Zur Frage der Opferentschädigung bei vorangegangener Provokation durch den Geschädigten

SG Karlsruhe, Urteil vom 16.03.2012 – S 1 VG 4035/11

1. Auch ohne eine Straftat begangen zu haben, kann der Tatbeitrag eines Opfers wesentlich mitursächlich i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1, erster Halbsatz OEG sein, wenn sich das Opfer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tatbegehung bewusst oder leichtfertig, d.h. grob fahrlässig, durch ein schwerwiegendes vorwerfbares Verhalten der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und sich dadurch selbst gefährdet hat, etwa durch die schuldhafte Herausforderung (Provokation) des Angriffs.

2. Nicht anders ist ein Geschädigter zu behandeln, der sich ohne sozial- oder gemeinnützige Motive einer von ihm erkannten oder leichtfertig verkannten Gefahr nicht entzieht, obwohl ihm dies zumutbar und möglich ist.

(Leitsätze des Gerichts)

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1 Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Entschädigungsleistungen nach dem Gesetz über Entschädigung für Opfer von Gewalttaten – Opferentschädigungsgesetz – (OEG).

2 Der 1980 geborene Kläger, der die nigerianische Staatsangehörigkeit besitzt, hält sich seit Dezember 2001 ununterbrochen im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland auf. Bis August 2004 war er im Besitz einer Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz. Vom 04.08.2004 bis zum 26.07.2005 war sein Aufenthalt im Bundesgebiet geduldet. Seit dem 20.07.2005 war er im Besitz einer bis zum 30.07.2010 befristeten Aufenthaltserlaubnis. Der Kläger und der 1976 geborene Schädiger Ch. O. (im Folgenden: O.), ebenfalls nigerianischer Staatsangehöriger, kennen sich aus ihrer gemeinsamen Zeit in einer Asylbewerberunterkunft in Straubenhardt Anfang diesen Jahrhunderts. In den letzten Monaten vor dem hier streitigen Ereignis kam es zwischen beiden zu Unstimmigkeiten aufgrund unberechtigter Eifersucht des Klägers; dieser hatte den – ungerechtfertigten – Eindruck, O. wolle etwas von seiner früheren Lebensgefährtin.

3 In der Nacht vom 03.10.2009 auf den 04.10.2009 besuchten der Kläger und O. – getrennt voneinander – eine Veranstaltung (Afrikanische Nacht) im Club „C.“ in K.. Der Kläger hatte von Dritten erfahren, in dem Club halte sich ein nicht näher identifizierter „alter Bekannter“ aus der Zeit im Asylbewerberheim auf, und wollte diesen kurz begrüßen. Diesen Freund traf der Kläger mit O. zusammenstehend im Club an. Aus seiner Eifersucht heraus sagte der Kläger in Anwesenheit des O. und für diesen hörbar sinngemäß zu dem Freund, der in Begleitung seiner Frau anwesend war, dieser solle aufpassen, da manche Leute jemanden begrüßten, tatsächlich aber nur an dessen Frau interessiert seien. Mit dieser Bemerkung wollte der Kläger O. beschreiben, was sowohl der Freund als auch O. in diesem Sinne verstanden. Hierauf aufbauend kam es zwischen dem Kläger und O. in den Räumlichkeiten des Lokals zu einer im Wesentlichen verbalen Auseinandersetzung, in deren Rahmen der Kläger O. einen oder mehrere schmerzhafte, jedoch zu keinen sichtbaren Verletzungen führende Schläge in das Gesicht und gegen eine zuvor operierte Schulter versetzte. O. ergriff ein Sektglas und drohte dem Kläger, ihm dieses auf den Kopf zu schlagen. Mit Unterstützung von Sicherheitskräften ließ der auf das Geschehen aufmerksam gewordene Veranstalter den Kläger und O. vor die Tür des Lokals verbringen. Dort redete er beschwichtigend auf beide Personen ein. Nachdem diese sich beruhigt und dem Veranstalter versprochen hatten, keine weiteren Probleme zu machen, gestattete der Veranstalter beiden Personen wieder, die Veranstaltung zu besuchen. Nur wenige Minuten nach der Rückkehr in das Lokal gerieten der Kläger und O. jedoch erneut aneinander; zu Handgreiflichkeiten kam es dabei nicht. Daraufhin ließ der Veranstalter den Kläger und O. durch Türsteher endgültig aus dem Lokal verbringen.

4 Auf der Straße setzte sich die verbale Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und O. zunächst fort. O. entledigte sich dabei seiner Lederhalbschuhe, nachdem sich diese während der Auseinandersetzung im Inneren des Lokals als nicht standfest genug erwiesen hatten; der Kläger seinerseits zog sein T-Shirt aus, um sich im Falle eines Kampfes besser verteidigen zu können und O. eine Zugriffsmöglichkeit zu nehmen. Als O. nur wenige Minuten später mit einer Flasche oder einem Glas in der Hand auf den Kläger zuging, wurden die Türsteher auf das Geschehen wieder aufmerksam. Ihnen gelang es durch verbale Intervention, O. dazu zu bewegen, den Gegenstand aus der Hand zu legen.

5 Kurze Zeit später nahm O. jedoch einen 0,3 l gläsernen Bierkrug, zerschlug diesen an der Kante eines Blumenkübels, nahm eine etwa 5 x 5 cm große gezackte Scherbe aus dem Seitenrand des Glases, nachdem er sich, um sich nicht zu verletzen, ein Handtuch um seine Hand gewickelt hatte, ging auf den etwa 5 m entfernt stehenden Kläger zu und zog ihm die Scherbe kräftig über das Gesicht. Dabei durchtrennte er das linke Ober- und Unterlied vertikal. Eine zweite in Richtung des Gesichts des Klägers geführte Schnittbewegung verfehlte ihr Ziel, nachdem der Kläger sich nunmehr mit Tritten zu wehren versuchte und es ihm gelang, den rechten Arm schützend vor das Gesicht zu halten. Hierdurch fügte O. dem Kläger auf dem rechten Unterarm streckseitig eine etwa 20 cm lange, bis auf den Knochen reichende Schnittwunde zu. Weiteren Personen gelang es daraufhin, O. von dem Kläger wegzuziehen. Außerdem stellten sich die hinzu geeilten Türsteher zwischen beide Kontrahenten und schirmten den Kläger auf diese Weise ab.

6 Das Landgericht K. – 1. Schwurgerichtskammer – verurteilte O. am 08.06.2010 wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren sowie zur Zahlung eines Schmerzensgelds an den Kläger (1 Ks 100 Js 36098/09).

7 Am 07.06.2010 stellte der Kläger beim Landratsamt K. (LRA) den Antrag, ihm wegen der Folgen des Ereignisses vom 04.10.2009 (Einschränkung der Sehfähigkeit des linken Auges, Belastungseinschränkung der rechten Hand und des Handgelenks) Entschädigungsleistungen nach den OEG zu gewähren. Nach weiterer Sachaufklärung (u.a. Auskünfte der Stadt K. – Ausländeramt -, der AOK K. sowie des Augenarztes Prof. Dr. A., der die Behandlungsunterlagen der Augenklinik des Klinikums K. beifügte, Beizug des Urteils des Landgerichts K. vom 08.06.2010) lehnte das LRA den Antrag mit der Begründung ab, zwar sei der Kläger am 04.10.2009 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des OEG geworden; auch habe er hierdurch eine gesundheitliche Schädigung erlitten. Dennoch bestehe kein Anspruch auf Entschädigungsleistungen, weil der Kläger seine gesundheitliche Schädigung mit verursacht habe. Er habe durch sein Verhalten die ursprüngliche körperliche Auseinandersetzung in Gang gesetzt und der Täter habe mehrfach gedroht, ihn mit einem Glas bzw. mit einer Glasscherbe zu verletzen. Die Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und O. habe sich in mehreren Phasen abgespielt; der Kläger habe dabei jedoch keinen Versuch unternommen, sich dem Gefahrenbereich zu entziehen. Aufgrund der selbst geschaffenen Gefahr seien Leistungen nach dem OEG zu versagen (Bescheid vom 16.11.2010, Widerspruchsbescheid vom 31.08.2011).

8 Deswegen hat der Kläger am 23.09.2011 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Widerspruchsvorbringen.

9 Der Kläger beantragt – teilweise sinngemäß -,

10 den Bescheid vom16. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. August 2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Ereignisses vom 04. Oktober 2009 Entschädigungsleistungen nach dem Gesetz über Entschädigung für Opfer von Gewalttaten zu gewähren.

11 Der Beklagte beantragt,

12 die Klage abzuweisen.

13 Er erachtet die angefochtenen Bescheide für zutreffend. Der Kläger habe sich durch sein Verhalten leichtfertig selbst gefährdet, indem er die tätliche Auseinandersetzung mit dem Schädiger durch verbale Provokationen überhaupt erst in Gang gesetzt habe. Angesichts des Geschehensablaufs habe er mit einer Eskalation der Auseinandersetzung rechnen müssen. Dem selbst geschaffenen Gefahrenbereich hätte er sich entziehen können und müssen.

14 Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

15 Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der vorliegenden Verwaltungsakte des Beklagten sowie den der Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

16 Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes ). Zu Recht hat der Beklagte die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG versagt, denn der Kläger hat seine am 04.10.2009 erlittene Verletzungen am linken Auge und der rechten Hand wesentlich mit verursacht. Hierüber konnte die Kammer mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Das seitens der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Schriftsatz vom 12.03.2012 erklärte Einverständnis mit einer „Entscheidung durch Gerichtsbescheid“ umfasst auch die Zustimmung zu einer Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs. 2 SGG (vgl. BSG vom 16.02.2007 – B 6 KA 60/06 B – ; LSG Bremen, Breithaupt 1999, 789; SG Hildesheim vom 30.09.2010 – S 26 AS 578/07 – sowie SG Karlsruhe vom 23.08.2011 – S 1 SB 160/09 – ).

17 1) Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes in Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Nach § 1 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 OEG erhalten Ausländer, die weder Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates des Europäischen Gemeinschaften sind oder auf die keine Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaften anwendbar sind, die eine Gleichbehandlung mit Deutschen erforderlich machen oder bei denen die Gegenseitigkeit nicht gewährleistet ist, Versorgung, wenn sie sich rechtmäßig nicht nur für einen vorübergehenden Aufenthalt von längstens 6 Monaten im Bundesgebiet aufhalten, wenn sie sich seit mindestens 3 Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Diese Voraussetzungen liegen – zwischen den Beteiligten unstreitig und unzweifelhaft – vor, wie der Beklagte durch die angefochtenen Bescheide anerkannt hat.

18 Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind Leistungen jedoch zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.

19 2.) Orientiert an diesen rechtlichen Bestimmungen sind die angefochtenen Bescheide nicht zu beanstanden und hat der Beklagte Entschädigungsleistungen wegen der gesundheitlichen Folgen aus Anlass des Ereignisses vom 04.10.2009 zu Recht versagt. Insoweit nimmt das Gericht zunächst vollinhaltlich Bezug auf die Ausführungen in den Begründungen der angefochtenen Bescheiden (§ 136 Abs. 3 SGG analog). Ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen:

20 a) Rechtsgrund für die Gewährung von Gewaltopferentschädigung ist das Einstehen der staatlichen Gemeinschaft für die Folgen bestimmter Gesundheitsstörungen nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen. Aufgabe des Staates ist es u.a., den Bürger vor Gewalttaten zu schützen. Kann er dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so besteht ein Bedürfnis für eine allgemeine Entschädigung (vgl. BT-Drucks 7/2506 Seite 7 sowie BSG, SozR 3800 § 2 Nr. 1). Die Entschädigung der Opfer von Straftaten resultiert damit aus der besonderen bzw. gesteigerten Verantwortung des Staates für die Unvollkommenheit staatlicher Verbrechensbekämpfung (vgl. BSGE 50, 40, 44). Das OEG ist mit anderen Worten von dem Fürsorgegedanken des Staates für seine Bürger bzw. für diejenigen Personen, die sich dauerhaft rechtmäßig in Deutschland aufhalten, geprägt. Dieser ist Teil des verfassungsrechtlich garantierten Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes).

21 b) Eine Mitverursachung i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1, erster Halbsatz OEG liegt nach der auch im Opferentschädigungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. Kunz/Zellner/Gelhausen/Weiner, OEG, 5. Aufl. 2010, § 1, Rn. 41) vor, wenn das Verhalten des Geschädigten als wesentliche Bedingung für den Schadenseintritt anzusehen ist, d.h. wenn das Verhalten des Opfers eine annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Tatbeitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers darstellt. Ein Gewaltopfer hat den Angriff dann mit verursacht, wenn es einen eigenen Beitrag zur Tat geleistet hat, der nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Angriff entfiele, und wenn der Beitrag von seinem Gewicht her mit dem rechtswidrigen Verhalten des Angreifens vergleichbar ist (vgl. BSG SozR 4-3800 § 2 Nr. 2; BSG 3-3800 § 2 Nrn. 2, 5 und 9 und BSG SozR 3-3800 § 1 Nr. 19 m.w.N.; st. Rspr.), z.B. durch eine eigene strafrechtlich relevante Handlung oder durch sonstiges tatförderndes Verhalten, etwa eine Provokation. Als zur Mitverursachung geeignet kommen nur solche Handlungen in Betracht, die ebenso wie der rechtswidrige tätliche Angriff des Schädigers von der Rechtsordnung missbilligt werden (vgl. Kunz/Zellner/Gelhausen/Weiner, a.a.O., § 2, Rn. 13). Stellt sich jemand bewusst außerhalb der staatlichen Gemeinschaft und realisiert sich die damit verbundene Gefahr in einer Schädigung durch eine Gewalttat, so widerspräche es dem Verbot unzulässiger Rechtsausübung, zum Ausgleich der Schädigungsfolgen staatliche Leistungen zu verlangen. Ausgeschlossen ist deshalb die Entschädigung eines Opfers, das sich, ohne sozialnützlich (vgl. BSG SozR 3800 § 2 Nr. 3) oder sogar von der Rechtsordnung erwünscht (vgl. BSG SozR 3800 § 2 Nr. 7) zu handeln, der Gefahr einer Gewalttat bewusst oder leichtfertig ausgesetzt hat (vgl. BSG SozR 3-3800 § 2 Nrn. 3 und 5).

22 Auch ohne eine Straftat begangen zu haben, kann der Tatbeitrag eines Opfers wesentlich mit ursächlich i.S. des § 2 Abs. 1 Satz 1, erster Halbsatz OEG sein, wenn sich das Opfer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tatbegehung bewusst oder leichtfertig, d.h. grob fahrlässig, durch ein schwerwiegendes vorwerfbares Verhalten der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und sich dadurch selbst gefährdet hat, etwa durch die schuldhafte Herausforderung des Angriffs (vgl. BSG SozR 3-3800 § 2 Nrn. 3 und 9 sowie BSG SozR 3800 § 2 Nr. 2, außerdem die Gesetzesbegründung zum OEG in BT-Drucks 7/2506 Seite 15 zu § 2). Nicht anders ist ein Geschädigter zu behandeln, der sich einer von ihm erkannten oder leichtfertig verkannten Gefahr nicht entzieht, obwohl ihm dies zumutbar und möglich wäre (BSG SozR 3800 § 2 Nr. 5). Bei der Frage, ob und inwiefern das Opfer ursächlich gehandelt hat, sind alle Umstände heranzuziehen, die objektiv tatfördernd gewirkt haben oder subjektiv gewirkt haben können (Wahrscheinlichkeit; vgl. Kunz/Zellner/Gelhausen/Weiner, a.a.O., Rn. 15). Zur Beurteilung der hier in Betracht kommenden groben Fahrlässigkeit des Opfers ist ähnlich wie im Strafrecht ein subjektiver Maßstab anzulegen und dabei zu prüfen, ob das Opfer die Selbstgefährdung nach seinen persönlichen Fähigkeiten sowie den Umständen des Einzelfalles erkennen und vermeiden konnte, weiter, ob das Opfer mit einer Gewalttat rechnen musste. „Leichtfertigkeit“ ist im Opferentschädigungsrecht ebenso wie im Strafrecht (vgl. Vogel in Leipziger Kommentar zum StGB, 10. Aufl 2010, § 251, Rn. 9 m.w.N.) und im Steuerstrafrecht (vgl. BFHE 149, 109, 118 m.w.N.) durch einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit gekennzeichnet, der etwa der groben Fahrlässigkeit des bürgerlichen Rechts (vgl. insoweit u.a. BGH, NJW 2007, 2988 sowie zuletzt BGH, NJW-RR 2012, 280, 281) entspricht. Im Gegensatz zum bürgerlichen Recht gilt aber nicht der auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichtete objektive Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerliches Gesetzbuchs, sondern ein individueller, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers (im Strafrecht: des Täters) abstellt. Denn ebenso wie im Strafrecht der Schuldvorwurf setzt im Recht der Opferentschädigung die Zurechnung selbstgefährdenden Verhaltens voraus, dass der Täter/das Opfer sich hätte anders verhalten können.

23 Keine Mitverursachung i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1, erster Halbsatz OEG liegt vor, wenn auf das Verhältnis zwischen einer provozierenden Äußerung des Geschädigten und der Reaktion des Täters abgestellt wird und der tätliche Angriff im Vergleich zur Bemerkung des Geschädigten objektiv völlig unverhältnismäßig war und den Geschädigten quasi wie ein „Blitz aus heiterem Himmel“ (vgl. BSG SozR 3-3800 § 2 Nr. 9 und BSG USK 99120) getroffen hat.

24 c) Die Mitverursachung im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1, erster Halbsatz OEG ist – als Sonderfall des im zweiten Halbsatz geregelten Ausschlusses des Versorgungsanspruchs wegen sonstiger Unbilligkeitsgründe – stets zuerst zu prüfen (vgl. BSG SozR 3800 § 2 Nr. 4; SozR 3-3800 § 2 Nr. 9 und SozR 4-3800 § 2 Nr. 2). Sie bestimmt abschließend, wann die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten Leistungen ausschließt. Zum Bereich der unmittelbaren Tatbeteiligung gehören alle unmittelbaren, nach natürlicher Betrachtungsweise mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen, insbesondere auch zeitlich eng verbundene Umstände. Alle sonstige, nicht unmittelbare, sondern lediglich erfolgsfördernde Umstände – wie typischerweise die Vorgeschichte der Gewalttat – sind im Rahmen der Unbilligkeit zu prüfen (vgl. BSG SozR 3800 2 Nr. 7; BSG SozR 3-3800 § 2 Nrn. 3 und 9 sowie BSG USK 99120 m.w.N.); dazu gehören mithin insbesondere auch die lediglich „mittelbaren“ Ursachen der Gewalttat (vgl. BSG SozR 3-3800 § 1 Nr. 19 m.w.N). Umstände, die im Sinne der Mitverursachung nicht zum Leistungsausschluss führen, können auch nicht allein, sondern nur unter Hinzutreten sonstiger Gründe zur Annahme einer Unbilligkeit führen (vgl. BSG SozR 3800 § 2 Nr. 7 und BSG USK 99120). Mithin kann ein Tatbeitrag des Gewaltopfers, der unter der Schwelle versorgungsausschließender Mitverursachung bleibt, zusammen mit anderen Ursachen die Gewährung von Leistungen als unbillig erscheinen lassen (vgl. BSG SozR 4-3800 § 2 Nr. 1). Gefordert ist dann, dass die „sonstigen Umstände“ zusammen mit dem für sich genommen nicht ausreichenden Tatbeitrag dem in § 2 Abs. 1 Satz 1, erster Halbsatz OEG genannten Grund der Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkommen (vgl. BSG SozR 4-3800 § 2 Nr. 2 m.w.N.; zum Gebot der konkreten Betrachtung der Kausalität: BSG SozR 3-3800 § 2 Nr. 7).

25 d) Gemessen daran hat der Kläger seine am 04.10.2009 erlittene Schädigung im Bereich des linken Auges und des rechten Armes i.S.d. § 2 Abs. 1 Satz 1, erster Halbsatz OEG wesentlich mit verursacht. Dabei kann – wie der Beklagte zutreffend entschieden hat – das Geschehen vor dem Lokal „C“, bei dem es unmittelbar zu der Schädigung des Klägers gekommen ist, nicht losgelöst von den Geschehensabläufen zuvor innerhalb und außerhalb des Lokals betrachtet werden. Danach war mit Blick auf das von dem Kläger selbst ausgehende, völlig grundlose, provozierende verbale und auch tätliche Verhalten gegen O. der Boden für weitere Auseinandersetzungen mit Tätlichkeiten bereitet. Der Kläger musste aufgrund seines eigenen vorangegangenen Verhaltens, insbesondere des bereits innerhalb des Lokals seitens O. erfolgten Aufgreifens eines Sektglases und der Ankündigung, ihm – dem Kläger – das Glas auf den Kopf zu schlagen, sowie dem erneuten Ergreifen einer Flasche oder eines Glaskruges außerhalb des Lokals, mit dem O. auf den Kläger zuging, damit rechnen, dass O. erneut einen Angriff gegen ihn führen und gegebenenfalls mit einem Gegenstand auf ihn einschlagen und ihn verletzen würde. Für eine unmittelbar bevorstehende weitere tätliche Auseinandersetzung sprechen vorliegend auch das Ausziehen der Schuhe seitens des O., die sich bei den Auseinandersetzungen innerhalb des Lokals als nicht standsicher erwiesen hatten, insbesondere aber das Ausziehen seines eigenen – des Klägers – T-Shirts; denn hierdurch wollte er sich nach den überzeugenden Feststellungen im Urteil des Landgerichts Karlsruhe, die sich die Kammer nach sorgfältiger Prüfung zu eigen macht, auf einen eventuell bevorstehenden Angriff des O. vorbereiten. Damit aber war dem Kläger zu diesem Zeitpunkt die Gefährlichkeit der Situation auch subjektiv bewusst. Aufgrund seines eigenen, provokativen Verhaltens bestand mit anderen Worten psychologisch eine angeheizte Situation zwischen dem Kläger und O. In dieser hat sich der Kläger leichtfertig einer weiteren tätlichen Auseinandersetzung mit O. nicht entzogen. Vielmehr ist er, nachdem ihn der Veranstalter der „Afrikanischen Nacht“ mit Hilfe der Türsteher – zusammen mit O. – zum zweiten Mal aus dem Lokal hat verbringen lassen, im unmittelbaren Einwirkungsbereich des Täters O. verblieben. Dieses Verbleiben ist umso weniger verständlich, als O. nur wenige Minuten nach dem (zweiten) Rauswurf mit einer Flasche oder einem Glas in der Hand auf den Kläger zugegangen ist. Obwohl die Türsteher O. zunächst dazu überreden konnten, diesen Gegenstand wieder aus der Hand zu legen, musste der Kläger jederzeit damit rechnen, dass O. im passenden Augenblick erneut versuchen würde, mit dem selben oder einem anderen Gegenstand auf ihn einzuschlagen und ihn zu verletzen. Das Verbleiben des Klägers am späteren Tatort wie auch sein eigenes völlig grundloses und provokatives Verhalten gegenüber O. war daher in höchstem Maße leichtfertig. Wer sich, ohne dass – wie hier – sozial- oder gemeinnützige Motive vorliegen, in eine solche Gefahrenlage begibt und darin verweilt, kann nicht erwarten, dass die Allgemeinheit für einen dabei erlittenen Körperschaden aufkommt (vgl. BSG USK 99120 sowie USK 99140; ferner Hess. LSG, ZfS 1987, 244, 246).

26 Aus eben diesen Gründen hat der Kläger die ihm von O. beigebrachten gesundheitlichen Schäden wesentlich mit verursacht, weshalb der Beklagte durch die angefochtenen Bescheide zu Recht Entschädigungsleistungen nach dem OEG versagt hat. Das Begehren des Klägers musste deshalb erfolglos bleiben.

27 Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 und 4 SGG.

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