räumung akute Suizidgefährdung hinreichend glaubhaft gemacht.

13
Der Schuldner hat außerdem insbesondere durch Vorlage der Stellungnahme zum Engagement der Vereinigung P. gem. GmbH nun glaubhaft gemacht, dass er die Auflagen des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese erfüllt. Die Auflistung der konkret kontaktierten Einrichtungen und Anlaufstellen zeigt, dass sich der Schuldner in seinen, wie auch der Gutachter H. ausführt, krankheitsbedingt reduzierten Möglichkeiten intensiv um Ersatzwohnraum kümmert. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass für die Frage, ob die Bemühungen angesichts der mittlerweile verstrichenen Zeit und dem auch grundgesetzlich verbürgten Recht der Gläubigerin, aus ihrem Räumungstitel vollstrecken zu können, intensiv genug sind, um einen weitere einstweilige Einstellung der Räumungszwangsvollstreckung zu rechtfertigen, nicht auf einen durchschnittlichen Mieter, sondern auf den konkreten Schuldner abzustellen ist und somit seine krankheitsbedingten Einschränkungen zu berücksichtigen sind (BGH WuM 2017, 668 Rn. 21, zitiert nach juris).

14
Die vom Schuldner darüber hinaus angeführten Krankheiten und Behinderungen stellen dagegen keine besondere Härte der Zwangsräumung im Sinne des § 765a ZPO dar. Bezüglich dieser Krankheiten und Behinderungen droht dem Schuldner durch eine Räumung weder eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes, noch erschweren diese einen Wohnungswechsel derart, dass von einer besonderen Härte ausgegangen werden kann.

2.

15
Die Dauer des Vollstreckungsschutzes war entgegen des Beschlusses des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese zeitlich auf acht Monate zu begrenzen. Eine Einstellung der Zwangsvollstreckung auf unbestimmte Zeit ist auf absolute Ausnahmefälle beschränkt (vgl. BGH, Beschluss vom 21.1.2016, I ZB 12/15). Voraussetzung dafür wäre jedenfalls, dass eine Prognose ergeben würde, dass eine Verringerung der Suizidgefahr auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Mitwirkung des Schuldners und staatlicher Stellen ausgeschlossen erscheint. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Schuldner ist – bisher erfolglos – darum bemüht, eine Unterkunft zu finden, die sich seiner gesundheitlichen Probleme annimmt und ihm hilft, diese zu bewältigen. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Schuldner dauerhaft einer Suizidgefahr im Falle der Räumung unterliegt.

16
Jedoch hat der Schuldner nun konkrete intensive Bemühungen glaubhaft gemacht, die es als möglich erscheinen lassen, dass der Schuldner innerhalb der ihm nun gewährten Dauer des Vollstreckungsschutzes bis Ende Dezember 2018 einen alternativen Wohnraum findet. Der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg-Blankenese war daher insofern aufzuheben und die Zwangsvollstreckung einstweilen bis zum 231.12.2018 einzustellen. So steht der Schuldner bei mehreren Einrichtungen, welche betreutes Wohnen anbieten, sowie der Tagesklinik des A. W. H. (siehe Schreiben des Herrn K. vom 28.03.2018) auf der Warteliste. Es erscheint möglich, dass bis zum nun gewährten Ende der einstweiligen Einstellungen die besondere Härte der Zwangsvollstreckung durch einen Therapieplatz oder einen alternativen Wohnraum beseitigt ist.

3.

17
Dem Schuldner war die Auflage aufzuerlegen, sich weiterhin intensiv um einen alternativen Wohnraum und um die Behandlung seiner Suizidgefährdung zu kümmern, da auch die berechtigten Interessen der Gläubigerin an der Räumung der Wohnung zu berücksichtigen sind (BGH WuM 2017, 668 Rn. 26, zitiert nach juris). Sollte eine der Einrichtungen oder die Tagesklinik dem Schuldner einen Platz anbieten, so ist der Schuldner gehalten, diesen auch anzunehmen. Ansonsten stünde fest, dass er sich nicht (mehr) intensiv um alternativen Wohnraum und die Verbesserung seines Gesundheitszustandes bemüht. Eine Therapie in der Tagesklinik könnte nach Einschätzung des behandelnden Psychiaters die Suizidgefährdung des Schuldners und somit die besondere Härte der Zwangsvollstreckung beseitigen.

18
Sollte nach Ablauf der Dauer der einstweiligen Einstellung ein erneuter Antrag auf einstweilige Einstellung der Räumungsvollstreckung gestellt werden, so wäre erneut sachverständig zu überprüfen, ob der Schuldner noch akut suizidgefährdet ist, ob dieser Suizidgefährdung nicht durch andere Maßnahmen begegnet werden kann und ob der Schuldner weiterhin im Rahmen seiner Möglichkeiten den Auflagen des Gerichts nachkommt. In der Zwischenzeit ist der Schuldner gehalten, seine Bemühungen um eine Unterbringung, die seiner gesundheitlichen Genesung dient, fortzusetzen. Hierbei ist dann insbesondere das mit fortschreitendem Zeitablauf wachsende grundrechtlich geschützte Interesse der Gläubigerin an der Räumung der Wohnung zu berücksichtigen und erneut in die Abwägung einzustellen.

19
Die Kostenentscheidung beruht auf § 788 ZPO. Es liegt kein in dem Verhalten der Gläubigerin liegender Grund der Billigkeit im Sinne des § 788 IV ZPO vor, der es erforderte, der Gläubigerin die Kosten aufzuerlegen. Der Streitwert im Beschwerdeverfahren folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 41 I GKG und berücksichtigt die Nutzungsentschädigungen für 8 Monate.

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