BGH, Urteil vom 13.09.2016 – VI ZR 239/16
Zum Erfordernis der nochmaligen Aufklärung der Schwangeren über die Möglichkeit der Schnittentbindung bei nachträglicher Veränderung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses der verschiedenen Geburtswege.(Rn.6)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Dem Kläger wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 10. Februar 2016 gewährt.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das vorbezeichnete Urteil aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 300.000 €
Gründe
I.
1
Der Kläger, der am 9. Februar 2005 nach 31 + 1 Schwangerschaftswochen in der Frauenklinik der Beklagten geboren wurde und infolge einer Hirnschädigung unter schweren körperlichen und geistigen Behinderungen leidet, nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung über die Möglichkeit der Sectio auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.
2
Die Mutter des Klägers wurde am 27. Januar 2005 nach 29 + 2 Schwangerschaftswochen wegen vorzeitiger Wehen in dem von der Beklagten betriebenen Krankenhaus stationär aufgenommen. Während der Schwangerschaft waren bei ihr wiederholt Nierenbeckenentzündungen aufgetreten. Außerdem litt sie unter Schwangerschaftsdiabetes. Am Tag ihrer stationären Aufnahme wurden Entzündungsparameter nachgewiesen. Die Leukozyten und der CRP-Wert waren deutlich erhöht. Bei einer Sonographie der Nieren wurde ein Harnstau auf beiden Seiten festgestellt. Der Mutter des Klägers wurden wehenhemmende Mittel und Antibiotika verabreicht. Darüber hinaus erfolgte eine medikamentöse Induktion der fetalen Lungenreife durch zweimalige Verabreichung von Celestan. Die Mutter des Klägers wurde außerdem über die Möglichkeit eines Kaiserschnitts aufgeklärt. Sie entschied sich für eine vaginale Entbindung.
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Nach einem vorzeitigen Blasensprung in den frühen Morgenstunden des 9. Februar 2005 wurden die wehenhemmenden Mittel abgesetzt und die Mutter des Klägers unter fortlaufender CTG-Registrierung an einen Wehentropf angeschlossen. Ab 15.50 Uhr verzeichnete das CTG einen zunehmend auffälligen Verlauf der fetalen Herzfrequenz. Ab etwa 16.25 Uhr zeigte das CTG ein pathologisches Muster. Um 16.42 Uhr fassten die behandelnden Ärzte den Entschluss zur Notsectio. Der Kläger wurde um 16.59 Uhr geboren und musste reanimiert werden. Bis zum 18. Februar 2005 wurde er beatmet. Wegen verschiedener subarachnoidaler und epikranieller Blutungen, akuten Nierenversagens, Leberinfarkts, Cholestase bei Leberinfarkt und Hämolyse sowie akuter Blutungsanämie und cerebralen Krampfanfällen ist er schwerstbehindert. Eine histologische Untersuchung der Plazenta nach der Geburt des Klägers ergab das Vorliegen einer akuten eitrigen Chorioamnionitis bei der Mutter des Klägers. Das Landgericht hat mehrere Behandlungsfehler angenommen, die es in ihrer Gesamtheit als grob qualifiziert hat. Es hat festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger den im Zusammenhang mit seiner Geburt am 9. Februar 2005 entstandenen und noch entstehenden immateriellen und materiellen Schaden zu ersetzen, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist oder übergeht. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 27. Februar 2013 zurückgewiesen, deren Haftung allerdings auf eine unzureichende Aufklärung über Behandlungsalternativen gestützt und den Feststellungsausspruch zur Klarstellung dahingehend umformuliert, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger den aus dem ohne wirksame Einwilligung erfolgten Versuch einer vaginalen Geburt mit anschließender Notsectio am 9. Februar 2005 entstandenen und noch entstehenden immateriellen und materiellen Schaden zu ersetzen, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist oder übergeht. Mit Versäumnisurteil vom 28. Oktober 2014 (VI ZR 125/13) hat der Senat dieses Urteil aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Mit Urteil vom 10. Februar 2016 hat das Oberlandesgericht das landgerichtliche Urteil auf die Berufung der Beklagten aufgehoben und die Klage abgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
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Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagten könne nicht vorgeworfen werden, die Mutter des Klägers nach dem Blasensprung in der Nacht vom 8./9. Februar 2005 nicht noch einmal über die Möglichkeit der Schnittentbindung aufgeklärt zu haben, beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
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1. Das Berufungsgericht hatte im ersten Urteil in dieser Sache angenommen, die Ärzte der Beklagten hätten die Mutter des Klägers trotz der bereits am 27. Januar 2005 erfolgten Aufklärung über die Möglichkeit der Schnittentbindung am 8. Februar 2005 nochmals über diese Behandlungsalternative unterrichten müssen. Der Senat hat diese Beurteilung beanstandet, weil sie von den getroffenen Feststellungen nicht getragen wurde (Urteil vom 28. Oktober 2014 – VI ZR 125/13, VersR 2015, 579 Rn. 5). Eine nochmalige Aufklärung der Schwangeren über die Möglichkeit der Schnittentbindung ist nur dann geboten, wenn sich nachträglich – sei es aufgrund einer Veränderung der Situation, sei es aufgrund neuer Erkenntnisse – Umstände ergeben, die zu einer entscheidenden Veränderung der Einschätzung der mit den verschiedenen Entbindungsmethoden verbundenen Risiken und Vorteile führen und die unterschiedlichen Entbindungsmethoden deshalb in neuem Licht erscheinen lassen. In einem solchen Fall hat der Arzt die Schwangere zur Wahrung ihres Selbstbestimmungsrechts und ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit über das veränderte Nutzen-Risiko-Verhältnis – beispielsweise über nachträglich eingetretene oder erkannte Risiken der von ihr gewählten Entbindungsmethode – zu informieren und ihr eine erneute Abwägung der für und gegen die jeweilige Behandlungsalternative sprechenden Gründe zu ermöglichen (Senatsurteil vom 28. Oktober 2014 – VI ZR 125/13, VersR 2015, 579 Rn. 8). Der Senat hat das angefochtene Urteil aufgehoben, weil das Berufungsgericht keine Feststellungen zu diesen Voraussetzungen getroffen hatte. Es hatte insbesondere nicht festgestellt, dass die mit einer vaginalen Entbindung verbundenen Risiken für den Kläger aufgrund nachträglich eingetretener Umstände oder Erkenntnisse höher einzuschätzen waren als am 27. Januar 2005. Das Berufungsgericht hatte lediglich darauf verwiesen, dass mit dem Blasensprung der Verdacht eines Amnioninfektionssyndroms nahegelegen und die Schnittentbindung nunmehr als gleichwertige Behandlungsalternative zu einer vaginalen Entbindung habe angesehen werden müssen. Feststellungen dazu, dass die Vaginalgeburt deshalb als mit höheren Risiken behaftet einzuschätzen war als vor dem Blasensprung, hatte das Berufungsgericht dagegen nicht getroffen (vgl. Senatsurteil vom 28. Oktober 2014 – VI ZR 125/13, VersR 2015, 579 Rn. 10).
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2. Die Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts im nunmehr angefochtenen Urteil, die Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung der Frage, ob eine Sectio oder eine vaginale Entbindung durchgeführt werden sollte, habe sich nach dem 27. Januar 2005 nicht entscheidend verändert. Sie beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht, wesentliche, dem Kläger günstige Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. St. in der mündlichen Verhandlung vom 15. Oktober 2015 unberücksichtigt gelassen hat.
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a) Prof. Dr. St. hatte angegeben, nach dem Blasensprung sei eine Änderung der Risikosituation im Vergleich zum 27. Januar 2005 eingetreten. Bei dem Aufklärungsgespräch am 27. Januar 2005 habe zwar die Möglichkeit einer Frühgeburt bestanden. Diese sei aber noch nicht konkret gewesen. Bei dem Aufklärungsgespräch habe die Situation auf eine Harnwegsinfektion hingedeutet. Ein Harnwegsinfekt führe aber in der Regel nicht zu einem Blasensprung. Auf die Frage, ob sich die mechanische Belastung durch den Blasensprung verändert habe, gab der Sachverständige an, dass bei einer vaginalen Frühgeburt die Prämisse bestehe, die Blase nach Möglichkeit stehen zu lassen. Das Fruchtwasserkissen habe eine gewisse abfedernde Wirkung, was auch dem Zweck diene, mechanische Belastungen zu reduzieren. Frühgeburten seien besonders sensibel im Hinblick auf mechanische Belastungen. Er selbst hätte nach dem Blasensprung nochmals aufgeklärt. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend macht, ist diesen Angaben zu entnehmen, dass mit dem Blasensprung die abfedernde Wirkung des Fruchtwasserkissens verloren gegangen war und der Kläger den von einer vaginalen Geburt ausgehenden mechanischen Belastungen – abweichend von der am 27. Januar 2005 gegebenen Situation – ungeschützt ausgesetzt war.
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b) Mit diesen Angaben des Sachverständigen ist die Beurteilung des Berufungsgerichts nicht vereinbar, nach den Einschätzungen des Sachverständigen habe sich an den Gefahren des vaginalen Geburtswegs durch den Blasensprung „nichts wesentlich verändert“. Soweit das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang darauf verwiesen hat, dass bei der Mutter des Klägers Wehenbereitschaft bestanden habe und man ex ante davon habe ausgehen können, die Geburt werde innerhalb von 24 Stunden von statten gehen, hat es übersehen, dass sich die diesbezüglichen Ausführungen des Sachverständigen allein auf die Frage bezogen, ob eine vaginale Geburt überhaupt noch in Betracht kam. Hiervon war nach Ausführungen des Sachverständigen nur dann auszugehen, wenn „diese zügig von statten ging“. Gleiches gilt für die vom Berufungsgericht wiedergegebene Auffassung, ein Kaiserschnitt sei nach dem Blasensprung nicht geboten gewesen. Dies besagt nur, dass die vaginale Geburt eine medizinisch verantwortbare Alternative darstellte und das Absehen von der Sectio nicht behandlungsfehlerhaft war. Auch hierauf weist die Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend hin.
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c) Die unter a) aufgezeigten, ihm günstigen Ausführungen des Sachverständigen hat sich der Kläger zumindest konkludent zu Eigen gemacht (vgl. Senatsurteil vom 8. Januar 1991 – VI ZR 102/90, VersR 1991, 467, 468 mit Anm. Jaeger; Senatsbeschlüsse vom 10. November 2009 – VI ZR 325/08, VersR 2010, 497 Rn. 5; vom 4. Dezember 2012 – VI ZR 320/11, juris Rn. 4; vom 14. Januar 2014 – VI ZR 340/13, VersR 2014, 632 Rn. 11; vom 24. März 2015 – VI ZR 179/13, NJW 2015, 2125 Rn. 17). Die Nichtberücksichtigung der seine Rechtsposition stützenden Ausführungen des Sachverständigen bedeutet, dass erhebliches Vorbringen des Klägers im Ergebnis übergangen und damit dessen verfassungsrechtlich gewährleisteter Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt worden ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom 1. Juli 2014 – VI ZR 243/10, juris Rn. 8; vom 14. Januar 2014 – VI ZR 340/13, VersR 2014, 632 Rn. 11; vom 16. August 2016 – VI ZR 634/15, zVb).
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3. Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung der Angaben des Sachverständigen zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre (vgl. Senatsbeschluss vom 17. Dezember 2013 – VI ZR 230/12, VersR 2014, 586 Rn. 7 mwN). Dies gilt in besonderem Maße vor dem Hintergrund, dass sich das Berufungsgericht vor Erlass des ersten Urteils in dieser Sache davon überzeugt hatte, dass die unterlassene Aufklärung über die Möglichkeit der Schnittentbindung jedenfalls mitursächlich für die Schädigung des Klägers war.