Zur Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich liegengebliebenem Streugut auf Radwegen

LG Dessau-Roßlau, Urteil vom 07.06.2012 – 1 S 32/12

In Sinne eines auf offenkundigen Tatsachen basierenden Erfahrungssatzes ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass in der hiesigen Region bis Ende März noch Nacht- und Bodenfrost auftreten kann. Diese Erfahrung haben auch die Kammermitglieder als hier Lebende und Wohnende gemacht (Rn. 4).

Besteht demnach die nicht fernliegende Möglichkeit des Auftretens von Nachtfrost und morgendlichem Bodenfrost bis Ende März, so stellt es keine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht dar, wenn Streugut an einer Unfallstelle im Vorfallszeitpunkt noch nicht aufgenommen war. Denn wenn das liegengebliebene Streugut bis Ende März noch seinen vorbeugenden Sicherungszweck sinnvollerweise erfüllt, ist dem Verkehrssicherungspflichtigen in der Folge eine nach der Rechtsprechung großzügig zu bemessende Karenzzeit für die Beseitigung des Streugutes von wenigstens zwei Wochen zuzubilligen (Rn. 5).

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts Bitterfeld-Wolfen vom 25.01.2012 – 7 C 587/11 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das Urteil des Amtsgerichts Bitterfeld-Wolfen vom 25.01.2012 – 7 C 587/11 – ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

I.

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Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO, § 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO).

Entscheidungsgründe

II.

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Die zulässige Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg. Das angefochtene Urteil beruht weder auf einer Rechtsverletzung (§§ 513 Abs. 1, 1. Fall, 546 ZPO), noch rechtfertigen nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1, 2. Fall ZPO). Das Amtsgericht hat einen Schadensersatz- und Schmerzensgeldanspruch der Klägerin zu Recht verneint. Eine Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten in Gestalt einer nicht rechtzeitigen Entfernung des Streugutes liegt nicht vor.

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1. a) Die Feststellung des Amtsgerichts, am Vorfallstag (06.04.2011) sei an der Unfallstelle noch Winterstreugut vorhanden gewesen, das bis Mitte April 2011 entfernt worden sei, lässt die Berufung unbeanstandet. Sie meint aber, das Amtsgericht sei bei dem von ihm zugrunde gelegten Erfahrungssatz, dass an der Unfallörtlichkeit Nachtfrost (mit der Folge morgendlichen Bodenfrostes und Glättegefahr) noch bis Ende März auftreten könne, zu Unrecht von einer offenkundigen Tatsache ausgegangen. Offenkundig könne nur die Tatsache sein, dass nach den konkreten Witterungsverhältnissen Nachtfrost bis Ende März 2011 „aufgetreten ist“. Das aber sei nicht der Fall gewesen.

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b) Entgegen der Berufung hat das Amtsgericht die Voraussetzungen des § 291 ZPO nicht verkannt. Offenkundig ist eine Tatsache, wenn sie zumindest am Gerichtsort der Allgemeinheit bekannt oder ohne besondere Fachkunde – auch durch Information aus allgemein zugänglichen Quellen – wahrnehmbar ist. Dabei können offenkundige Tatsachen auch einen Erfahrungssatz begründen (vgl. OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 24.10.1985, Az. 4 UF 135/85, zitiert nach juris) wie etwa den, dass zu einer bestimmten Jahreszeit in bestimmten „Breiten“ im Allgemeinen bestimmte Lichtverhältnisse herrschen (vgl. BGH, NJW 2007, 3211). In diesem Sinne eines auf offenkundigen Tatsachen basierenden Erfahrungssatzes ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass in der hiesigen Region bis Ende März noch Nacht- und Bodenfrost auftreten kann. Diese Erfahrung haben auch die Kammermitglieder als hier Lebende und Wohnende gemacht. Die Tatsache des nicht nur seltenen, sondern im Bereich des Möglichen liegenden Auftretens von Nacht- und morgendlichem Bodenfrost bis Ende März ist zudem nicht nur gerichtsbekannt, sondern allgemeinkundig. So lässt sich aus allgemein zugänglichen Quellen wie den einschlägigen Wetterbericht- bzw. Wettervorhersage-Seiten im Internet entnehmen, dass Ende März in der Region Mitteldeutschland noch Nacht- und Bodenfrost auftreten kann (exemplarisch etwa der Wetterbericht auf wetter.de für den 27.03./28.03.2011). Mit dieser Erfahrung in Einklang steht – wie das Amtsgericht richtig erwähnt hat – der Umstand, dass die Heizperiode mit bestimmten, den Vermieter treffenden Verpflichtungen bis zum 30.04. eines Jahres dauert (so auch: LG München I, Urteil vom 24.11.1998, 23 O 12510/98, zitiert nach juris). Auch hinter dem regelmäßig erteilten Rat von Autowerkstätten, den Wechsel von Winter- auf Sommerreifen erst nach Ostern vorzunehmen, steht die Erfahrung, dass Nacht- und morgendlicher Bodenfrost mit Glättebildung in den hiesigen Breitengraden noch bis Ende März auftreten kann. Zutreffend hat das Amtsgericht darauf verwiesen, dass hierauf auch die in den vertraglichen Regelungen zwischen der Stadt … und der Beklagten erfolgte sachgerechte Festlegung des Einsatzzeitraums für die Winterdienstleistungen (Schneeberäumung/Abstreuen) bis zum 31.03.2011 beruht.

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c) Besteht demnach die nicht fernliegende Möglichkeit des Auftretens von Nachtfrost und morgendlichem Bodenfrost bis Ende März, so stellte es keine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der Beklagten dar, dass diese das Streugut an der Unfallstelle im Vorfallszeitpunkt noch nicht aufgenommen hatte. Denn wenn das liegengebliebene Streugut, wie das Amtsgericht mit Recht angenommen hat, bis Ende März noch seinen vorbeugenden Sicherungszweck (vgl. BGH, Beschluss vom 29.04.2003, VI ZR 260/02, zitiert nach juris) sinnvollerweise erfüllte, war der Beklagten in der Folge, wie auch im Vertrag mit der Stadt vorgesehen, eine nach der Rechtsprechung (vgl. OLG Hamm, ZfSch 1991, 115) großzügig zu bemessende Karenzzeit für die Beseitigung des Streugutes zuzubilligen, die aus den zutreffenden Erwägungen auf den Seiten 6 f. des angefochtenen Urteils zumindest zwei Wochen beträgt, was sich mit der Regelung im Leistungsverzeichnis zum Vertrag der Beklagten mit der Stadt deckt, wonach die Beseitigung des Streugutes bis zum 15.04.2011 zu erfolgen hatte. Dieser Karenzzeitraum war am Unfalltag (06.04.2011) noch nicht verstrichen.

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d) Für die Frage, ob das Liegenlassen des Streugutes bzw. dessen Nichtaufnahme bis zum Unfallzeitpunkt eine Verkehrssicherungspflichtverletzung bedeutet, ist es hingegen unerheblich, dass in der konkreten Zeitspanne zwischen dem letzten Räumeinsatz der Beklagten im Unfallstellenbereich am 18.02.2011 und dem Unfalltag (06.04.2011) keine weitere Schneeräumung und Streuung durch die Beklagte stattgefunden hatte. Der gedankliche Ansatz der Berufung, ex post auf die konkrete Wetterentwicklung seit dem letzten Räum- und Streueinsatz im Februar 2011 zurückzublicken und darauf gegründet der Beklagten zum Vorwurf zu machen, dass sie nicht die teilweise schon zweistelligen Temperaturen im März 2011 zum Anlass genommen hat, das Streugut aufzunehmen, ist angesichts des vorbeugenden Sicherungszwecks des auf den Wegen verbleibenden Streugutes verfehlt. Es liegt in der „Natur“ von Präventivmaßnahmen, dass diesen gewisse Erfahrungen zugrundeliegen, die sich hier konkret aus einer Querschnittsbetrachtung der letzten Winter in der Region ergeben. Es ist dem Verkehrssicherungspflichtigen nicht zumutbar, in jedem Winter wettermäßig milde Phasen umgehend zum Anlass zu nehmen, das Streugut zu entfernen, um dann im Falle einer „Rückkehr“ kalter Temperaturen – mit der Gefahr von Nacht- und morgendlichem Bodenfrost – erneut Streugut aufbringen zu müssen. Uneingeschränkt richtig und lebensnah verweist das Amtsgericht darauf, dass die von dem Streugut für Wegbenutzer ausgehenden Gefahren des Ausgleitens und Stürzens verhältnismäßig gering sind im Vergleich zu dem Aufwand des Sicherungspflichtigen und den dann aufkommenden Gefahren, die den Wegbenutzern bei erneut auftretender Glätte auf den streugutbereinigten Wegen bis zur notwendigen erneuten Streugutaufbringung drohten (so auch: BGH, a. a. O.). An dem – ebenfalls allgemeinkundigen – Phänomen des „zurückkehrenden“ Winters geht die Gedankenführung der Berufung vorbei. Im Übrigen kann grundsätzlich auch im März und selbst bei Tagestemperaturen von 10 Grad Celsius oder mehr noch Nacht- und morgendlicher Bodenfrost auftreten, wovon offenbar auch der Kläger auf Seite 8 des Schriftsatzes vom 08.11.2011 (Bl. 69 d. A.) ausgeht. Der Kläger hingegen richtet seinen Blick aber nicht auf die erfahrungsgemäße Dauer eines jahreszeitlich bedingt möglichen (Wieder-) Auftretens von Nacht- und morgendlichem Bodenfrost (mit Glatteisgefahr), sondern verengt die Betrachtung auf die konkrete Wetterentwicklung ab Ende Februar/März 2011, die – ex post gesehen – seiner Auffassung nach zu einem zeitlich früheren Aufnehmen des Streugutes hätte Anlass gegeben müssen. Das läuft im Kern auf die sich bei Präventivmaßnahmen im Nachhinein häufiger einstellende Erkenntnis hinaus, dass die vorbeugende Maßnahme, weil sich die abstrakte Gefahr nicht realisiert hat, nicht notwendig gewesen wäre. Diese Erkenntnis macht aber die Präventivmaßnahme nicht von vornherein entbehrlich und unnötig.

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2. Abgesehen vom Fehlen einer Verkehrssicherungspflichtverletzung muss sich die Klägerin, auch insoweit ist dem Ausgangsgericht beizutreten, ein weit überwiegendes Mitverschulden des Zeugen … entgegenhalten lassen, das einen Schadensersatz- und Schmerzensgeldanspruch ausschließt. Soweit die Klägerin die Ausführungen des Amtsgerichts im Rahmen des Mitverschuldens des Zeugen … für widersprüchlich erachtet, kann ihr nicht gefolgt werden. Das Amtsgericht hat seiner Entscheidung die Aussage des Zeugen …, normal mit der Hinterbremse gebremst zu haben, zugrunde gelegt und ausgeführt, dass der Zeuge eine plötzliche oder heftige Bremsung nicht geschildert habe. Mit dem Amtsgericht ist davon auszugehen, dass sich der Zeuge nicht verkehrsgerecht verhalten hat. Denn wenn auf dem Radweg und insbesondere an der Unfallstelle „Unmengen“ von Streugut gelegen haben, wie der Zeuge ausgesagt hat, müssen diese für ihn bei Annäherung an die Unfallstelle erkennbar gewesen sein, dies erst recht bei Annäherung mit einer vom Zeugen bekundeten „moderaten Geschwindigkeit“. Der Sonnenweg ist in der Fahrtrichtung des Zeugen … im Vorfeld der Annäherung an die Fahrradwegabsenkung schnurgerade; der Zeuge … hatte, wie die Anlagen K 1, B 2 und B 2a erkennen lassen, frühzeitig freie Sicht auf das vor ihm liegende Stück Fahrradweg und auf die Unfallstelle im Absenkungsbereich. Wenn der Zeuge dennoch auf die bekundeten „Unmengen“ von Streugut erst nach dem Unfall, als er sein herausgefallenes Brillenglas suchte, aufmerksam wurde, so hatte er sich erkennbar nicht hinreichend auf die Straßenverhältnisse eingestellt. Grundsätzlich muss sich der Straßenbenutzer den gegebenen Straßenverhältnissen anpassen und die Straße so hinnehmen, wie sie sich ihm erkennbar darbietet (BGH, Urteil vom 21.06.1979, III ZR 58/78; Urteil vom 13.07.1989, III ZR 122/88; jeweils zitiert nach juris). Der Verkehrssicherungspflichtige muss nur diejenigen Gefahren ausräumen und erforderlichenfalls vor ihnen warnen, die für den Benutzer, der die erforderliche Sorgfalt walten lässt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag (OLG Düsseldorf, VersR 1989, 274 m. w. N.). Es ist also nur eine Warnung vor unvermuteten Gefahren notwendig. Vor Besonderheiten einer Straße, die ein sorgfältiger Fahrradfahrer im Verkehr mit einem beiläufigen Blick erfassen kann, braucht hingegen nicht gewarnt zu werden (LG Rostock, Urteil vom 25.08.2004, 4 O 149/04, zitiert nach juris). Daran gemessen hätte der Zeuge … bei hinreichender Aufmerksamkeit und Sorgfalt schon weit vor der Unfallstelle die „Unmengen“ von Rollsplitt erkennen können und müssen. Es konnte für den Zeugen nicht überraschend sein, dass an der Abbiegestelle, an der Absenkung des Radweges, größere Mengen von Rollsplitt lagen, zumal er diesen mit Rollsplitt bedeckten Radweg kannte; denn die Unfallstelle liegt auf einer seiner üblichen Routen, die er mit dem Fahrrad regelmäßig befährt. Ob des sonnigen Wetters am Unfalltag gegen 13.30 Uhr war der Rollsplitt gut erkennbar, und der Zeuge hätte demzufolge seine Geschwindigkeit rechtzeitig so deutlich vermindern müssen, und zwar noch vor der Unfallstelle, dass er beim Bremsen in Kurvenlage nicht wegrutschen kann. Ggfs. hätte er sein Fahrrad in Angesicht der „Unmengen an Splitt“ an der Unfallstelle gänzlich zum Stehen bringen müssen und es über den Bereich der Absenkung schieben müssen. Bei alledem gilt es, das Sichtfahrgebot aus § 3 Abs. 1 S. 1 und 2 StVO zu berücksichtigen, das auch für Radfahrer gilt. Dass dem Zeugen … nach seinem Bekunden beim Zufahren auf die Unfallstelle nichts Ungewöhnliches aufgefallen war, er den Rollsplitt nicht bewusst gesehen hatte, hat der Zeuge damit begründet, dass er „eher auf den Verkehr“, mithin auf das von rechts kommende, bevorrechtigte und seinen beabsichtigten Fahrweg kreuzende Fahrzeug geachtet und bei dessen Erblicken gebremst habe. Ein sorgfältiger und situationsadäquat-aufmerksamer Verkehrsteilnehmer hat aber nicht nur die Vorfahrt anderer Verkehrsteilnehmer zu beachten, sondern er hat auch seine Aufmerksamkeit den gegebenen Straßenverhältnissen zu widmen. Dazu bestand, wie ausgeführt, im Verlaufe des Zufahrens auf die Unfallstelle hinreichend Gelegenheit. Nach alledem ist es nicht zu beanstanden, wenn das Amtsgericht zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die die Straßenverhältnisse nicht hinreichend einbeziehende mangelnde Aufmerksamkeit des Zeugen … den Unfall hervorgerufen hat und ein erhebliches, anspruchsausschließendes weil weit überwiegendes Mitverschulden begründet.

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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

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4. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10 n. F., 711, 713 ZPO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 S. 1 GKG.

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5. Die Revision war nicht zuzulassen; denn es handelt sich weder um eine Rechtssache grundsätzlicher Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

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