Anspruch auf Weihnachtsgeld auf Grund betrieblicher Übung – ablösende Betriebsvereinbarung

BAG, Urteil vom 5.8.2009 – 10 AZR 483/08

Anspruch auf Weihnachtsgeld auf Grund betrieblicher Übung – ablösende Betriebsvereinbarung

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 16. April 2008 – 2 Sa 330/07 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über eine Jahressonderzuwendung (Weihnachtsgeld) für das Jahr 2006 in rechnerisch unstreitiger Höhe von 894,00 Euro brutto.

Die Beklagte stellt Fleisch- und Wurstwaren her. Der Kläger ist bei ihr und ihrer Rechtsvorgängerin seit 1969 als Angestellter beschäftigt. Über zehn Jahre lang zahlte die Beklagte ihm und ihren anderen Arbeitnehmern jeweils mit der Vergütung für November Weihnachtsgeld in Höhe eines gleichbleibenden Prozentsatzes der Bruttomonatsvergütung. Zuletzt erhielt der Kläger im Jahr 2005 Weihnachtsgeld iHv. 894,00 Euro brutto. Am 21. November 2006 schloss die Beklagte mit dem Betriebsrat folgende Betriebsvereinbarung:

„Mit Blick auf die schwierige Lage, in der sich die L aufgrund der eingeschränkten Funktionsfähigkeit der neu errichteten Rohwurstproduktionsanlage gegenwärtig befindet, vereinbaren die Betriebspartner mit einer Geltung für alle im Unternehmen tätigen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, wie folgt.

1. Für das Kalenderjahr 2006 wird keine Jahressonderzuwendung (Weihnachtsgeld) gezahlt.

2. Diese Vereinbarung beschränkt sich auf das Kalenderjahr 2006.“

Für das Jahr 2006 erhielten der Kläger und die anderen Arbeitnehmer der Beklagten kein Weihnachtsgeld.

Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte schulde ihm aus betrieblicher Übung Weihnachtsgeld für das Jahr 2006. Durch die jahrelange vorbehaltlose Zahlung des Weihnachtsgeldes sei ein vertraglicher Anspruch auf Weihnachtsgeld begründet worden. Dieser Anspruch sei durch die Betriebsvereinbarung vom 21. November 2006 für das Jahr 2006 nicht aufgehoben worden.

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 894,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15. Dezember 2006 zu zahlen.

Die Beklagte hat zu ihrem Klagabweisungsantrag die Auffassung vertreten, die Betriebsvereinbarung vom 21. November 2006 hindere einen Anspruch des Klägers auf Weihnachtsgeld für das Jahr 2006. Es gelte die Auslegungsregel, dass eine betriebliche Übung im Zweifel einen stillschweigenden Abänderungsvorbehalt zugunsten einer Betriebsvereinbarung enthalte. Die bloße wiederholte Gewährung freiwilliger Leistungen durch den Arbeitgeber könne nicht so ausgelegt werden, dass der Arbeitgeber diese Leistungen losgelöst von seiner konkreten wirtschaftlichen Situation und ohne Vorbehalt anderweitiger Absprachen mit dem Betriebsrat erbringen wolle. Im Entscheidungsfall lägen keine Umstände vor, die ein Abweichen von der Auslegungsregel rechtfertigen könnten.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des Urteils des Arbeitsgerichts. Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben.

I. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass dem Kläger aus betrieblicher Übung Weihnachtsgeld für das Jahr 2006 zusteht. Für jährlich an die gesamte Belegschaft gezahlte Gratifikationen besteht die Regel, dass eine dreimalige vorbehaltlose Gewährung zur Verbindlichkeit erstarkt (st. Rspr., vgl. BAG 18. März 2009 – 10 AZR 281/08NZA 2009, 601; 30. Juli 2008 – 10 AZR 606/07NZA 2008, 1173; 28. Juni 2006 – 10 AZR 385/05BAGE 118, 360, 368 f.). Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die Beklagte habe sich nach den Grundsätzen der betrieblichen Übung vertraglich zur Zahlung von Weihnachtsgeld verpflichtet, weil sie dem Kläger und ihren anderen Arbeitnehmern seit über zehn Jahren bis zum Jahr 2005 Weihnachtsgeld gezahlt habe, hat die Beklagte auch nicht mit Revisionsrügen angegriffen.

II. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist der Anspruch des Klägers auf Weihnachtsgeld für das Jahr 2006 nicht durch die Betriebsvereinbarung vom 21. November 2006 aufgehoben worden. Auf die Wirksamkeit dieser Betriebsvereinbarung kommt es nicht an. Die Frage, ob die Vereinbarung der Betriebsparteien, dass für das Jahr 2006 kein Weihnachtsgeld gezahlt wird, sich im Rahmen ihrer Regelungskompetenz gehalten hat, bedarf deshalb keiner Antwort. Bei dem Anspruch auf Weihnachtsgeld handelt es sich nicht um einen Anspruch auf eine Sozialleistung, sondern um einen Vergütungsanspruch. Es gilt entsprechend § 4 Abs. 3 TVG das Günstigkeitsprinzip (BAG 22. April 2009 – 5 AZR 292/08 – mwN, DB 2009, 1602). Gegenüber den Regelungen einer Betriebsvereinbarung haben günstigere einzelvertragliche Vergütungsansprüche Vorrang (vgl. BAG 10. Oktober 2006 – 1 ABR 59/05 – AP BetrVG 1972 § 77 Tarifvorbehalt Nr. 24 = EzA BetrVG 2001 § 77 Nr. 18).

1. Nach der vom Bundesarbeitsgericht in ständiger Rechtsprechung vertretenen Vertragstheorie werden durch eine betriebliche Übung vertragliche Ansprüche der Arbeitnehmer auf die üblich gewordenen Leistungen begründet (vgl. 18. März 2009 – 10 AZR 281/08 – mwN, NZA 2009, 601). Ein im Arbeitsvertrag vereinbarter Anspruch des Arbeitnehmers auf eine Gratifikation kann nur durch Kündigung oder vertragliche Abrede unter Vorbehalt gestellt, verschlechtert oder beseitigt werden. Da eine dreimalige vorbehaltlose Gratifikationszahlung den Arbeitgeber vertraglich zur Leistung verpflichtet, kann er einen nach den Grundsätzen der betrieblichen Übung entstandenen Anspruch des Arbeitnehmers auf Weihnachtsgeld ebenso wie einen im Arbeitsvertrag geregelten Weihnachtsgeldanspruch auch nur durch Kündigung oder eine entsprechende Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer beseitigen. Der nach den Grundsätzen der betrieblichen Übung entstandene Rechtsanspruch ist kein vertraglicher Anspruch minderer Rechtsbeständigkeit. Der Arbeitgeber kann ihn daher im Vergleich zu einem durch ausdrückliche arbeitsvertragliche Abrede begründeten Anspruch des Arbeitnehmers nicht unter erleichterten Voraussetzungen zu Fall bringen (18. März 2009 – 10 AZR 281/08 – aaO; vgl. Henssler FS 50 Jahre Bundesarbeitsgericht S. 683, 706; ErfK/Preis 9. Aufl. § 611 BGB Rn. 225). Deshalb ist ein durch betriebliche Übung begründeter Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers ebenso wie ein im Arbeitsvertrag vereinbarter Entgeltanspruch des Arbeitnehmers ohne entsprechende Abrede der Arbeitsvertragsparteien auch nicht grundsätzlich „betriebsvereinbarungsoffen“. Einer solchen Annahme steht darüber hinaus auch entgegen, dass die Grundsätze der betrieblichen Übung ohne Unterschied gelten, ob in einem Betrieb ein Betriebsrat gebildet oder nicht gebildet ist und ob ein Betrieb hinsichtlich der Zahl der wahlberechtigten und wählbaren Arbeitnehmer die Voraussetzungen des § 1 BetrVG zur Wahl eines Betriebsrats erfüllt oder ob es sich um einen Kleinstbetrieb handelt.

2. Will ein Arbeitgeber verhindern, dass im Verhältnis zu einer Betriebsvereinbarung das Günstigkeitsprinzip gilt und dem Arbeitnehmer günstigere einzelvertragliche Abreden über eine Sonderzahlung gegenüber den in einer Betriebsvereinbarung getroffenen Regelungen Vorrang haben, darf er die Sonderzahlung nicht jahrelang ohne jeden Vorbehalt leisten.

a) Auch eine mündliche oder durch betriebliche Übung begründete Vertragsbedingung, die der Arbeitgeber für eine Vielzahl von Arbeitsverhältnissen verwendet, ist eine Allgemeine Geschäftsbedingung (BAG 27. August 2008 – 5 AZR 820/07 – AP BGB § 307 Nr. 36 = EzA TVG § 4 Tariflohnerhöhung Nr. 49). Nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB kann sich eine zur Unwirksamkeit der Klausel führende unangemessene Benachteiligung (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB) daraus ergeben, dass die Klausel nicht klar und verständlich ist. Die tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen müssen in einer Vertragsklausel deshalb so genau beschrieben werden, dass für den Verwender keine ungerechtfertigten Beurteilungsspielräume entstehen. Eine Klausel hat vielmehr im Rahmen des rechtlich und tatsächlich Zumutbaren die Rechte und Pflichten des Vertragspartners so eindeutig und so verständlich wie möglich darzustellen (BAG 27. August 2008 – 5 AZR 820/07 – aaO).

b) In der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist anerkannt, dass ein Widerrufsvorbehalt, der das Recht des Arbeitgebers begründen soll, versprochene Leistungen einseitig zu ändern, dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB genügen und hinsichtlich der Voraussetzungen und des Umfangs der vorbehaltenen Änderungen so konkret formuliert sein muss, dass der Arbeitnehmer erkennen kann, was gegebenenfalls „auf ihn zukommt“ (vgl. 11. Oktober 2006 – 5 AZR 721/05 – AP BGB § 308 Nr. 6 = EzA BGB 2002 § 308 Nr. 6; 12. Januar 2005 – 5 AZR 364/04BAGE 113, 140, 146). Ebenso muss der Arbeitgeber einen Freiwilligkeitsvorbehalt bei Sonderzahlungen, der einen Rechtsanspruch des Arbeitnehmers auf künftige Leistungen ausschließen soll, so klar und verständlich abfassen, dass der Arbeitnehmer gemäß dem Sinn und Zweck des Transparenzgebots den Vertragsinhalt sachgerecht beurteilen und erkennen kann, dass er keinen Rechtsanspruch auf künftige Leistungen hat (vgl. BAG 18. März 2009 – 10 AZR 289/08NZA 2009, 535; 21. Januar 2009 – 10 AZR 219/08 – EzA BGB 2002 § 307 Nr. 41; 10. Dezember 2008 – 10 AZR 1/08AP BGB § 307 Nr. 40 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 40; 30. Juli 2008 – 10 AZR 606/07AP BGB § 611 Gratifikation Nr. 274 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 38; 24. Oktober 2007 – 10 AZR 825/06 – AP BGB § 307 Nr. 32 = EzA BGB 2002 § 307 Nr. 26).

c) Will ein Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern eine Sonderzahlung unter dem Vorbehalt einer ablösenden Betriebsvereinbarung leisten, muss dieser Vorbehalt ebenso wie ein Widerrufs- oder Freiwilligkeitsvorbehalt dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB genügen. Bringt der Arbeitgeber nicht hinreichend klar und verständlich zum Ausdruck, dass er die Sonderzahlung „betriebsvereinbarungsoffen“ leisten will, kann ein „durchschnittlicher“, verständiger Arbeitnehmer dies nicht erkennen. Der Auffassung der Beklagten, ein verständiger Arbeitnehmer müsse auch ohne einen entsprechenden ausdrücklichen Vorbehalt des Arbeitgebers annehmen, dass ein durch betriebliche Übung begründeter Anspruch auf eine Sonderzahlung durch eine Betriebsvereinbarung geändert oder aufgehoben werden könne, trägt nicht. Die Arbeitsvertragsparteien sind rechtlich nicht befugt, das Verhältnis der Betriebspartner untereinander zu regeln, unabhängig davon, ob die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats beschränkt oder erweitert werden sollen. Eine derartige Befugnis widerspräche dem System der Betriebsverfassung (BAG 23. April 2009 – 6 AZR 263/08ZIP 2009, 1294). Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Aufgrund dieser Regelungssperre sind die Betriebsparteien regelmäßig gehindert, Betriebsvereinbarungen über Weihnachtsgeld und andere Sonderzahlungen abzuschließen. Die Regelung von Sonderzahlungen wie Weihnachtsgeld durch Tarifvertrag ist üblich. Selbst wenn der in § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG verankerte Tarifvorrang nicht sperrt oder ein Tarifvertrag gemäß § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen über Sonderzahlungen ausdrücklich zulässt, muss ein verständiger Arbeitnehmer daraus noch nicht schließen, eine ihm ohne einen Vorbehalt des Arbeitgebers geleistete Sonderzahlung stehe unter dem „stillschweigenden“ Vorbehalt einer ablösenden freiwilligen Betriebsvereinbarung nach § 88 BetrVG.

d) Ohne Bedeutung ist, dass der Anspruch des Klägers auf Weihnachtsgeld durch betriebliche Übung schon vor dem Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes am 1. Januar 2002 begründet worden ist. Zwar unterliegen Vorbehalte eines Arbeitgebers bei der Leistung von Sonderzahlungen an seine Arbeitnehmer erst unter der neuen Gesetzeslage den Bindungen des AGB-Rechts und müssen einer Kontrolle nach den §§ 305 ff. BGB standhalten. Die Beklagte hat dem Kläger jedoch auch nach dem Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes in den Jahren 2002 bis 2005 – und damit mehr als dreimal – jeweils mit der Vergütung für November Weihnachtsgeld ohne einen dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB genügenden Vorbehalt gezahlt.

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