BGH, Urteil vom 19.10.1993 – VI ZR 158/93
1. Zur Haftungsfreistellung aus §§ 636, 637 RVO von Halter und Tieraufseher eines scheuenden Reitpferds für Verletzungen eines Kindes, das das Pferd zum Grasen auf die Weide führen will.
Leitsatz des Gerichts)
Tatbestand
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Die damals 13-jährige Klägerin suchte seit Frühjahr 1984 in ihrer Freizeit oft die Hühnerfarm S. in B. auf, um mit den dort untergestellten Pferden in Kontakt zu kommen. Eines der Pferde, die 6-jährige Pony-Stute Tanja, gehörte der Erstbeklagten. Die Zweitbeklagte hielt dort den Wallach Flodo. Die Beklagten fütterten und pflegten ihre Pferde selbst. Während einer Abwesenheit der Erstbeklagten vom 10. bis 14. September 1984 wurde Tanja von der Zweitbeklagten betreut. Am 13. September 1984 wollte sie die Box des Pferdes ausmisten und übergab der Klägerin die Stute, die ein Halfter trug, zusammen mit einer Longe. Die Klägerin sollte das Pferd auf einen in der Nähe gelegenen Futterplatz führen. Hierbei ging das Pferd durch und schleifte die Klägerin, die ihre Hand nicht von der Longe befreien konnte, über das Gelände. Die Klägerin erlitt dabei neben Beschädigungen an Kleidung und Armbanduhr schwere Verletzungen.
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Sie verlangt von den Beklagten Ersatz ihrer materiellen und immateriellen Schäden für Vergangenheit und Zukunft mit der Behauptung, Tanja sei ein unruhiges Pferd gewesen. Die Zweitbeklagte habe ihr nur erklärt, wie die Longe gehalten werden müsse und ihr Weisungen für den Fall gegeben, daß die Stute sich loszumachen versuche. Auf dem Futterplatz sei Tanja unruhig geworden, als sie den in der Nähe frei herumlaufenden Wallach Flodo bemerkt habe, und sei durchgegangen. Dabei habe sich die Longe so unglücklich um ihr Handgelenk geschlungen, daß sie sich nicht von ihr habe befreien können.
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Die Beklagten haben u.a. vorgetragen, die Klägerin sei mit den Pferden weitgehend vertraut gewesen und habe mit ihnen umgehen können. Am Unfalltag habe sie das Pferd auf die an den Futterplatz angrenzende Weide führen wollen, obwohl die Zweitbeklagte die Bitte einer Freundin abgeschlagen habe, Tanja longieren zu dürfen, und habe dabei fehlerhafterweise die Longe um ihr Handgelenk geschlungen. Sie sei in einer regennassen Mulde ausgeglitten und habe dadurch das Scheuen und Durchgehen der Stute ausgelöst.
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Das Landgericht hat unter Annahme eines 40%igen Mitverschuldens der Klägerin die Beklagten zur Zahlung von 240 DM auf den materiellen Schaden sowie eines Schmerzensgeldes von 15.000 DM verurteilt und die Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz von 60 % des Zukunftsschadens der Klägerin festgestellt. Das Berufungsgericht hat die Klage bis auf einen Betrag von 453 DM nebst Zinsen – nämlich den geltend gemachten materiellen Schaden – abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihre abgewiesenen Klageansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht hält die Erstbeklagte als Tierhalterin nach § 833 BGB und die Zweitbeklagte als Tierhüterin nach § 834 BGB in vollem Umfang für verpflichtet, der Klägerin den materiellen Schaden zu ersetzen. Es meint jedoch, die Beklagten brauchten der Klägerin nicht für deren Personenschaden einzustehen, weil solche Ansprüche gegen die Erstbeklagte nach § 636 RVO und gegen die Zweitbeklagte als deren Betriebsangehörige nach § 637 Abs. 1 RVO ausgeschlossen seien. Bei dem Vorfall handele es sich um einen Arbeitsunfall im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil die Klägerin gemäß § 539 Abs. 2 RVO für die Erstbeklagte tätig geworden sei, als sie das Pferd zum Futterplatz geführt habe. Dabei habe sie nämlich eine Arbeit verrichtet, die der Tätigkeit eines berufsmäßigen Pferdepflegers ähnlich sei, und habe auch die Pferdehaltung der Erstbeklagten gefördert, nicht dagegen nur ausschließlich oder vornehmlich eigene Interessen im Hinblick auf den Umgang mit Pferden verfolgt.
II.
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Soweit das Berufungsgericht die Ansprüche der Klägerin auf Ersatz ihres Personenschadens abgewiesen hat, hält das Urteil den Angriffen der Revision nicht stand.
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1. Zutreffend hat das Berufungsgericht – von seinem Standpunkt aus nur zum geltend gemachten materiellen Schaden – angenommen, daß die Erstbeklagte als Halterin des Pferdes Tanja der Klägerin nach § 833 Satz 1 BGB schadensersatzpflichtig ist. Denn bei dem Scheuen und Durchgehen des Pferdes, welches die Schäden der Klägerin verursacht hat, hat sich die von dem Pferd ausgehende Tiergefahr verwirklicht. Daneben besteht eine Haftung der Zweitbeklagten nach § 834 BGB, weil sie zur Unfallzeit Tierhüterin der Stute Tanja war. Sie hat nämlich in Absprache mit der Erstbeklagten während deren Abwesenheit das Pferd betreut und mithin dessen Wartung und Beaufsichtigung selbständig übernommen (vgl. Senatsurteil vom 30. September 1986 – VI ZR 161/85 – VersR 1987, 198, 199 f.; BGB-RGRK-Kreft, 12. Aufl., § 834 Rn. 3 m.w.N.). Mangelndes Verschulden hat die Zweitbeklagte nicht dargetan.
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2. Mit Recht hat das Berufungsgericht ferner eine anspruchsmindernde Mitverursachung des Schadens durch die Klägerin im Sinn des § 254 Abs. 1 BGB verneint. Die Klägerin durfte sich ohne Verschulden für befugt halten, das Tier selbständig mittels Halfter und Longe zu führen, nachdem es die Zweitbeklagte ihr anvertraut hatte. Ihr kann auch nicht vorgeworfen werden, daß sie die Longe um das Handgelenk geschlungen habe. Selbst wenn die Zweitbeklagte ihr vor Übergabe des Pferdes die richtige Handhabung der Longe erklärt haben sollte, war von der unerfahrenen und im Gebrauch der Longe ungeübten Klägerin nicht zu erwarten, daß sie diese Erklärungen richtig erfaßte und insbesondere die Gefahren erkannte, die bei einem Schlingen der Longe um das Handgelenk drohen konnten. Dazu hätte es, wie das Berufungsgericht mit Recht ausführt, einer besonders nachdrücklichen Warnung der Zweitbeklagten bedurft. Dahinstehen kann, ob es der Klägerin entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nach §§ 254 Abs. 1, 828 Abs. 2 BGB zum Mitverschulden gereichen würde, wenn sie entsprechend dem Beklagtenvortrag versucht hätte, das Pferd verbotswidrig zum Longieren auf eine an den Futterplatz angrenzende Weide zu führen. Das Berufungsgericht legt nämlich seiner Entscheidung einen derartigen Sachverhalt nicht zugrunde, ohne daß die Revisionserwiderung hiergegen Rügen erhebt. Insbesondere hat das Berufungsgericht nicht festgestellt, daß sich insoweit die Übertretung eines Verbots, von welchem die Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen in ihrem Bescheid vom 26. Mai 1989 ausgeht, auf das Zustandekommen des Unfalls ausgewirkt hätte.
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3. Mit Erfolg wendet sich die Revision jedoch gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, daß der Anspruch der Klägerin auf Ersatz des Personenschadens nach §§ 636, 637 RVO entfalle.
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Für die Anwendung dieser Vorschriften ist schon deshalb kein Raum, weil sie voraussetzen, daß der Unfall als Arbeitsunfall i.S. der RVO einen Versicherungsfall auslöst, für den der Verunglückte aus der gesetzlichen Unfallversicherung entschädigt wird (vgl. Senatsurteile vom 6. Dezember 1977 – VI ZR 79/76 – VersR 1978, 150, 151 und vom 24. Juni 1980 – VI ZR 106/79 – VersR 1980, 822).
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a) Die Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen hat nach Erlaß des Berufungsurteils durch Bescheid vom 26. Mai 1989 die Anerkennung der Schädigung als Arbeitsunfall versagt und deshalb den von der Klägerin angemeldeten Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung ihr gegenüber abgelehnt. Die Klägerin hat ihren Widerspruch gegen diesen Bescheid zurückgenommen. Die zunächst von der Haftpflichtversicherung der Beklagten zu 1) und 2) erhobene und sodann von diesen selbst fortgeführte Klage gegen die Berufsgenossenschaft vor dem Sozialgericht auf Anerkennung der Schädigung als Arbeitsunfall ist durch Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. September 1991 – S 69 U 181/90 – abgewiesen worden. Die Berufung hiergegen ist durch Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. April 1993 – L 3 U 82/91 – zurückgewiesen worden, weil die Klägerin des vorliegenden Rechtsstreits bei ihrem nur objektiv arbeitnehmerähnlichen Tun in Wirklichkeit wesentlich allein ihre eigenen Angelegenheiten verfolgt habe, infolgedessen nicht mit fremdwirtschaftlicher Zweckbestimmung und nicht wie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses, sondern eigenwirtschaftlich tätig geworden sei und daher nicht nach § 539 Abs. 2 RVO unter Versicherungsschutz stehe (BSG Urteil vom 18. Februar 1987 – 2 RU 19/86 – und SozR 2200 § 539 RVO Nr. 119; vom 25. November 1992 – 2 RU 48/91 -). Denn der Klägerin sei die Betreuung des Pferdes nur überlassen worden, um ihr eine Freude zu machen, weil sie besonders gern die Pferde umsorgt habe, was für die Beklagte zu 2) keine Erleichterung, sondern eher eine Last gewesen sei. Die Revision ist nicht zugelassen worden.
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b) Damit ist durch das Urteil des Landessozialgerichts die Frage, ob die Schädigung ein Arbeitsunfall gewesen ist, im verneinenden Sinn endgültig auch für die Zivilgerichte entschieden, die an diese Feststellung nach § 638 Abs. 1 Nr. 1 RVO gebunden sind.
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Der Berücksichtigung dieses Urteils steht nicht entgegen, daß es erst nach Einlegung der Revision im vorliegenden Rechtsstreit ergangen ist, auch wenn gemäß § 561 Abs. 1 ZPO grundsätzlich nach Abschluß des Berufungsrechtszugs keine neuen Tatsachen eingeführt werden können. Wie der erkennende Senat im Urteil vom 24. Juni 1980 – aaO ausgeführt hat, müssen auch unter dem Blickpunkt der Befriedungsaufgabe des § 561 ZPO jedenfalls Entscheidungen über die Anerkennung eines Arbeitsunfalls im Verfahren der RVO oder der Sozialgerichtsbarkeit im Revisionsrechtszug Berücksichtigung finden. Das folgt daraus, daß solche Entscheidungen nach dem Sinn des § 638 RVO die Zivilgerichte deshalb binden, um in dieser Frage den Vorrang jener fremden Verfahrenszuständigkeiten vor der Zivilgerichtsbarkeit sicherzustellen; damit betreffen sie die Grenzen der Sachprüfung auch für das Revisionsgericht. Zur Gewährleistung dieses Vorrangs ordnet § 638 Abs. 2 RVO die Aussetzung des Verfahrens vor den Zivilgerichten bis zur Erschöpfung der in erster Linie berufenen “fremden” Entscheidungszuständigkeiten an, soweit es um diese Frage geht. Dem hatte der erkennende Senat im Streitfall durch Aussetzung des Revisionsverfahrens entsprochen.
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Mithin sind die Beklagten schon deshalb durch §§ 636, 637 RVO nicht von ihrer Haftung für Personenschaden der Klägerin freigestellt, weil für den vorliegenden Rechtsstreit verbindlich feststeht, daß die Schädigung der Klägerin kein Versicherungsfall ist, der als Arbeitsunfall Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung auslöst.
III.
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Das angefochtene Urteil kann deshalb keinen Bestand haben. Der Rechtsstreit ist, ohne daß es insoweit einer weiteren tatrichterlichen Aufklärung bedarf, zur Endentscheidung reif, soweit es um den Grund der Schmerzensgeldklage und den Feststellungsantrag der Klägerin geht. Dementsprechend war zum Schmerzensgeldanspruch ein Grundurteil zu erlassen und der Feststellungsklage stattzugeben (§ 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Zur Entscheidung über die Höhe des geltend gemachten Schmerzensgeldes, die tatrichterlicher Erwägungen bedarf und auf die das Berufungsgericht von seinem Standpunkt aus folgerichtig noch nicht eingegangen ist, ist der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.