Zur Frage der Haftung eines „Amokläufers“ für den psychischen Gesundheitsschaden von Polizeibeamten

OLG Zweibrücken, Urteil vom 01.06.2017 – 4 U 124/16

Zur Frage der Haftung eines „Amokläufers“ für den psychischen Gesundheitsschaden, der bei einem der ihn am Tatort festnehmenden Polizeivollzugsbeamten aufgrund dieses Erlebnisses eingetreten ist.(Rn.16)

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 27. Juni 2016 in den Nrn. 1. und 2. der Urteilsformel teilweise geändert und insoweit wie folgt neu gefasst:

1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 384 247,44 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem gesetzlich festgelegten Basiszinssatz jährlich seit 23. Oktober 2013 zu bezahlen.

2. Die weitergehende Zahlungsklage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Zwangsvollstreckung wegen der Kosten des Berufungsverfahrens durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

IV. Die Revision wird zugelassen.

Gründe
I.

1
Das klagende Land nimmt den Beklagten aus auf den Versorgungsträger übergegangenem Recht (§ 72 LBG Rheinland-Pfalz) wegen vorsätzlich begangener unerlaubter Handlungen zum Nachteil verschiedener Landesbediensteter auf Ersatz für Gesundheitsschäden in Anspruch.

2
Hintergrund des Rechtsstreits ist ein „Amoklauf“ des Beklagten am 18. Februar 2010 in der Berufsbildenden Schule …. Der Beklagte, ein ehemaliger Schüler, begab sich an diesem Tag während der Unterrichtszeit in das Gebäude. Er war mit einem Messer und einer geladenen Schreckschusspistole bewaffnet und führte mehrere bengalische Feuer mit sich. Er wollte seinen früheren Lehrer R. B. und den Schulleiter W. L. töten. Mittels der Feuerwerkskörper wollte er Feueralarm und damit Chaos auslösen, um sodann weitere Lehrer und Schüler töten zu können. Der Beklagte leidet am sog. Klinefelter-Syndrom, einer numerischen Chromosomenaberration der Geschlechtschromosomen. Aufgrund dessen hat der Beklagte eine kombinierte Persönlichkeitsstörung entwickelt mit schizoiden, paranoiden und selbstunsicheren Anteilen.

3
Nach Betreten des Schulgebäudes traf der Beklagte auf den Lehrer R. B. und tötete diesen durch fünf Messerstiche. Im Anschluss daran löste er Feueralarm aus, woraufhin die unterrichtenden Lehrer sich daran machten, mit ihren Schulklassen das Gebäude zu verlassen. Hierbei trafen drei Lehrer (B., L. und S.) im Treppenhaus auf den Beklagten, der sie mit der mitgeführten Schreckschusspistole bedrohte. Er schlug den Lehrer S., der versucht hatte, ihm die Waffe wegzunehmen, zu Boden. Die übrigen genannten Lehrer mussten sich auf Geheiß des Beklagten auf den Fußboden legen. Anschließend gab der Beklagte mehrere Schüsse aus seiner Schreckschusspistole ab. Einen weiteren Schuss mit der Schreckschusspistole gab der Beklagte ab, als er auf den Lehrer L. traf, der ihn zum Aufgeben bewegen wollte. Schließlich gelang es dem Lehrer T. die Polizei zu verständigen.

4
Zu den daraufhin zum Tatort beorderten Polizeibeamten gehörte der Polizeibeamte B. K., der mit drei weiteren Kollegen das Schulgebäude betrat und es gezielt nach dem mutmaßlichen Amokläufer durchsuchte. Nachdem die Polizisten den Beklagten zwischen dem 2. und dem 3. Obergeschoss gestellt hatten, forderten sie ihn unter Vorhalt ihrer Dienstwaffen zur Aufgabe auf. Der Beklagte warf daraufhin seine Schreckschusspistole und eine Umhängetasche weg und ließ sich widerstandslos festnehmen.

5
Der Beklagte wurde wegen des vorbeschriebenen Geschehens durch Urteil des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) vom 20. Oktober 2010 (Az. 5120 Js 6452/10/Kls) u.a. wegen heimtückisch begangenen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Außerdem wurde seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, wo er sich seitdem befindet.

6
Das klagende Land hat als Versorgungsträger der nach dem Amoklauf an ihrer Gesundheit geschädigten Landesbediensteten von dem Beklagten erstinstanzlich zuletzt Schadensersatz in Höhe von 387 298,21 € nebst Zinsen begehrt sowie die Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten für Zukunftsschäden und dass dieser aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung hafte. Zur Begründung hat es sich darauf berufen, dass mehrere Lehrer, welche den Amoklauf miterleben mussten und auch der Polizeibeamte K. psychische Beeinträchtigungen (Traumatisierungen) erlitten hätten.

7
Durch das angefochtene Urteil, auf dessen Inhalt zur Ergänzung der Sachdarstellung Bezug genommen wird, hat die Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Frankenthal (Pfalz) den Beklagten antragsgemäß verurteilt und die Klage nur wegen eines Teils des Zinsanspruches abgewiesen.

8
Der Beklagte hat zunächst fristwahrend Prozesskostenhilfe für eine umfassende Berufung gegen das angefochtene Urteil beantragt. Nachdem der Senat – unter Ablehnung des Antrags im Übrigen – Prozesskostenhilfe für eine Berufung nur insoweit bewilligt hat, als der Beklagte zur Zahlung von Schadensersatz auch wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung bei dem Polizeibeamten K. verurteilt worden ist, hat der Beklagte im Umfang des Senatsbeschlusses Berufung eingelegt und sein Rechtsmittel begründet.

9
Er beanstandet Verfahrensfehler sowie die Rechtsauffassung des Erstgerichts, wobei er im Wesentlichen seinen erstinstanzlichen Vortrag vertieft.

10
Der Beklagte beantragt,

11
das angefochtene Urteil zu ändern und
die Klage in Höhe eines Betrages von 3 050,77 € nebst Verzugszinsen im Hinblick auf übergegangene Schadensersatzansprüche des Polizeibeamten K. abzuweisen.

12
Der Kläger beantragt,

13
die Berufung zurückzuweisen.

14
Er verteidigt die angefochtene Entscheidung unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrags.

15
Auf die in beiden Rechtszügen gewechselten Schriftsätze und vorgelegten Urkunden wird zur Ergänzung des Tatbestands Bezug genommen.

II.

16
Die nach erfolgter Bewilligung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch Beschluss des Senats vom 14. Februar 2017 zulässige Berufung erzielt auch in der Sache den erstrebten Erfolg. Das klagende Land hat gegen den Beklagten aus übergegangenem Recht (§ 72 LBG Rheinland-Pfalz) keinen Schadensersatzanspruch (§ 823 Abs. 1 BGB) wegen der von dem Polizeibeamten K. anlässlich des Amoklaufs des Beklagten vom 18. Februar 2010 erlittenen psychischen Gesundheitsbeeinträchtigungen.

17
Im Grundsatz stellen allerdings traumatisch bedingte psychische Störungen von Krankheitswert eine Verletzung der Gesundheit im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB dar, welche dem Schädiger grundsätzlich zuzurechnen sind (vgl. BGH, Urteil vom 22. Mai 2007 – VI ZR 17/06 -; Urteil vom 12. November 1985 – VI ZR 103/84 -).

18
Um eine uferlose Ausweitung der Schutzrichtung von Gefährdungs- und Verhaltensnormen auf die Umwelt des in erster Linie Geschützten zu vermeiden (vgl. BGH aaO), ist aber ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem pflichtwidrigen Verhalten des Schädigers und dem geltend gemachten Gesundheitsschaden erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 22. Mai 2007, aaO; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 17. März 2016 – 18 W 64/15 -). Bei einem Polizeibeamten führt nur das nicht speziell durch die Umstände begründete und deshalb zum allgemeinen Lebensrisiko gehörende „normale Risiko“, welches von dem beruflichen Einsatzrisiko umfasst wird, zu einer Gefahrenverlagerung auf den Täter (vgl. BGH, Urteil vom 12. März 1996 – VI ZR 12/95 -; OLG Celle, Urteil vom 18. März 1998 – 20 U 38/97 -). Solche Umstände sind indes nicht gegeben, wenn der Geschädigte an dem eigentlichen Geschehen nicht beteiligt war (BGH, Urteil vom 22. Mai 2007 für den Fall zweier Polizeibeamter, die außerhalb des Dienstes zufällig zu einem Verkehrsunfall (Geisterfahrer) hinzugekommen waren und bei Rettungsarbeiten geholfen hatten). Ein Schadensersatzanspruch kann aber in Betracht kommen, wenn der Schädiger durch vorwerfbares Tun einen anderen zu selbstgefährdendem Verhalten herausfordert, insbesondere dann, wenn dessen Willensentschluss auf einer mindestens im Ansatz billigenswerten Motivation beruht und der Schaden eine Folge des durch die Herausforderung gesteigerten Risikos ist (vgl. BGH, Urteil vom 12. März 1996 – VI ZR 12/95 – für den Fall der Verletzung eines Polizeibeamten bei der Verfolgung eines flüchtigen Tatverdächtigen).

19
Im Streitfall stellt der von dem klagenden Land aus übergegangenem Recht des Polizeibeamten K. (bei welchem nach den auf das Gutachten des Sachverständigen C. gestützten Feststellungen des Landgerichts nach dem „Amoklauf“ eine Anpassungsstörung als Reaktion auf eine schwere seelische Belastung vorlag) geltend gemachte psychische Gesundheitsschaden weder eine Beeinträchtigung dar, die unmittelbar auf ein Verhalten des Beklagten gegenüber dem Polizeibeamten zurückzuführen ist, noch eine Beeinträchtigung, die Folge eines durch ein vorwerfbares Tun des Beklagten herausgeforderten eigenschädigenden Verhaltens des Polizeibeamten war. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Beklagte die ihn festnehmenden Polizeibeamten nicht angegriffen, sondern sich widerstandslos festnehmen lassen, nachdem diese ihn unter Vorhalt ihrer Dienstwaffen zur Aufgabe aufgefordert hatten. Die psychischen Beeinträchtigungen des Polizeibeamten K. beruhten somit allein darauf , dass er im dienstlichen Einsatz die Situation des Amoklaufs in der Schule und die damit einhergehenden schlimmen Folgen, die aber unmittelbar dritte Personen – in erster Linie Lehrer – betrafen, miterlebt hat. Insoweit gilt indes nach Auffassung des erkennenden Senats, dass Polizeibeamte oder sonst hauptberuflich tätige Hilfs- und Rettungskräfte (z.B. Berufsfeuerwehrleute, Notärzte, Rettungssanitäter) sich mit ihrer Berufswahl bewusst einem beruflichen Umfeld aussetzen, das bestimmte, psychisch mitunter schwer zu verarbeitende Erfahrungen mit sich bringt. Zu ihrer Ausbildung und ihrem Beruf gehört es, solche psychisch belastenden Einsatzlagen nicht nur zu bewältigen, sondern auch die sich daraus ergebenden Erfahrungen und Erlebnisse zu verarbeiten. Etwaige sich aus diesen Erfahrungen und Erlebnissen ergebende psychische Gesundheitsstörungen als Folge von traumatischen Erlebnissen bei dienstlichen Einsätzen gehören daher für Angehörige solcher Berufe grundsätzlich zum entschädigungslos hinzunehmenden allgemeinen Lebensrisiko (vgl. Luckey VersR 2011, 940, 941, Anmerkung zu OLG Koblenz VersR 2011, 938; Stöhr NZV 2009, 161, 164; LG Duisburg, Urteil vom 28.09.2015, 8 O 361/14, Rdnrn. 34 ff, in juris, betreffend einen bei dem „Love Parade“ – Unglück eingesetzten beamteten Hauptbrandmeister). Anders mag es zu beurteilen sein, wenn zusätzliche Umstände vorliegen, etwa beim Eintritt einer posttraumatischen Belastungsstörung nach einem direkten tätlichen Angriff gegen Polizeibeamte oder Retter bei der Ausübung ihres Dienstes oder bei einem sonstigen Verhalten von Straftätern oder Störern , welches die Angehörigen der in Rede stehenden Berufsgruppen zu einem selbstgefährdenden Verhalten herausfordert. Solches war hier aber nicht der Fall.

20
Etwas anderes gilt vorliegend – entgegen der Auffassung der Erstrichterin – auch nicht deshalb, weil der Polizeibeamte K. sich damit konfrontiert sah, während des Einsatzes notfalls von der Schusswaffe gegen den Beklagten Gebrauch machen zu müssen. Die Möglichkeit der situativ unvermeidbaren Anwendung unmittelbaren Zwangs bis hin zum Einsatz der Dienstwaffe gehört – nicht anders als das Risiko, in Verrichtung des Dienstes von einem Straftäter angegriffen zu werden – zum Berufsrisiko jedes Polizeivollzugsbeamten, der für solche Lagen speziell ausgebildet und trainiert ist. Es würde zu einer uferlosen Ausweitung der Schadensersatznormen führen, wenn bereits die bloße Möglichkeit des Eintretens solcher Umstände und daraus herrührende psychische Belastungen eine Schadensersatzpflicht begründen würden.

21
Die Nebenentscheidungen für das Berufungsverfahren beruhen auf den §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO. Auf die Kostenentscheidung für den ersten Rechtszug wirkt sich der Erfolg der Berufung nicht aus (§ 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).

22
Der Senat lässt im Hinblick auf die abweichende rechtliche Beurteilung der Ersatzpflicht für durch einen dienstlichen Einsatz hervorgerufene psychische Gesundheitsstörungen von Polizeibeamten im Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 8. März 2010 (1 U 1137/06, VersR 2011, 938) die Revision zu. Die Rechtsfrage ist, soweit für den Senat ersichtlich, höchstrichterlich noch nicht abschließend geklärt.

23
Beschluss

24
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 3 050,77 € festgesetzt.

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