BGH, Urteil vom 26. 1. 2016 – VI ZR 179/15
a) Die Vorschrift des § 9 Abs. 5 StVO ist auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter nicht unmittelbar anwendbar. Mittelbare Bedeutung erlangt sie aber über § 1 StVO.
b) Entsprechend der Wertung des § 9 Abs. 5 StVO muss sich auch derjenige, der auf einem Parkplatz rückwärts fährt, so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann.
c) Kollidiert der Rückwärtsfahrende mit einem anderen Fahrzeug, so können zugunsten desjenigen, der sich auf ein unfallursächliches Verschulden des Rückwärtsfahrenden beruft, die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung kommen. Steht fest, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignete, der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt selbst also noch nicht stand, so spricht auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende der dargestellten Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit) verursacht hat.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Gera vom 27. Februar 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Klägerin nimmt die Beklagten nach einem Verkehrsunfall auf restlichen Schadensersatz in Anspruch.
Im Dezember 2012 kollidierte die Beklagte zu 1 mit ihrem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw mit dem Pkw der Klägerin. Der Zusammenstoß ereignete sich auf dem Kundenparkplatz eines Einkaufszentrums. Mit der Behauptung, die Klägerin treffe eine Mithaftung von 40 %, regulierte die Beklagte zu 2 den am Fahrzeug der Klägerin entstandenen, der Höhe nach unstreitigen Schaden zu 60 %. Die restlichen 40 %, einen Betrag von 939,88 €, macht die Klägerin – soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse – mit ihrer Klage geltend.
Die Klägerin hat behauptet, sie sei zunächst hinter dem Fahrzeug der Beklagten zu 1 hergefahren. Diese habe dann versucht, in eine Parklücke einzuparken. Sie, die Klägerin, sei dabei mit ihrem Pkw – quer zur Parklücke – hinter dem Fahrzeug der Beklagten zu 1 gestanden. Da es der Beklagten zu 1 nicht gelungen sei, ganz in die Parklücke einzufahren, habe diese den Rückwärtsgang eingelegt und sei aus der Parklücke rückwärts wieder herausgefahren. Dabei sei das Fahrzeug der Beklagten zu 1 mit demjenigen der Klägerin, das zu diesem Zeitpunkt gestanden habe, kollidiert. Sie, die Klägerin, habe diesen Unfall nicht vermeiden können. Ein Zurücksetzen ihrerseits sei schon deshalb nicht in Betracht gekommen, weil sich hinter ihr ein anderes Fahrzeug befunden habe; ein Hupen, um die Beklagte zu 1 auf sich aufmerksam zu machen, sei ihr ebenfalls nicht möglich gewesen.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landgericht hat die von der Klägerin dagegen geführte Berufung zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche weiter.
Gründe
I.
Das Berufungsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe aus dem Unfallereignis kein über die bereits erfolgte Regulierung des Schadens hinausgehender Schadensersatzanspruch zu. Dies folge aus dem Ergebnis der gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG vorzunehmenden Abwägung. Einzustellen seien dabei im Streitfall allein die – gleich zu wertenden – Betriebsgefahren der beiden Fahrzeuge. Ein für den Unfall ursächliches Verschulden der Fahrzeugführer stehe indes nicht fest.
Auf einen Verstoß der Beklagten zu 1 gegen § 9 Abs. 5 StVO könne sich die Klägerin schon deshalb nicht berufen, weil die Bestimmung auf Unfälle auf einem Parkplatz nicht unmittelbar anwendbar sei. Ein für den Unfall ursächlicher Verstoß der Beklagten zu 1 gegen § 1 StVO stehe nicht fest. Zwar könne nicht fraglich sein, dass vor dem (Rückwärts-)Ausparken neben dem von der Beklagten zu 1 angegebenen Blick über die rechte Schulter auch der Blick unmittelbar nach hinten und über die linke Schulter erforderlich sei. Das in einem unzureichenden Blick nach hinten liegende Verschulden hätte sich aber nur dann ausgewirkt, wenn bei Beginn des Ausparkvorgangs erkennbar gewesen wäre, dass mit dem Ausparken eine Gefährdung des gegnerischen Fahrzeugs einhergehe und der Ausparkvorgang deshalb hätte abgebrochen werden müssen bzw. gar nicht hätte eingeleitet werden dürfen. Davon könne im Streitfall nicht ausgegangen werden, da nicht feststehe, wo sich das Fahrzeug der Klägerin im Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung (spätestens bei Aufleuchten des Rückscheinwerfers am Fahrzeug der Beklagten zu 1) befunden habe und ob es in Bewegung gewesen sei.
Schließlich nehme die Kammer einen Anscheinsbeweis dafür, dass ein Verschulden des rückwärts Ausparkenden ursächlich für den Unfall gewesen sei, nicht an. Es fehle im Hinblick auf die auf einem Parkplatz bestehenden Besonderheiten an einem hierfür erforderlichen typischen Geschehensablauf. Wenn es beim Rückwärtsausparken zu einem Unfall komme, sei es gerade nicht typisch, dass allein den Ausparkenden ein Vorwurf treffe und der Unfallgegner den ihm aufzuerlegenden, ebenfalls erhöhten Sorgfaltspflichten genügt habe.
II.
Das Berufungsurteil hält revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Mit den Erwägungen des Berufungsgerichts lässt sich ein Anspruch der Klägerin auf weiteren Schadensersatz nicht verneinen. Mit Erfolg beanstandet die Revision die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verantwortungsbeiträge nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG.
a) Grundsätzlich ist die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG – wie im Rahmen des § 254 BGB – Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (Senatsurteile vom 27. Mai 2014 – VI ZR 279/13, VersR 2014, 894 Rn. 18; vom 7. Februar 2012 – VI ZR 133/11, VersR 2012, 504 Rn. 5 mwN). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (Senatsurteile vom 27. Mai 2014 – VI ZR 279/13, aaO, mwN; vom 7. Februar 2012 – VI ZR 133/11, aaO, mwN). Einer Überprüfung nach diesen Grundsätzen hält die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung nicht stand. Auf der Grundlage des im Revisionsverfahren maßgeblichen Sachverhalts kann nicht ausgeschlossen werden, dass in die Abwägung zu Lasten der Beklagten ein Verschulden der Beklagten zu 1 hätte eingestellt werden müssen.
b) Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Berufungsgericht freilich davon aus, dass ein solches Verschulden nicht aus einem Verstoß der Beklagten unmittelbar gegen § 9 Abs. 5 StVO hergeleitet werden kann. Die Vorschrift ist auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter nicht unmittelbar anwendbar (Senatsurteil vom 15. Dezember 2015 – VI ZR 6/15, Rn. 11). Mittelbare Bedeutung erlangt § 9 Abs. 5 StVO aber über § 1 StVO. Entsprechend der Wertung des § 9 Abs. 5 StVO muss sich auch derjenige, der auf einem Parkplatz rückwärts fährt, so verhalten, dass er sein Fahrzeug notfalls sofort anhalten kann (Senat aaO). Kollidiert der Rückwärtsfahrende mit einem anderen Fahrzeug, so können zugunsten desjenigen, der sich auf ein unfallursächliches Verschulden des Rückwärtsfahrenden beruft, die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung kommen. Steht fest, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignete, der Rückwärtsfahrende zum Kollisionszeitpunkt selbst also noch nicht stand, so spricht auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrende der dargestellten Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall dadurch (mit)verursacht hat (vgl. Senat aaO, Rn. 14 f.).
c) Nach diesen – vom erkennenden Senat erst nach Erlass des Berufungsurteils entwickelten – Grundsätzen hätte, was der Senat im Revisionsverfahren überprüfen darf (z.B. Senatsurteile vom 26. März 2013 – VI ZR 109/12, VersR 2013, 1000 Rn. 27; vom 16. März 2010 – VI ZR 64/09, VersR 2010, 627 Rn. 16 mwN), auf der Grundlage des revisionsrechtlich maßgeblichen Sachverhalts davon ausgegangen werden müssen, dass der Beweis des ersten Anscheins für ein unfallursächliches Verschulden der Beklagten zu 1 spricht. Denn die Klägerin hat ausweislich der tatbestandlichen Feststellungen des Berufungsurteils vorgetragen, die aus der Parklücke rückwärts (wieder) ausfahrende Beklagte zu 1 sei auf das im Kollisionszeitpunkt bereits stehende Fahrzeug der Klägerin aufgefahren. Davon abweichende Feststellungen hat das Berufungsgericht nicht getroffen, weshalb dieser Vortrag im Revisionsverfahren zu unterstellen ist. Umstände, die den Anscheinsbeweis erschüttern, hat das Berufungsgericht ebenfalls nicht festgestellt.
2. Die angefochtene Entscheidung beruht auf dem dargestellten Rechtsfehler (§ 545 Abs. 1 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Klägerin mehr als die ihr von der Beklagten zu 2 bereits gezahlten 60 % des Schadens zu ersetzen sind, wenn bei der nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmenden Abwägung der Verursachungs- und Verantwortungsbeiträge ein schuldhafter Verstoß der Beklagten zu 1 gegen § 1 StVO berücksichtigt wird.
3. Für das weitere Verfahren und die dabei neu vorzunehmende Abwägung der Verursachungs- und Verantwortungsbeiträge wird auf Folgendes hingewiesen:
Das Berufungsgericht wird unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats die Frage zu klären haben, ob der Beklagten zu 1 ein Verschuldensvorwurf zu machen ist, der bei der Abwägung zu Lasten der Beklagten zu berücksichtigen wäre. Gegebenenfalls wird sich das Berufungsgericht auch mit der unabhängig davon zu beurteilenden Frage zu befassen haben, ob der Unfall auch auf einem Verschulden der Klägerin beruht. Im Hinblick auf ein mögliches Mitverschulden der Klägerin wird zu berücksichtigen sein, dass das dafür erforderliche sorgfaltspflichtwidrige Verhalten der Klägerin, sollte es nicht unstreitig sein, ebenfalls positiv festgestellt werden muss.