Zur Opferentschädigung wegen Misshandlungen während der Kindheit im Kinderheim

SG Karlsruhe, Urteil vom 27. November 2014 – S 17 VG 656/13

Hobbys wie Fußballschiedsrichtertätigkeit und gelegentliche Bühnentätigkeit widersprechen nicht generell der Annahme einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 11. Juni 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Januar 2013 verurteilt, die Gesundheitsstörungen rezidivierende depressive Störung, andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung sowie somotoform autonomen Funktionsstörung als Schädigungsfolge nach dem OEG im Sinne der Entstehung anzuerkennen und ab 23. Mai 2011 eine Versorgung nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 50 zu gewähren.

2. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der am …1958 geborene Kläger stellte am 23. Mai 2011 einen Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfer von Gewalttaten beim LRA. Zur Begründung gab er an, von 1958 bis 1968 im Kinderheim P. untergebracht gewesen zu sein und über die ganzen Jahre hinweg schwer misshandelt und zudem sexuell missbraucht worden zu sein. Er habe noch heute an den Folgen zu leiden.

Das LRA zog Befundunterlagen der …-klinik bei. Zudem erstatte die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. auf Veranlassung des Landratsamts ein nervenärztliches Gutachten. Die Gutachterin diagnostizierte eine andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung ohne wesentliche Einschränkung der Lebens- und Gestaltungsfähigkeit und bewertete diese Funktionsbeeinträchtigung mit einem Einzel-GdS (Grad der Schädigung) von 20. Als Extrembelastung seien der Heimaufenthalt im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren sowie der zusätzlich beschriebene sexuelle Missbrauch mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Die jetzt zu erkennende Persönlichkeitsveränderung lasse sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die erlebte Schädigung zurückführen. Zusätzlich diagnostizierte die Gutachterin eine rezidivierend depressive Störung in derzeit mittelgradiger Episode. Diese Funktionsbeeinträchtigungen seien nicht eindeutig durch die bestehende Schädigung zu erklären. Daneben diagnostizierte die Gutachterin noch ein Hodenseminom mit Zustand nach Entfernung des befallenen Hodens Chemotherapie im Jahr 1980, sowie eine Refluxösophagitis Grad A bei Hiatushernie mit Short-Segment-Barett-Ösophagus. Durch Bescheid vom 11. Juni 2012 lehnte das LRA den Antrag des Klägers ab. Zwar habe der Kläger während seiner Heimunterbringung weit über das damals geltende Erziehungsrecht hinaus schwere körperliche und seelische Züchtigungen ertragen und erdulden müssen. Auch sexuelle Missbräuche durch Mitbewohner und Erwachsene wurden beschrieben. Jedoch sei der Kläger nicht allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt (50 %).

Zur Begründung seines hiergegen am 06. Juli 2012 erhobenen Widerspruchs führte der Kläger aus, die depressive Störung, unter der er leide, sei auf das Geschehen des schweren sexuellen Missbrauchs in der Kindheit zurückzuführen. Nach den Ausführungen der Gutachterin könne diese nur nicht eindeutig erklären. Es liege aber im Bereich des Wahrscheinlichen.

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. Januar 2013 als unbegründet zurück. Die depressive Symptomatik in Konfliktsituationen, wie sie 1996 erstmals aufgetreten sei, sei nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die in der Kindheit erlittenen Übergriffe zurückzuführen.

Mit seiner am 22. Februar 2013 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung vertieft der Kläger sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 11. Juni 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Januar 2013 zu verpflichten, ihm Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz ab Antragstellung zu erbringen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er stützt sich auf die dem Gerichtsverfahren vorgelegten versorgungsmedizinischen Stellungnahmen und hält die angefochtenen Bescheide weiterhin für rechtmäßig. Nach Auswertung des im gerichtlichen Verfahren eingeholten neurologisch-psychiatrischen Gutachtens könne zusätzlich zu der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung eine somatoforme Störung als Schädigungsfolge anerkannt werden und die Schädigungsfolgen zusammenfassend mit einem GdS von 40 bewertet werden. Hinsichtlich der rezidivierenden depressiven Störung bleibe es bei der bisherigen Beurteilung, dass diese Störung multifaktoriell bedingt sei und dass das schädigende Ereignis nicht mit der ausgehenden Wahrscheinlichkeit als wesentliche Bedingung angesehen werden könne.

Das Gericht hat im Rahmen der schriftlichen Beweiserhebung die vom Kläger genannten Mediziner Dr. Sch. und Dr. H. als sachverständige Zeugen befragt. Daneben hat das Sozialgericht Dr. N., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. In seinem neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 30. Juni 2014 hat Dr. N. bei dem Kläger eine rezidivierende depressive Störung, derzeit leichtgradige depressive Episode, eine andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung sowie eine somatoforme Störung im Sinne einer somatoformen Schmerzstörung und somatoformen autonomen Funktionsstörung diagnostiziert. Die Gesundheitsstörungen der andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung seien selbstredend auf die Schädigung zurückzuführen. Bezüglich der komorbiden rezidivierenden depressiven Störung unter der somatoformen Störung sei auf dem Boden der Persönlichkeitsänderung auch eine erhöhte Vulnerabilität (Verwundbarkeit, Verletzbarkeit) bezüglich affektiver Erkrankungen bzw. somatoformer Störungen mehr als wahrscheinlich. Zwar habe der Kläger neben denen in der Kindheit erfahrenen Traumatisierungen im späteren Leben auch anderweitig Konflikte – etwa im Rahmen der beruflichen Tätigkeit – erwähnt, diese seien aber nicht die alleinige Ursache einer dann festgestellten depressiven Störung, sondern eben wiederum Folge einer Änderung der Persönlichkeit, die sich definitionsgemäß in einem unflexiblen und unangepassten Verhalten zeige. Insofern spreche mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang hinsichtlich der auch aktuell bestehenden affektiven Störung bzw. depressiven Störung. Bezüglich der somatoformen Störungen in Form einer somatoformen Schmerzstörung und somatoformen autonomen Störung sei von einer psychosomatischen Störung auszugehen. Bei den beschriebenen Symptomen sei ebenfalls davon auszugehen, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die vormaligen Traumatisierungen in der Kindheit zurückzuführen seien. Zwar lasse sich dies nicht eindeutig linear kausal begründen, es läge aber nahe, dass in der aktuellen Auseinandersetzung mit den früheren traumatisierenden Erfahrungen und dem damit verbundenem Bewusstwerden auch diese autonome Funktionsstörung und somatoformen Störung sozusagen aktiviert worden sei. Angemessen erschiene für die rezidivierende depressive Störung ein Einzel-GdS von 40, für die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung ebenfalls ein Einzel-GdS von 40 und für die somatoforme Störung ein Einzel-GdS von 30. Insgesamt sei ein GdS von 50 angemessen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte des Landratsamts sowie den der Prozessakte Bezug genommen.

Gründe

I.

Die zulässige Klage ist begründet. Dem Kläger steht ein Versorgungsanspruch gegen den Beklagten nach den §§ 1, 10a OEG zu. Der Beklagte war zu verurteilen, die entsprechenden Schädigungsfolgen anzuerkennen und die Versorgung entsprechend zu gewähren. Der Bescheid vom 11. Juni 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Januar 2013 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

1.

Ein Entschädigungsanspruch nach dem OEG setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 S 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG U.v. 23.4.2009 – B 9 VG 1/08 R – juris, Rn. 27 m.w.N.). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 S 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind (BSG, U.v. 17.4.2013 – B 9 V 1/12 RBSGE 113, 205-221).

Die geschilderten Erlebnisse des Klägers während seines Heimaufenthalts von 1958 bis 1968 im Kinderheim P. verkörpern nach Auffassung des erkennenden Gerichts zweifellos einen tätlichen Angriff im Sinn von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. An dieser Stelle bedarf es keiner Ausbreitung der Dogmatik zum tätlichen Angriff. Insoweit kann auf das aktuelle Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Februar 2014 (Az.: L 15 VG 2/09 – juris Rn. 101 m.w.N. insb. zur Rspr. des BSG) verwiesen werden. Danach erfährt der sexuelle Missbrauch von Kindern in Anlehnung an die BSG-Urteile vom 18. Oktober 1995 (Az.: 9 RVg 4/93BSGE 77, 7 und 9 RVg 7/93BSGE 77, 11) eine Sonderbehandlung insoweit, als es für die Erfüllung des Gesinnungsmerkmals ausreicht, dass eine Rechtsfeindlichkeit besteht. Diese ist bereits dann zu bejahen, wenn z.B der Tatbestand des § 176 des Strafgesetzbuchs (StGB) erfüllt ist. Die Erfüllung des Straftatbestands begründet quasi eine unwiderlegliche Vermutung für einen tätlichen Angriff. In Abweichung von der allgemeinen Dogmatik ist es beim sexuellen Missbrauch von Kindern nicht erforderlich, dass gerade eine feindliche Willensrichtung gegen das Opfer festzustellen ist.

Kein Anspruchshindernis ist weiter, dass im vorliegenden Fall die einzelnen Missbrauchshandlungen nicht zeitlich – und wohl auch nicht der Art nach – genau fixierbar sind. Denn damit der tätliche Angriff bejaht werden kann, braucht seine konkrete Ausgestaltung nicht festzustehen. Es genügt an dieser Stelle, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass ein tätlicher Angriff stattgefunden hat. Versorgungsrechtlich anerkannt wird nicht die Tat, sondern der Gesundheitsschaden.

In tatsächlicher Hinsicht ist die Kammer mit dem Beweismaß des Vollbeweises davon überzeugt, dass die vom Kläger beschriebenen Misshandlungen und sexuellen Missbräuche stattgefunden haben, der die Tatbestandsvoraussetzungen des tätlichen Angriffs erfüllt. Auch die beschriebenen sexuellen Missbräuche durch Mitbewohner und Erwachsene hält das Gericht für erwiesen. Der Beklagte hat insoweit keinerlei Zweifel geäußert. Im Gegenteil: Im Ablehnungsbescheid vom 11. Juni 2012 hatte das LRA mitgeteilt, die Prüfung des klägerischen Antrags habe ergeben, dass er während seiner Heimunterbringung weit über das damals geltende Erziehungsrecht hinaus schwere körperliche und seelische Züchtigungen hat ertragen und erdulden müssen.

2.

In Altfällen – also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23. Mai 1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16. Mai 1976) – müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S. 2 OEG i.V.m. § 10a Abs. 1 S 1 OEG erfüllt sein (BSG, U.v. 17.4.2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205). Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis 15. Mai 1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt (dazu a.) und bedürftig sind (dazu b.) und im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben (dazu c.).

a.

Die Voraussetzung des § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OEG ist erfüllt. Von Februar 2011 bis heute ist der Kläger allein wegen der erfolgten Schädigung schwerbeschädigt; insoweit kommt es hier auf das Vorliegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit im Sinn von § 30 Abs. 2 BVG nicht an.

Gemäß § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OEG besteht ein Versorgungsanspruch nur, solange der Anspruchsteller allein infolge der außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des OEG stattgefundenen Schädigung schwerbeschädigt ist. Schwerbeschädigung liegt nach § 31 Abs. 2 BVG vor, wenn der GdS mindestens 50 beträgt. Die Kernfrage besteht darin, ob festgestellt werden kann, dass ab 23. Mai 2011 bis heute ein GdS von mindestens 50 allein wegen der Schädigung vorliegt. Dabei genügt es, wenn der GdS von 50 erst unter Zuhilfenahme von § 30 Abs. 2 BVG (Erhöhung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit) erreicht wird. § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OEG ist nicht so zu lesen, dass dann, wenn die Schwerbeschädigung (wenn auch nur kurz) erreicht wird, die Versorgungsfähigkeit der betreffenden Schädigung für die Zukunft zementiert wäre. Ein Versorgungsanspruch besteht vielmehr nur, solange die Schwerbeschädigung allein durch die Tat verursacht ist. Das rechtliche Erfordernis, dass allein durch die Vorkommnisse während des Aufenthalts im Kinderheim P. ein GdS von 50 erreicht sein muss, gilt also nicht nur für einen bestimmten Stichtag, sondern während des gesamten Versorgungsbezugs (Dauervoraussetzung). Der Anspruch kann demzufolge bestehen, dann wegfallen und dann – zumindest theoretisch – aber auch wieder aufleben (Bayerisches LSG, U.v. 18.2.2014 – L 15 VG 2/09 – juris, Rn. 124.).

Des Weiteren ist es nicht versorgungsschädlich, wenn sich ein Gesundheitsschaden nachträglich noch verschlechtert und erst mit dieser Verschlechterung die vorher nicht gegebene Schwerbeschädigung – immer aber allein wegen der vom Gesetz grundsätzlich nicht erfassten Tat – erreicht wird. Das ganze Ausmaß des Schadens muss nicht schon von Anfang an vorliegen, damit die Voraussetzung nach § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OEG erfüllt werden kann. Auf der anderen Seite ist es aber versorgungsschädlich, wenn die Grenze zur Schwerbeschädigung erst dadurch überschritten wird, dass eine weitere, von der ersten Schädigung unabhängige Schädigung eintritt (Bayerisches LSG, U.v. 18.2.2014 – L 15 VG 2/09 – juris, Rn. 125).

Zur Ermittlung der Höhe des GdS gilt folgendes: Nach § 30 Abs. 1 BVG ist der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen (Satz 1). Bei der Beurteilung der MdE/des GdS sind bis zum 31. Dezember 2008 die AHP und ab dem 01. Januar 2009 die Anlage 2 – Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung – VersMedV) vom 10. Dezember 2008, BGBl. I S. 2412, zu beachten.

Zur Überzeugung des Gerichts ist der Kläger schwerbeschädigt (dazu aa.), welche allein auf die stattgefundene Schädigung zur Zeit des Heimaufenthalts zurückzuführen ist (dazu bb.).

aa.

Der Kläger leidet an einer rezidivierenden depressiven Störung, einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung sowie einer somatoformen Störung. Die rezidivierende depressive Störung des Klägers ist mit einem Teil-GdS von 40, die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung mit einem Teil-GdS von 40 und die somatoforme Störung mit einem Teil-GdS von 30 zu bewerten. Aus den vorliegenden Einzel-GdB-Werten (40, 40, 30) ist nach Teil A Nr. 3 der Anlage zu § 2 VersMedV und nach dem oben dargelegten Maßstab ein Gesamt-GdB von 50 zu bilden. Das Gericht folgt insofern den schlüssigen und nachvollziehbaren gutachterlichen Feststellungen des Gutachters Dr. N.

Dem steht insbesondere Teil B, Nr. 3.7 der Anlage zu § 2 VersMedV nicht entgegen. Danach sind stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem GdS von 30 bis 40 zu bemessen. Schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten sind nach der VersMedV mit einem GdS von 50 bis 70 angemessen bewertet, schwere Störungen mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem GdS von 80 bis 100.

Nach der informatorischen Anhörung des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung liegen zur Überzeugung des Gerichts bei dem Kläger schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vor. Zwar geht der Kläger einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nach und gibt als Hobbys eine Schiedsrichtertätigkeit (jedenfalls bis zu einer Knieverletzung) und Bühnenauftritte an. Hobbys wie Fußballschiedsrichtertätigkeit und gelegentliche Bühnentätigkeit widersprechen jedoch nicht generell der Annahme einer schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Der Kläger konnte insoweit der Kammer glaubhaft erläutern, weshalb seine Hobbys hier nicht im Widerspruch zu sozialen Anpassungsschwierigkeiten stehen.

Die berufliche Tätigkeit läuft weitestgehend freibestimmt. Insbesondere bestehen flexible Arbeitszeiten. Die Schiedsrichtertätigkeit hat der Kläger zuletzt nur noch im Bereich Jugend und den untersten Frauen- und Männerklasse ausgeübt. Als Schiedsrichter befand sich der Kläger in einer besonderen Rolle jenseits der Spieler. Auch sei er auf dem Platz nach seinem Bekunden nicht er selbst gewesen. Er sei gerne Schiedsrichter gewesen, da er habe gerecht sein wollen. Das Gefühl niemanden zu benachteiligen, habe ihn befriedigt. Häufig habe er seine Schiedsrichtertätigkeit jedoch kurzfristig wegen seiner Erkrankung mit einer Notlüge absagen müssen. Daher habe er sich auch in untere Fußballklassen herunterstufen lassen. Auch im Rahmen der Bühnentätigkeit – welche nur ein bis dreimal jährlich ausgeübt wird – nimmt der Kläger eine besondere Rolle ein. Nach seiner Aussage sei er dort nicht er selbst. Er verkleide sich insbesondere, so dass er quasi ein anderer Mensch sei. Er könne in dieser Rolle alles sagen, was ein Ventil für ihn sei. Er erscheine kurz vor den Auftritten und verlasse die Örtlichkeit danach umgehen. Es handelt sich bei den genannten Hobbys um Beschäftigungen, in welchem der Kläger (weitestgehend) ohne Dialog mit anderen Menschen auskommt bzw. auskommen konnte. Als Schiedsrichter hatte er „das letzte Wort“ bei Entscheidungen. Er sei (so seine Aussage in der mündlichen Verhandlung) über den anderen gestanden. Im Rahmen der seltenen Bühnenauftritte tritt er ebenfalls nicht in Dialog mit dem Publikum. Im Rahmen beider Hobbys ist der Kläger zudem nicht in ein Vereinsleben eingebunden. Zur Überzeugung der Kammer liegt vor diesem Hintergrund eine Schwerbehinderteneigenschaft auf nervenärztlichem Gebiet trotz der beklagtenseits vorgetragen Bedenken vor. Insoweit teilt die Kammer auch die Einschätzung des Gutachters Dr. N..

bb.

Die andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung sowie die somatoforme Störung sind unstreitig als Schädigungsfolge anzuerkennen. Zur Überzeugung der erkennenden Kammer sind die Misshandlungen zur Zeit des Heimaufenthalts auch ursächlich für die rezidivierende depressive Störung. Es mag zwar zutreffen, dass der Kläger im Laufe seines Lebens verschiedene weitere Traumatisierungen erlitten hat, wie etwa Partnerschaftskonflikte und Mobbing am Arbeitsplatz. Im sozialen Entschädigungsrecht gilt die Kausalitätstheorie der „wesentlichen Bedingung“. Als Ursache sind unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben, also annähernd gleichwertig sind. Kommt einer Bedingung eine überwiegende Bedeutung zu, so ist sie allein die wesentliche Bedingung (Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, U.v. 27.6.2012 – L 4 VG 13/09 – juris). Im vorliegenden Fall ist nicht erkennbar, dass eine andere Traumatisierung oder eine andere Ursache eine überwiegende Bedeutung für die psychische Störung des Klägers hat. Die Schädigungen und Misshandlungen während der Heimunterbringung in der Kindheit waren deshalb wesentliche Bedingung. Sämtliche „Schicksalsschläge“ die der Kläger im weiteren zu erleiden hatte, waren letztlich auf die Erlebnisse im Kinderheim zurückzuführen. Hierauf weist auch der Gutachter Dr. N. hin.

b.

Der Kläger ist auch bedürftig i.S.d. § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OEG.

Bedürftig ist ein Anspruchsteller nach § 10a Abs. 2 OEG, wenn sein Einkommen im Sinne des § 33 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) den Betrag, von dem an die nach der Anrechnungsverordnung (§ 33 Abs. 6 BVG) zu berechnenden Leistungen nicht mehr zustehen, zuzüglich des Betrages der jeweiligen Grundrente, der Schwerstbeschädigtenzulage sowie der Pflegezulage nicht übersteigt. Damit ist ein Vergleich zwischen dem relevanten Einkommen – nicht relevant ist das Vermögen – und einem bestimmten Bedarfssatz vorzunehmen. Die Einkommensabhängigkeit nach § 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OEG gilt auch für die nach dem BVG an sich einkommensunabhängigen Leistungen wie Grundrente, Schwerstbeschädigtenzulage und Pflegezulage (Bayerisches LSG, U.v. 18.2.2014 – L 15 VG 2/09 – juris, Rn. 164).

Das Einkommen des Klägers im Sinne des § 33 BVG beträgt 619,49 EUR und berechnet sich wie folgt: Anzurechnen sind 850,00 EUR brutto für seine Tätigkeit bei der B.-Immobilien-GmbH sowie eine Vergütung in Höhe von 210,00 EUR brutto von der Wohnungseigentümergemeinschaft R. Str. 44 für eine weitere Tätigkeit. Davon abzuziehen ist gem. § 33 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BVG ein Freibetrag i.H.v. 440,51 EUR (29.367,00 EUR x 1,5/100).

Zur Einkommensberechnung ist anzumerken, dass es stets auf das Bruttoeinkommen ankommt. Eine Einkommensbereinigung wird grundsätzlich nicht vorgenommen (Ausnahme: § 6 der Ausgleichsrentenverordnung). Ein ausdifferenziertes Einkommensbereinigungssystem wie etwa im Einkommensteuerrecht gibt es im Rahmen der Einkommensberechnung nach § 33 BVG nicht (Bayerisches LSG, U.v. 18.2.2014 – L 15 VG 2/09 – juris, Rn. 169).

Sodann ist festzustellen, welcher in der Anrechnungsverordnung festgelegte Einkommensbetrag die nach der Anrechnungsverordnung zu berechnenden Leistungen ausschließt. Die Kammer stellt bezüglich der „nach der Anrechnungsverordnung zu berechnenden Leistungen“ auf die Ausgleichsrente für die Beschädigten mit einem GdS von 50 ab. Demnach ist die Stufenzahl 123 maßgeblich, da in dieser Tabellenzeile die Ausgleichsrente erstmals mit „0“ beziffert ist. In der aktuellen, ab 01. Juli 2014 geltenden Ausgleichsverordnung (Sechsundvierzigste Anrechnungsverordnung, BGBl I 2014, 1535) sind der Stufenzahl ein Einkommen aus gegenwärtiger Erwerbstätigkeit in Höhe von 1.675,00 EUR und übrige Einkünfte von 976,00 EUR zugeordnet.

Die Grenzwerte werden jedenfalls in den leistungsrelevanten Zeiträumen ab Mai 2011 deutlich überschritten.

c.

Der Kläger hat überdies im Geltungsbereich dieses Gesetzes seinen Wohnsitz (§ 10a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OEG).

3.

Die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers sind wie oben dargelegt mit einem Gesamt-GdS von 50 angemessen bewertet. Im vorliegenden Fall erhöht sich der maßgebende GdS nicht gemäß § 30 Abs. 2 BVG, da eine besondere berufliche Beeinträchtigung nicht vorliegt.

4.

Nach alledem besteht der geltend gemachte Anspruch des Klägers. Der Bescheid vom 11. Juni 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Januar 2013 war daher aufzuheben und der Beklagte zu verurteilen, die entsprechenden Schädigungsfolgen anzuerkennen und die Versorgung entsprechend zu gewähren.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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