Zur Haftung für von Kind erlittenem Stromschlag durch freiliegende Stromkabel in einem Neubaugebiet

Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Urteil vom 29. April 2003 – 3 U 74/02

1. Für die Absicherung verlegter Stromkabel bestehen in einem Neubaugebiet erhöhte Sicherungspflichten.

2. Ein Schmerzensgeld von 76.693,78 Euro = 150.000 DM ist – mit Vorbehalt des immateriellen Zukunftsschadens – bei schwersten Brandverletzungen eines neunjährigen Kindes angemessen.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bremen vom 04. Juli 2002 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 24.07.2002 abgeändert:

Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger € 76.693,78 nebst 4 % Zinsen seit dem 21.08.1999 zu zahlen.

Wegen der weitergehenden Zinsforderung wird die Klage abgewiesen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, als Gesamtschuldner dem Kläger sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden, die ihm in Zukunft aus dem Unfall vom 11.05.1999 auf dem Wendeplatz der Straße „Am Gaffelbaum“ in Bremen-Nord entstehen, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Die Berufung der Beklagten zu 1) und 2) gegen das Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts vom 04. Juli 2002 wird zurückgewiesen.

Von den Kosten des ersten Rechtszuges haben der Kläger 9 % und die Beklagten 91 % zu tragen.

Von den Kosten des Berufungsrechtszuges einschließlich der Nebenintervention haben zu tragen:

Von den außergerichtlichen Kosten des Klägers und des Nebenintervenienten die Beklagten als Gesamtschuldner 94 % und weitere 6 % die Beklagte zu 2) allein;

die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) und 2) die Beklagten selbst;

von den Gerichtskosten die Beklagten als Gesamtschuldner 94 % und die Beklagte zu 2) weitere 6 % allein.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung des Klägers und des Nebenintervenienten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe
1
Der Kläger hat die Beklagten wegen eines Unfalles auf Zahlung eines Schmerzensgeldbetrages von DM 150.000,00 und einer lebenslangen Schmerzensgeldrente ab dem 01.07.2000 von monatlich DM 400,00 in Anspruch genommen und Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für seine künftigen materiellen und immateriellen Schäden begehrt.

2
Am 11.05.1999 spielte der damals neunjährige Kläger in dem Neubaugebiet „Jollenstraße“ auf der Straße „Am Gaffelbaum“. Neben der Fahrbahn des Wendeplatzes dieser Straße ragte auf einem unbebauten Grundstück ein ca. 1 m langes und 7 cm breites 1 kV-Niederspannungskabel nach oben aus dem Boden. Das Ende des Kabels war nicht vorschriftsmäßig mit einer sogenannten Schrumpfkappe gesichert, sondern lediglich mit Isolierband umwickelt. Als der Kläger an dem Kabelende mit einer Storchenschnabelzange herumspielte, erlitt er einen starken Stromschlag. Sein gesamter Körper begann zu brennen. Von den erlittenen Verbrennungen zweiten und dritten Grades waren ca. 42 % der Hautoberfläche vor allem im Oberkörperbereich einschließlich des Halses betroffen.

3
Eigentümerin des Grundstücks, auf dem sich der Unfall ereignete, war die G Wohnungsbaugesellschaft Bremen-Nord e.G.. Die Beklagte zu 2) hat mit der Stadtgemeinde Bremen im März 1998 einen Erschließungsvertrag wegen des Neubaugebietes „Jollenstraße“ abgeschlossen, in dem die Beklagte zu 2) mit dem Beginn der Erschließungsarbeiten die Verkehrssicherungspflicht im gesamten Erschließungsgebiet übernahm.

4
Mit den Erschließungsarbeiten beauftragte die Beklagte zu 2) im Mai 1998 die Fa. K GmbH (Fa. K) und übertrug ihr die Wahrnehmung der Verkehrssicherungspflicht. Außerdem hat die Beklagte zu 2) durch Ergänzungsvereinbarung vom 10.11.1997 die Fa. B GmbH (Fa. B) außer mit Architektenleistungen für die Errichtung von 12 Doppelhaushälften im Neubaugebiet „Jollenstraße“ auch mit Aufgaben im Zusammenhang mit den von ihr selbst von der Stadtgemeinde Bremen für dieses Gebiet übernommenen Erschließungsarbeiten beauftragt.

5
Die Beklagte zu 1) betreibt in Bremen das Stromversorgungsnetz. In ihrem Auftrag verlegte zunächst die Fa. S und M Bauunternehmen GmbH & Co. KG (Fa. S und M) im Bereich der späteren Straße „Am Gaffelbaum“ u.a. die Stromleitungen. Später stellte dort die Fa. SA GmbH (Fa. SA) die Lichtmasten für die Straßenbeleuchtung im Auftrag der Beklagten zu 1) auf.

6
Die Erschließungsarbeiten im Bereich der späteren Straße „Am Gaffelbaum“ wurden in folgender zeitlicher Abfolge vorgenommen:

7
Ende Juni 1998 war Baubeginn mit Verlegung des Niederspannungskabels und der Beleuchtungskabel. Nach Beendigung dieser Arbeiten erfolgte Ende August 1998 eine Begehung der Baustelle durch einen Mitarbeiter der Beklagten zu 1) gemeinsam mit Vertretern der Fa. S und M. Anschließend schaltete die Beklagte zu 1) den Strom ein. Nachdem die Fa. S und M ihre Arbeiten fertiggestellt hatte, hatte bereits die Fa. K mit der Herstellung einer vorläufigen Schotterstraße als Baustraße begonnen. Im März 1999 begann die Fa. K mit dem endgültigen Ausbau der Straße, den sie Anfang Mai beendete. Während dieser Zeit errichtete die Fa. Sa je nach Fortschritt der Straßenbauarbeiten im März und zuletzt am 21.04.1999 die Lichtmasten, die am 26.04.1999 in Betrieb genommen wurden. Am 03.05.1999, nach Beendigung der Straßenbauarbeiten, erfolgte deren Abnahme durch den Geschäftsführer B der Fa. B und einem Mitarbeiter der Fa. K. Wegen verschiedener gerügter Mängel nahmen sie am 05.05.1999 eine weitere Abnahme vor. Am 11.05.1999 ereignete sich dann der Unfall des Klägers.

8
Der Kläger hat beide Beklagte wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten auf Schadensersatz in Anspruch genommen.

9
Das Landgericht Bremen hat nach Beweisaufnahme durch Urteil vom 04.07.2002 unter Abweisung der Klage im Übrigen die Beklagte zu 2) zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von € 35.000,00 verurteilt und im Übrigen die Einstandspflicht beider Beklagten für künftige Schäden des Klägers, die Haftung der Beklagten zu 1) beschränkt auf materielle Schäden, festgestellt.

10
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im ersten Rechtszug sowie der Entscheidungsgründe wird auf den Inhalt des Urteils des Landgerichts Bezug genommen.

11
Gegen dieses Urteil haben sowohl der Kläger als auch beide Beklagte Berufung eingelegt.

12
Der Kläger verfolgt seinen in erster Instanz geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch in Höhe von DM 150.000,00 gegen beide Beklagte weiter und begehrt ferner auch die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zu 1) zur Erstattung seiner immateriellen Zukunftsschäden.

13
Die Beklagte zu 1) erstrebt die Berücksichtigung einer Mithaftungsquote des Klägers von 1/3 sowie im Tenor den Ausspruch ihrer Haftungsbegrenzung nach den Vorschriften des Haftpflichtgesetzes.

14
Die Beklagte zu 2) verfolgt ihren Klagabweisungsantrag weiter.

15
Die Berufungen des Klägers und der beiden Beklagten sind zulässig. Die Berufung des Klägers hat in der Sache im Wesentlichen Erfolg. Die Berufungen der beiden Beklagten sind unbegründet.

16
Die Klage ist bis auf einen Teil der Zinsforderung begründet.

17
Dem Kläger stehen gegen beide Beklagte als Gesamtschuldner Ansprüche auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten nach §§ 823, 847 a.F., 840 BGB zu.

18
Die Beklagte zu 1) als Betreiberin des Stromversorgungsnetzes hat bei dessen Anlage und Unterhaltung die ihr obliegenden Verkehrssicherungspflichten verletzt. Diese Pflichten sind nicht vertraglich auf die Fa. S und M oder gar auf die Fa. SAG deswegen übergegangen, weil diese Unternehmen in ihrem Auftrag Kabel verlegt und Lichtmasten aufgestellt haben.

19
Eine solche Delegation ist zwar grundsätzlich zulässig; es verbleiben dem ursprünglich Verkehrssicherungspflichtigen aber stets eigene Auswahl-, Kontroll- und Überwachungspflichten, deren Umfang und Ausmaß sich nach den Umständen des Einzelfalles richten, wobei die Gefahr der Entstehung besonders hoher Schäden zu einer gesteigerten Sorgfaltspflicht des Delegierenden führen muss (BGH VersR 1982, 152). Zudem setzt eine Delegation der Sicherungspflichten eine klare Absprache voraus, die eine Ausschaltung von Gefahren zuverlässig sicherstellt. Erst dann kann sich die Verkehrssicherungspflicht des Delegierenden als des ursprünglich allein Verantwortlichen auf eine Kontroll- und Überwachungspflicht verengen, die sich darauf erstreckt, ob der Partner die vertraglich übernommenen Sicherungsmaßnahmen auch tatsächlich ausgeführt hat (BGH NJW 1996, 2646).

20
Bei der Absicherung der verlegten Stromkabel – insbesondere des Niederspannungskabels – bestanden hier erhöhte Sicherungspflichten. Wegen der generellen Gefahrenträchtigkeit stromführender Kabel mussten diese – wie sich aus dem von der Beklagten zu 1) eingeholten Gutachten des DEKRA, Niederlassung Dortmund, vom 18.03.2001 ergibt – nach der DIN 1998 05/78 in einer Tiefe von 0,6 m bis 1,6 m und nach den Richtlinien der Beklagten zu 1) in einer Tiefe von 0,7 m im Erdreich verlegt werden. Das offene Ende des Niederspannungskabels musste zum Schutz mit einer sogenannten Schrumpfkappe versehen sein. Ob das Niederspannungskabel in der vorgeschriebenen Tiefe und mit der erforderlichen Isolierung an seinem Ende verlegt worden ist, hat die Beklagte zu 1) nicht überprüft, sondern sie hat sich wegen der Ordnungsmäßigkeit der Verlegung nur auf Erklärungen der von ihr zu kontrollierenden Montagefirma verlassen. Ob die Beklagte zu 1) grundsätzlich ihren Kontrollpflichten genügt, wenn sie bei der ausführenden Fachfirma Nachfrage wegen der Vorschriftsmäßigkeit der vorgenommenen Arbeiten hält, kann dahinstehen. Angesichts der Begleitumstände durfte sich die Beklagte zu 1) hier nicht mit der Rückfrage begnügen, sondern sie hätte sich vor Verfüllung des Kabelgrabens von der Ordnungsmäßigkeit der Verlegung hinsichtlich der Tiefe und der Schutzkappe vergewissern und zu diesem Zweck Absprachen mit der Fa. S und M treffen müssen. Dieses Versäumnis könnte allerdings nur schadensursächlich geworden sein, wenn das Niederspannungskabel nicht in vorschriftsmäßiger Tiefe und ohne Schrumpfkappe verlegt worden wäre. Das kann nicht festgestellt werden. Der Kläger geht zwar von einer unvorschriftsmäßigen Verlegung ohne Schrumpfkappe aus. Zeugenbeweis dafür hat er nicht angetreten.

21
Allein aus dem Umstand, dass nach dem Gutachten der Kriminalpolizei in Bremen – KTU – vom 20.04.2000 ein Stück des Niederspannungskabels irgendwann vor dem Unfall des Klägers möglicherweise mit einer Säge abgetrennt und ein bei einem solchen Vorgang auftretender Kurzschluss im Stromnetz nicht beobachtet worden ist, lässt sich nicht mit hinreichender Sicherheit auf Montagefehler der Fa. S und M schließen. Der Beklagten zu 1) ist aber ein Kontrollversagen in der Folgezeit anzulasten. Sie wusste – wie ausgeführt – aus eigener Kenntnis nicht, ob die Stromkabel und vor allem das wegen seines offenen Endes besonders gefahrenträchtige Niederspannungskabel den Sicherheitserfordernissen entsprechend verlegt worden war. Ihr war zudem bekannt, dass die Kabel der Erschließung eines Neubaugebietes dienen sollten und konkret im betreffenden Bereich eine Straße gebaut werden sollte. Sowohl von der Straßenbaufirma als auch von der Beklagten zu 2) waren von ihr keine Verlegepläne angefordert worden, was aber nach ihrem eigenen Vortrag unerlässliche Voraussetzung für die Durchführung der Straßenbauarbeiten gewesen wäre. Die Beklagte zu 1) musste aufgrund dieser Gesamtumstände damit rechnen, dass im Zuge der Bebauung des Gebietes ihre Kabel nicht unbeschadet und nicht in hinreichender Tiefe liegen bleiben würden. Sie durfte sich zudem nicht darauf verlassen, dass die Mitarbeiter der Fa. SA von sich aus ohne entsprechende Absprache bei der Errichtung der Lichtmasten darauf achten würden, ob andere als von ihr anzuschließende Kabel Gefahrenquellen darstellten.

22
Um generell eine mögliche Gefährdung durch die Kabel – speziell das Niederspannungskabel – auszuschließen, hätte sie sicherstellen müssen, dass sie über konkrete Baumaßnahmen im Neubaugebiet und deren Fortschritt informiert wurde. Sie hätte sich dann vor Ort spätestens nach dem vor dem 03.05.1999 liegenden Abschluss der Straßenbauarbeiten der Fa. K durch Besichtigung unter Heranziehung der Kabelverlegepläne von der Sicherheitslage überzeugen müssen. Das Unterlassen dieser notwendigen Überprüfung ist unfallursächlich geworden. Hätte die Beklagte zu 1) spätestens am 03.05.1999 eine Überprüfung vorgenommen, hätte sie das ca. einen Meter aus dem Erdreich herausragende Niederspannungskabel bemerkt. Sein Ende befand sich spätestens zu diesem Zeitpunkt in dieser Länge nicht mehr im Boden. Dies ergibt sich aus den auch durch Fotos dokumentierten Feststellungen der Kriminalpolizei nach Aufgraben des Bereichs, in dem das Kabel aus dem Erdreich getreten war. Danach lag das Kabelende unmittelbar neben dem Betonsockel für die Kantensteine des Straßenpflasters und verlief nicht plan, sondern in einer Welle.

23
Der Vortrag der Parteien und auch sonstige Umstände bieten keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass gerade in diesem Bereich noch nach dem Gießen des Betonsockels durch die Fa. K Arbeiten ausgeführt worden sind, durch die das Kabelende bewegt worden sein könnte. Es ist darüber hinaus bewiesen, dass das Kabel schon einige Zeit vor dem 03.05.1999, während der Straßenbauarbeiten der Fa. K aus der Erde geragt hat, ohne dass der genaue Zeitpunkt und die Ursache festgestellt werden können. Die vom Landgericht vernommenen Zeugen H und E, R, W und P haben nach ihren Bekundungen das Kabel während ihrer Straßenbauarbeiten für die Fa. K gesehen. Selbst wenn durch diese Arbeiten – was die Beklagten vermuten – das Kabel bewegt und aus dem Erdboden befördert worden sein sollte und die vorgenannten Zeugen in diesem Punkt unzutreffende Angaben im Eigeninteresse gemacht haben sollten, kann angesichts der bereits bei ihren Vernehmungen vor der Polizei und bei ihren Zeugenvernehmungen vor dem Landgericht in den wesentlichen Einzelheiten zutreffenden Schilderungen des Aussehens des Kabels, der Art seiner Isolierung am Endpunkt und seiner Austrittstelle in der Nähe der Pflasterung kein Zweifel daran bestehen, dass sie irgendwann während ihrer Tätigkeit von März bis Anfang Mai 1999 das aus der Erde ragende Kabel gesehen haben. Bestätigt werden die Aussagen zudem durch die Bekundungen des Zeugen W, der als Anwohner keinerlei Eigeninteresse hat. Im Übrigen wird auf die zutreffende Beweiswürdigung im angefochtenen Urteil Bezug genommen. Insbesondere ist die Würdigung der Aussage des Zeugen B im angefochtenen Urteil nicht zu beanstanden. Ihr ist eindeutig zu entnehmen, dass für den Zeugen die Beaufsichtigung der Hochbauarbeiten im Vordergrund stand. Dass er den späteren Unfallbereich nur unzulänglich kontrolliert hat, ergibt sich aus seiner Aussage, dort habe Gras gestanden und es seien Paletten mit Baumaterial gelagert gewesen, deshalb sei das Kabel aus größerer Entfernung nicht ins Auge gesprungen. Er hat also das Gelände nicht näher in Augenschein genommen. Zudem kann dort kein sichtbehinderndes Gras gestanden haben, und zwar schon wegen der Jahreszeit nicht. Außerdem ist auf den unmittelbar nach dem Unfall aufgenommenen Lichtbildern der Polizei von der Unfallstelle dort nur blanke Erde mit wenigen, sehr niedrigen Grasbüscheln zu sehen.

24
Auch die Beklagte zu 2) ist nicht durch Delegation von ihren Verkehrssicherungspflichten freigestellt worden. Nach den bereits erörterten Grundsätzen verblieben bei ihr zumindest Überwachungs- und Kontrollpflichten. Darauf hat sich ihre Verkehrssicherungspflicht aber nach Ansicht des Senats nicht verengt, weil sie keine klaren Absprachen über den Pflichtenkreis der von ihr beauftragten beiden Firmen K und B wegen der von diesen übernommenen Verkehrssicherungspflichten getroffen hat.

25
In den Vereinbarungen mit diesen beiden Firmen war nicht ausdrücklich und unmissverständlich geregelt, wer im Gelände des Erschließungsgebietes verkehrssicherungspflichtig sein sollte. Es bestand daher die Gefahr, dass jede der beiden Firmen sich nur für konkrete Baumaßnahmen, die in ihren Aufgabenbereich als Ausführende oder Aufsichtsführende fielen, verantwortlich fühlte. Diese Gefahr hat sich verwirklicht.

26
Den von ihr übernommenen Verkehrssicherungspflichten – selbst wenn diese nur auf Kontroll- und Überwachungspflichten reduziert gewesen sein sollten – war die Beklagte zu 2) nicht gewachsen, so dass ihr schon wegen der Übernahme dieser Pflichten ein Schuldvorwurf zu machen ist. Wie sie selbst vorgetragen hat, befasst sie sich mit Grundstücks- und Hausverwaltungen und nicht mit Bau-, Baubetreuungs- oder Bauträgertätigkeit. Ihr Personal besteht aus dem Geschäftsführer, einer Wohnungsverwalterin und einem teilzeitbeschäftigten Hausmeister. Soweit sie behauptet, sie habe gleichwohl durch ihren Geschäftsführer die Baustelle zusätzlich zur Tätigkeit der Fa. B überwacht, ist ihr Vorbringen unsubstantiiert. Es fehlt an genauen Zeitangaben und zudem an Darlegungen, was der Geschäftsführer über die Straßenbauarbeiten hinaus im Umfeld der Baustelle kontrolliert hat.

27
Die Verkehrssicherungspflichtverletzung der Beklagten zu 2) war unfallursächlich. Bei ausreichender Kontrolle hätte sie ebenso wie die Beklagte zu 1) das schon längere Zeit vor dem Schadensereignis aus dem Erdboden ragende Kabel bemerken können.

28
Die Ansprüche des Klägers sind nicht gemäß § 254 BGB zu kürzen. Dem Kläger ist kein Mitverschulden am Unfallgeschehen anzulasten. Im Rahmen des § 254 BGB ist § 828 BGB entsprechend anwendbar. Dabei tritt an Stelle der zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderlichen Einsicht diejenige Einsicht, die zur Erkenntnis der Gefährlichkeit des eigenen Verhaltens erforderlich ist (Geigel, Der Haftpflichtprozess, 23. Aufl., Kap. 16, Rn. 10; Palandt, BGB, 62 Aufl., § 254 Rn. 13). Daran fehlt es hier. Maßgeblich ist nicht, ob der Kläger altersbedingt die Gefährlichkeit von Manipulationen an stromführenden Kabeln kannte. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, ob er wusste oder zumindest davon ausgehen musste, dass das dicht neben dem Gehweg ca. 1 m aus der Erde ragende und an der Spitze nur mit einer Isolierbandverklebung versehene Kabel ein stromführendes Elektrokabel war und daher eine Gefahrenquelle darstellte. Von einer solchen Erkenntnis kann bei der Außergewöhnlichkeit der Umstände nicht ausgegangen werden.

29
Das vom Landgericht zugesprochene Schmerzensgeld ist zu knapp bemessen. Außer den schweren Brandverletzungen, den mehrfachen Hauttransplantationen, der Dauer der stationären Krankenhaus- und späteren Reha-Behandlung fallen besonders ins Gesicht die verbliebenen Dauerschäden eines Verletzten im Kindesalter. Wie durch vom Kläger vorgelegte Lichtbilder dokumentiert, ist die Hautoberfläche an seinem Oberkörper einschließlich der Halspartie und bis in das Gesicht hinein durch Narben und Hautveränderungen stark beeinträchtigt. Er hat nicht nur auf Lebenszeit unter dadurch bedingten Beschwerden zu leiden, sondern muss mit weiteren Eingriffen rechnen. Zudem können sich Verletzungen z.B. aus möglichen späteren Unfällen in den geschädigten Körperregionen besonders schwerwiegend auswirken. Er muss in der Berufswahl und bei seinen Freizeitaktivitäten auf die gesteigerte Anfälligkeit der brandgeschädigten Hautpartien Rücksicht nehmen. Über die damit verbundenen seelischen Beeinträchtigungen hinaus wird er für die Dauer seines Lebens unter seinen Entstellungen zu leiden haben. Abgesehen von der Schwere der Verletzung, den damit verbundenen Schmerzen und Dauerschäden war bei der Bemessung des immateriellen Schadens schmerzensgelderhöhend die seit dem Unfall verstrichene Zeit ohne Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Der geltend gemachte Schmerzensgeldbetrag von € 76.693,78 = DM 150.000,00 erschien bei Abwägung der erörterten Umstände angemessen. Damit sind nicht abgegolten eventuelle im Zusammenhang mit späteren Eingriffen auftretende Komplikationen.

30
Zinsen auf das Schmerzensgeld gem. §§ 284, 288 BGB sind nur in Höhe von 4 % gerechtfertigt, da der Anspruch bereits vor dem 01.05.2000 fällig war (vgl. Palandt, a.a.O., § 288 Rn. 1).

31
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97, 92, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

32
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen nach § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.

Dieser Beitrag wurde unter Zivilrecht abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.