Zur Haftungsverteilung bei Kollision zwischen einem mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Sattelschlepper und einem entgegenkommenden Traktorgespann

OLG München, Urteil vom 29. Juli 2020 – 10 U 1086/20

Zur Haftungsverteilung bei Kollision zwischen einem mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Sattelschlepper und einem entgegenkommenden Traktorgespann

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten vom 25.02.2020 wird das Endurteil des LG München I vom 30.01.2020 (Az. 19 O 9964/18) in Nr. 1. und 2. abgeändert und wie folgt neu gefasst:

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits (erster Instanz).

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

3. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe
A.

1
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).

B.

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Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.

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I. Das Landgericht hat zu Unrecht eine Mithaftung der Beklagten aufgrund Betriebsgefahr angenommen und einen Anspruch der Klägerin auf Schadenersatz in Höhe von 9.760,55 € bejaht.

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1. Dem Erstgericht ist kein Fehler bei der Tatsachenfeststellung unterlaufen.

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Der Senat ist nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, weil weder konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen werden noch sonst ersichtlich sind.

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Somit steht aufgrund der tatrichterlichen Feststellungen des Landgerichts im Hinblick auf die durchgeführte Beweisaufnahme, insbesondere aufgrund des mündlich erstatteten Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. B., fest, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit an der streitgegenständlichen Unfallstelle auf 60 km/h begrenzt war sowie dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges mit einem schwer beladenen Sattelschlepper auf einer 6 m breiten Straße bei einem unübersichtlichen und kurvenreichen Straßenverlauf mit einer für die vorliegenden Straßenverkehrsverhältnisse weit überhöhten Geschwindigkeit von über 80 km/h gefahren ist (vgl. S. 7 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 15.01.2019, Bl. 35 d.A.). Weiter steht aufgrund der nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen fest, dass sich das Traktorengespann der Beklagtenseite bis zu dessen Notbremsung in seiner Fahrbahnhälfte befunden hatte (vgl. S. 8 des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 15.01.2019, Bl. 36 d.A.).

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2. Das Erstgericht hat zutreffend einen schuldhaften Verstoß des Fahrers des klägerischen Fahrzeuges gegen § 3 StVO aufgrund der massiv überhöhten Geschwindigkeit des klägerischen Fahrzeuges angenommen und einen schuldhaften Verstoß des Beklagten zu 1) gegen das Rechtsfahrgebot verneint.

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Angesichts der Geschwindigkeit des klägerischen Fahrzeuges war ein gefahrloses Passieren des entgegenkommenden Traktorgespanns bei einem allenfalls theoretischen Restabstand von 50 cm nicht möglich. Entsprechend dieser Ausgangslage durfte der Beklagte zu 1) mit einer Vollbremsung auf den schweren Verstoß des Fahrers des klägerischen Fahrzeuges reagieren, wie der Sachverständige Prof. Dr. B. bereits festgestellt hat. Selbst wenn die Abwehrreaktion des Beklagten zu 1) hier objektiv zu einem Querstellen des Traktorgespanns geführt hat, rechtfertigt dies nicht, wie auch das Erstgericht in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils zutreffend dargelegt hat, dem Beklagten zu 1) einen Verschuldensvorwurf zu machen.

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Nach ständiger Rechtsprechung begründet das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers dann kein Verschulden, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (RGZ 92, 38; BGH LM Nr. 2 zu § 286 [A] ZPO; VRS 5 [1952] 87; 34 [1967] 434 [435]; 35 [1968] 177; VersR 1953, 337; 1958, 165; 1970, 818; 1971, 909 [910]; 1976, 734; 1982, 443; 2009, 234 [unter II 2 a]; OLG Celle VersR 1973, 716 [717]; DV 2015, 36 [37 unter 2 c cc]; KG VersR 1978, 744; 1995, 38; OLG Karlsruhe VersR 1987, 692; 2015, 993 [995] OLG Koblenz, Urt. v. 27.10.2003 – 12 U 714/02; OLG Naumburg VersR 2014, 212; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415 [416]; NZV 2007, 614; Senat, Beschl. v. 11.08.2006 – 10 U 2990/06 und v. 22.08.2007 – 10 U 3101/07; Urt. v. 18.01.2008 – 10 U 4156/07 [juris = NJW-Spezial 2008, 201 – red. Leitsatz, Kurzwiedergabe]; v. 03.07.2009 – 10 U 1711/09 [n. v.]; zuletzt v. 12.06.2015 – 10 U 3673/14 LG Ravensburg SP 1995, 227; zu den psychologischen und logischen Problemen bei solchen Fehlreaktionen und ihrer Bewertung siehe Wielke, Verkehrsunfall: Zeugenaussagen problematisch, aber unverzichtbar!, in Rant (Hrsg.), Sachverständige in Österreich – Festschrift 100 Jahre Hauptverband der Gerichtssachverständigen, Wien 2012, S. 445 [460 f. unter 6.2 und 6.3]).). Es kommt in solchen Fällen bei Kraftfahrern dann nur eine Haftung aus Betriebsgefahr gemäß § 7 I StVG in Betracht (BGH VersR 1976, 734; OLG Koblenz a.a.O.; Senat, Urt. v. 03.07.2009 – 10 U 1711/09 [n.v.]).

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3. Jedoch hat das Erstgericht hier zu Unrecht zu Lasten der Beklagtenseite die Betriebsgefahr des Traktorengespanns berücksichtigt. Denn nach Ansicht des Senats rechtfertigt der vorliegende schwere Verkehrsverstoß des Fahrers des klägerischen Fahrzeuges, was das Erstgericht übersehen hat, dass die Haftung der Beklagtenseite aus Betriebsgefahr vollständig zurückzutreten hat.

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Zwar darf hierbei nicht verkannt werden, dass das Traktorengespann der Beklagtenseite insbesondere aufgrund seines Gesamtgewichts von ca. 25 Tonnen eine grundsätzlich höhere Betriebsgefahr besitzt. Allerdings tritt diese Betriebsgefahr angesichts der Schwere des Verkehrsverstoßes des Fahrers des klägerischen Fahrzeuges vollständig zurück. Gemäß § 3 Abs. 1 S. 2 StVO ist die Geschwindigkeit insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen. Dies bedeutet vorliegend, dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges, bei dem es sich um einen schwer beladenen Sattelschlepper mit einer ebenfalls grundsätzlich höheren Betriebsgefahr gehandelt hat, auf einer 6 m breiten Straße bei einem unübersichtlichen und kurvenreichen Straßenverlauf deutlich langsamer als die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h hätte fahren müssen.

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Angesichts dieser Umstände des konkreten Einzelfalles ändert auch der Verweis der Klägerseite auf eine Quotentabelle nichts daran, dass der im Streitfall gegebene Verstoß des Fahrers des klägerischen Fahrzeuges gegen die Regelung des § 3 StVO derart schwer wiegt, dass die Haftung der Beklagtenseite aus Betriebsgefahr vollständig zurücktritt. Hierbei kommt es auch nicht auf die Frage an, in welchem Bereich der Straße das klägerische Fahrzeug bei der Annäherung an das Traktorgespann gefahren ist, insbesondere, ob ein Verstoß des Fahrers des klägerischen Fahrzeuges gegen das Rechtsfahrgebot vorliegt. Gleiches gilt für die Frage, ob es sich bei der streitgegenständlichen Kollision für den Beklagten zu 1) um ein unabwendbares Ereignis gehandelt hat.

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II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 I ZPO.

14
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO.

15
IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

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