Zur Verkehrssicherungspflicht für eine Fußgängerunterführungstreppe

BGH, Urteil vom 24.01.2002 – III ZR 103/01

Zur Verkehrssicherungspflicht für eine Treppe, die zu einer Fußgängerunterführung gehört.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 21. März 2001 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand
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Am 13. April 1994 gegen 11.00 Uhr vormittags beging der Kläger bei Regenwetter in B. K., der beklagten Stadt, eine zum Gehweg der M.straße gehörende Treppe, um die W.straße (B 48) zu unterqueren. Beim Hinabsteigen stürzte er und erlitt schwere Verletzungen. Mit der Behauptung, die Treppenstufen seien wegen freiliegender Metallkanten nicht rutschsicher gewesen und an der von ihm benutzten rechten Treppenseite habe ein Handlauf gefehlt, verlangt er von der Beklagten Schadensersatz einschließlich Schmerzensgeld wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht.

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Die Beklagte hält die Treppe für hinreichend sicher und bestreitet den Unfallhergang mit Nichtwissen.

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Das Landgericht hat dem Kläger 57.958,59 DM materiellen Schadensersatz und 25.000 DM Schmerzensgeld zugesprochen sowie die Feststellung getroffen, daß die Beklagte verpflichtet sei, dem Kläger allen aus dem Unfall vom 13. April 1994 entstehenden zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sei. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage abgewiesen. Mit der Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Entscheidungsgründe
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Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

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1. Ansprüche wegen einer möglichen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für die hier in Rede stehende Treppenanlage beurteilen sich nach Amtshaftungsgrundsätzen (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG). Die Straßenverkehrssicherungspflicht ist in Rheinland-Pfalz hoheitlich ausgestaltet (§ 48 Abs. 2 Landesstraßengesetz in der Fassung vom 1. August 1977, BS 91-1); haftende Körperschaft ist die Beklagte. Die Bundesrepublik Deutschland, der der Kläger den Streit verkündet hat und die der Beklagten im ersten Rechtszug beigetreten ist, hat in ihrer Klageerwiderung dazu folgendes ausgeführt: Nach § 13 Abs. 2 FStrG hat bei höhenungleichen Kreuzungen, wie hier bei einer Unterführung, der Baulastträger der Bundesfernstraße das Kreuzungsbauwerk zu unterhalten, während die übrigen Teile der Kreuzungsanlage von dem Baulastträger der Straße zu unterhalten sind, zu der sie gehören. Der Treppenabgang im vorliegenden Fall gehört nicht zu dem Kreuzungsbauwerk, das der Baulastträger der Bundesfernstraße zu unterhalten hat. Dieses umfaßt nach § 2 der Verordnung über Kreuzungsanlagen im Zuge von Bundesfernstraßen in der Fassung vom 2. Dezember 1975 (BGBl. I S. 2984) nur die Widerlager mit Flügelmauern, die Pfeiler, den Überbau mit Geländern, Brüstungen und Auffangvorrichtungen. Die Unterhaltungslast des Baulastträgers der Bundesfernstraße ist also auf das Kreuzungsbauwerk selbst beschränkt, während die Rampen, Treppen, Fahrbahnbeläge und dergleichen von dem Baulastträger der Straße zu unterhalten sind, zu der sie gehören. Vorliegend gehören die Treppenabgänge zu dem unterführenden Gehweg, der gemäß § 5 Abs. 3 FStrG in der Unterhaltungslast der Stadt B. K. steht. Mithin hat die Beklagte auch den Treppenabgang der Fußgängerunterführung zu unterhalten, so daß ihr auch die Verkehrssicherungspflicht für diesen Teil der Kreuzungsanlage obliegt.

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Dies wird von der Revisionserwiderung nicht in Frage gestellt und ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

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2. Gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, die Treppenanlage sei zum Unfallzeitpunkt ausreichend trittsicher gewesen, greift die von der Revision erhobene Verfahrensrüge durch.

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a) Zu Recht weist die Revision darauf hin, daß die an den Vorderkanten der Stufen befindlichen freiliegenden Metallschienen ursprünglich mit dem gleichen rauhen Oberflächenbelag aus Quarzsand überzogen gewesen waren, wie er auf den Betonflächen der Stufen, den eigentlichen Auftrittsflächen, noch heute vorhanden ist. Daraus zieht die Revision die zutreffende Folgerung, daß schon die Beklagte selbst bei der Herstellung der Treppe diese Sicherung auf den Schienen für erforderlich gehalten hatte. Ob durch die „Riffelung“, die in der Fotodokumentation des vom Kläger eingeschalteten Privatgutachters auf einzelnen Bildern bei den Schienen schwach erkennbar ist, eine nennenswerte Rutschsicherheit gewährleistet werden konnte, erscheint dem Senat zweifelhaft. Diese Frage läßt sich jedenfalls nicht schon allein anhand der Fotos beurteilen, sondern bedarf gegebenenfalls der Aufklärung durch Sachverständigengutachten.

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b) Der Privatgutachter hat festgestellt, daß auf der Treppenanlage sogar bei trockener Witterung und bei Benutzung strapazierfähigen, derben Schuhwerks Rutschgefahr bestand. Zwar hatte die Beklagte der Verwertung dieses Gutachtens widersprochen; gleichwohl war es als substantiierter Parteivortrag zu beachten und zu würdigen (st. Rspr.; vgl. z.B. Senatsurteil BGHZ 98, 32, 40; BGH, Urteile vom 14. April 1981 – VI ZR 264/79 = VersR 1981, 576; vom 27. Mai 1982 – III ZR 201/80 = NJW 1982, 2874, 2875; vom 5. November 1990 – V ZR 108/89 = BGHR ZPO § 402 Privatgutachten 1; vom 10. Dezember 1991 – VI ZR 234/90 = BGHR ZPO § 286 Abs. 1 Sachverständigenbeweis 9). Über dieses, noch dazu durch Gutachten eines weiteren Sachverständigen und durch sachverständiges Zeugnis des Privatgutachters unter Beweis gestellte Vorbringen des Klägers durfte sich das Berufungsgericht nicht mit der Begründung hinwegsetzen, schon aus der Fotodokumentation sei ohne weiteres erkennbar, daß eine Rutschgefahr nicht bestanden habe. Im vorliegenden Fall hat das Vorbringen des Klägers, an der Unfallstelle habe eine über das Normalmaß hinausgehende Gefahr des Ausrutschens bestanden, jedenfalls so viel Substanz, daß ihm und den darauf bezogenen Beweisantritten hätte nachgegangen werden müssen. Dies gilt auch bei voller Würdigung des vom Berufungsgericht – an sich zutreffend – hervorgehobenen Grundsatzes, daß Treppen nicht schlechthin gefahrlos und nicht frei von allen Mängeln sein müssen und daß der Verkehrssicherungspflichtige in geeigneter und objektiv zumutbarer Weise nur diejenigen Gefahren auszuräumen und erforderlichenfalls vor ihnen zu warnen hat, die für den Benutzer, der seinerseits die erforderliche Sorgfalt walten läßt, nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzurichten vermag. Die Eigenverantwortung der Treppenbenutzer, auf die das Berufungsgericht maßgeblich abhebt, darf indessen nicht den Blick dafür verstellen, daß vor allem diejenigen Personen, die eine Treppe hinabsteigen, durch einen Sturz bedroht sind. Insoweit muß der Verkehrssicherungspflichtige auch ein naheliegendes Fehlverhalten von Benutzern berücksichtigen (Senatsbeschluß vom 14. Juni 1982 – III ZR 129/81 = VersR 1982, 854). Von dem vom Berufungsgericht als vergleichbar angesehenen Sachverhalt, der dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 26. Januar 1965 (VI ZR 213/63 = VersR 1965, 520) zugrunde gelegen hatte, unterscheidet sich der hier zu beurteilende in dem wesentlichen Punkt, daß hier die besondere Gefahrenlage durch das vom Kläger vorgelegte Privatgutachten experimentell bestätigt worden ist.

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3. a) Unstreitig ist die in Rede stehende Treppenanlage nur an der in Gehrichtung des Klägers gesehen linken Seite mit einem Handlauf versehen. Das Berufungsgericht läßt offen, ob unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherungspflicht auch an der anderen Seite ein zweiter Handlauf erforderlich gewesen war. Dieses Erfordernis ließ sich in der Tat nicht unmittelbar aus § 30 Abs. 7 LBauO-RhPf in der seinerzeit gültigen Fassung herleiten. Diese Bestimmung besagte lediglich, daß bei besonders breiten Treppen Handläufe auf beiden Seiten und Zwischenhandläufe gefordert werden konnten. Sie bildete also eine Ermächtigungsgrundlage für die Bauaufsichtsbehörde, eine derartige bauliche Maßnahme anzuordnen. Solange dies nicht geschah, bestand eine unmittelbare baurechtliche Notwendigkeit für einen zweiten Handlauf nicht. Dies schließt es aber – wie schon das Landgericht mit Recht ausgeführt hat – nicht aus, daß die Beklagte aus allgemeinen Gesichtspunkten der Verkehrssicherungspflicht je nach den Umständen des Einzelfalles gleichwohl gehalten gewesen sein konnte, eine derartige Vorsichtsmaßregel zu treffen. Das Berufungsgericht hat dies nicht im einzelnen aufgeklärt; nach dem der revisionsrechtlichen Beurteilung zugrundeliegenden Vorbringen des Klägers ist somit zu seinen Gunsten von dieser Notwendigkeit auszugehen.

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b) Das Berufungsgericht hat sich außerstande gesehen, festzustellen, daß das Nichtvorhandensein des rechten Handlaufs für die Schädigung des Klägers ursächlich geworden sei. Es hat gemeint, der Kläger habe nicht hinreichend dargelegt, ob er sich in einem Bereich befunden habe, in welchem ein Handlauf den Sturz hätte verhindern oder jedenfalls abmildern können. Auch hiergegen wendet sich die Revision mit Recht. Das Berufungsgericht hat insoweit die Darlegungslast des Klägers überspannt. Der Kläger hatte angegeben, er sei auf der rechten Treppenseite gegangen. Die Glaubhaftigkeit dieser Angabe wird – wie die Revision zutreffend hervorhebt – auch vom Berufungsgericht ersichtlich nicht in Zweifel gezogen. Die Treppenbreite beträgt nach den von keiner der Parteien angezweifelten Feststellungen des Privatgutachters 2,25 m zwischen den Beton-Brüstungs-Wangen. Dies hat, wie die Revision aufzeigt, die Konsequenz, daß eine „Treppenseite“ jeweils 1,125 m mißt, so daß ein in der Mitte der rechten „Treppenseite“ gehender Mann bereits bei einer Armlänge von 60 cm einen vorhandenen Handlauf unschwer hätte ergreifen können. Falls das Berufungsgericht im übrigen trotz der Angaben des Klägers eine weitere Aufklärung des Hergangs des Sturzes für erforderlich gehalten hätte, hätte es jedenfalls eine nochmalige persönliche Anhörung des Klägers anordnen müssen.

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4. Das Berufungsurteil kann nach alledem keinen Bestand haben. Sollte das Berufungsgericht aufgrund der neuen Verhandlung eine objektive Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Beklagte feststellen, würde ein Amtshaftungsanspruch nicht bereits deswegen am fehlenden Verschulden der handelnden Amtsträger scheitern können, weil das Berufungsgericht als mit mehreren Berufsrichtern besetztes Kollegialgericht im ersten Berufungsurteil eine objektive Pflichtverletzung verneint hat. Die „Kollegialgerichts-Richtlinie“ kann der Beklagten hier nicht zugute kommen. Sie findet nämlich keine Anwendung, wenn der Sachverhalt nicht erschöpfend gewürdigt worden ist (Senatsurteil BGHZ 115, 141, 150; Senatsurteil vom 19. Januar 1989 – III ZR 243/87 = BGHR BGB § 839 Abs. 1 Satz 1 Verschulden 11).

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