Zur Fahrtkostenerstattung für Mehrbedarf wegen Ausübung des elterlichen Umgangsrechts

SG Augsburg, Urteil vom 17.01.2012 – S 17 AS 1080/11

1. Die Höhe der Fahrtkostenerstattung für Mehrbedarf wegen Wahrnehmung des Umgangsrechts bei getrennt lebenden Eltern orientiert sich an der grundsicherungsrechtlichen Behandlung von Fahrtkosten bei der Erzielung von Einkommen nach der ALG-II-VO.

2. Bei der Bestimmung des zu ersetzenden Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II ist bei zu berücksichtigenden Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts keine pauschale Absetzung von Einsparmöglichkeiten in Höhe von 10 % der jeweiligen Regelleistung vorzunehmen.

(Leitsätze des Gerichts)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, in Abänderung des Bescheides vom 10. März 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. August 2011 zur Erstattung der streitgegenständlichen Fahrtkosten weitere 179,50 € an den Kläger zu erstatten.

II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

III. Die Beklagte trägt 1/4 der außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand

1 Zwischen den Beteiligten streitig ist die Höhe des zu erstattenden Mehrbedarfes nach § 21 Abs. 6 Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II) für die im Zeitraum vom 01.06.2010 bis 14.10.2010 angefallenen Fahrtkosten des Klägers zur Wahrnehmung des Umgangsrechts mit seiner Tochter.

2 Der am 1954 geborene Kläger steht bei der Beklagten seit 2008 im laufenden Leistungsbezug.

3 Mit Schreiben vom 20.10.2010, eingegangen beim Beklagten am 09.11.2010, beantragte der Kläger bei der Beklagten die Berücksichtigung der leistungsrechtlichen Auswirkungen des Zuzuges seiner am 1999 geborenen Tochter L.-J. zum 15.10.2010.

4 Geltend gemacht wurden dabei unter anderem auch Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts für die Zeit vor Zuzug der Tochter. So habe der Kläger im Zeitraum vom 01.06.2010 bis 14.10.2010 zur Wahrnehmung des Umgangsrechts insgesamt Wegestrecken von 3.151 km zurückgelegt.

5 Mit Bescheid vom 10.03.2011 erstattete die Beklagte neben nicht streitgegenständlichen Verpflegungskosten für die Zeit vom 01.06.2010 bis 14.10.2010 Fahrtkosten in Höhe von 135,60 €.

6 Dabei legte sie gemäß § 6 Abs. 1 ALG-II-VO eine Vergütung von 0,20 € pro Entfernungskilometer, entsprechend 315,10 € zu Grunde. Hiervon brachte sie eine Ersparnismöglichkeit von 10 % aus der Regelleistung des Klägers von monatlich 359 € anteilig für fünf Monate, insgesamt also 179,50 €, in Abzug.

7 Hiergegen erhob die Klägerbevollmächtigte Widerspruch. Die zur Wahrnehmung des Umgangsrechts zurückgelegte Wegstrecke von 3.151 km sei unstreitig; angegriffen werde die Höhe der Fahrtkostenerstattung. Ein Abzug für Einsparpotenzial aus der Regelleistung sei nicht vorzunehmen. Jeder gefahrene Kilometer sei mit 0,20 € zu bemessen, um dem Umgangsrecht des Klägers hinreichend Rechnung zu tragen.

8 Mit Widerspruchsbescheid vom 25.08.2011 wies die Beklagte eine begehrte höhere Entschädigung der Fahrtkosten zurück. Nach den fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit (BA) seien regelmäßig Einsparmöglichkeiten am Regelsatz bis zu 10 % zu berücksichtigen. Der Maßstab für die Entschädigung von Fahrtkostenaufwendungen sei für Hilfeempfänger nach dem SGB II grundsätzlich nach der ALG-II-VO vorgegeben. Hieraus ergebe sich eine Entschädigung von entweder 0,10 € pro gefahrenem Kilometer oder aber 0,20 € pro Entfernungskilometer.

9 Hiergegen erhob die Klägerbevollmächtigte Klage zum hiesigen Gericht. Dem Kläger sei jeder Fahrkilometer mit 0,30 € ohne Abzug als Fahrtkosten zu erstatten. Insoweit liege ein entsprechender Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II vor. Die Anwendung der Maßstäbe nach der ALG-II-VO führe zu unbilligen Ergebnissen. Beispielsweise betrage die Erstattung nach zivilrechtlichem Schadensersatzrecht 0,30 € pro gefahrenen Kilometer, um auch die sonstigen Kosten des PKW zu decken. Diese entsprächen dem im Fall des Klägers zu berücksichtigenden unabweisbaren Mehrbedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II. Dem Kläger sei es auch nicht zuzumuten, hiervon einen Teilbetrag in Höhe von 10 % der Regelleistung abzudecken.

10 Die Beklagte berief sich in ihrer Klageerwiderung vom 25.10.2011 hinsichtlich der Fahrtkostenerstattung auf die Wertung des Gesetzgebers in der der ALG-II-VO.

11 Die Bevollmächtigte des Klägers beantragte zuletzt sinngemäß,

12 die Beklagte zur Erstattung der streitgegenständigen Fahrtkosten für die Wegstrecke von 3.151 km mit 0,30 € pro gefahrenen Kilometer ohne Abzug etwaiger Einsparungen vom Regelsatz zu verurteilen.

13 Die Bevollmächtigte der Beklagten beantragte

14 die Abweisung der Klage.

15 Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

16 Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, jedoch nur zum Teil begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Entschädigung seiner Fahrtkosten in Höhe von 0,10 € pro gefahrenem Kilometer ohne Abzug etwaiger Einsparmöglichkeiten vom Regelsatz.

17 Die Beklagte hat daher die Aufwendungen für die zurückgelegte Wegstrecke von 3.151 km mit insgesamt 315,10 € zu entschädigen, so dass nach Zahlung von 135,60 € noch 179,50 € zu erbringen sind.

18 Dabei ist es zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Aufwendungen für die zurückgelegten Fahrten des Klägers zu seiner Tochter zur Wahrnehmung seiner Umgangsrechte und Umgangspflichten einen Mehrbedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II darstellen, welcher nicht in der Regelsatzbemessung nach § 20 SGB II enthalten und gesondert zu berücksichtigen ist.

19 Die auf das Urteil des Verfassungsgerichts vom 09.02.2010 zu Az: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09 zurückzuführende Härteregelung für das Vorliegen eines dauerhaften atypischen Bedarfes (vgl. BT-Drs. 17/1465) setzt voraus, dass dieser wiederkehrende überdurchschnittliche Bedarf in relevanter Höhe besteht und nicht durch Einsparungen des Leistungsberechtigten abgedeckt werden kann, wie auch nicht durch Zuwendungen Dritter abgedeckt ist.

20 Nach der Gesetzesbegründung können unter Berücksichtigung dieser engen Vorgaben Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts bei getrennt lebenden Eltern einen Mehrbedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II objektiv auslösen.

21 Allerdings soll dabei vor Erstattung durch den SGB-II-Träger der vorrangige Einsatz aller verfügbaren Mittel geprüft werden, beispielsweise mögliche Zuwendungen durch Dritte oder Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen.

22 Den kritischen Kommentierungen zur gesetzlichen Regelung von etwaigen Einsparmöglichkeiten in § 21 Abs. 6 SGB II ist darin zuzustimmen, dass eine gewisse Widersprüchlichkeit in den zu treffenden Feststellungen eines unabweisbaren Mehrbedarfs mit gleichzeitig fraglichen Einsparmöglichkeiten von der existenzsichernden Regelleistung nach § 20 SGB II erkennbar ist (vgl. Dühring, in Gagel, Kommentar zum SGB II, § 21 Rn.47; ausführlich : Münder, Kommentar zum SGB II, 4. Auflage 2011, Rn. 39, 40).

23 Der hier streitgegenständliche Mehrbedarf für Fahrtkosten zur Tochter mit monatlich rund 630 km Autostrecke ist sicherlich der Höhe nach relevant im Sinne einer erheblichen Abweichung vom durchschnittlichen Bedarf, weil schon durch die hierfür anfallenden Kraftstoffkosten von monatlich über 60 € (bei Verbrauch von 6 bis 7 l á 1,50 € pro 100 km) ein nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes bestehendes Ansparungspotenzial von 10 % der Regelleistung deutlich überschritten wird.

24 Dabei durfte die Beklagte jedenfalls im vorliegenden Fall des Mehrbedarfs bei Wahrnehmung des Umgangsrechts auch nicht pauschal eine etwaige Einsparmöglichkeit in Höhe von 10 % der Regelleistung von den Fahrtkosten in Abzug bringen. Nach Auffassung des Gerichtes gebietet die Förderung des im Kindeswohl stehenden Umgangsrechtes grundsätzliche Zurückhaltung bei der Annahme von Einsparmöglichkeiten aus sonstigen Bereichen des Lebens. Der Umgangsberechtigte könnte sich ansonsten veranlasst sehen, zur Schonung seiner eigenen Mittel vom Umgang ganz oder teilweise Abstand zu nehmen. Zudem verbleiben dem Bedürftigen, der seinen Umgangsrechten und -pflichten bei entsprechenden großen Entfernungen laufend nachkommt, nur auf diese Weise die erforderlichen Mittel, Rücklagen aus der Regelleistung z.B. für erforderliche Reparaturen oder den Ersatz von Verschleißteilen am Pkw zu bilden.

25 Jedenfalls durfte die Beklagte mögliche Einsparungen zur Bestreitung laufend anfallender Fahrtkosten für den Umgang vom Kläger nicht schon bei der erstmaligen Entscheidung über die erstattungsfähigen Kosten in Abzug bringen. Die Erstattung von Fahrtkosten für die Wahrnehmung des Umgangsrechtes im Rahmen des SGB II beruht nämlich auf einer erst mit der Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 geschaffenen Anspruchsgrundlage, deren genaue Reichweite dem Kläger nicht bekannt oder bewusst sein konnte. Einsparungen des Klägers in den anderen Bereichen seiner Existenzsicherung setzen einen entsprechenden Hinweis des Leistungsträgers voraus, welcher jedoch erstmalig erst dem Bescheid vom 10.03.2011 zu entnehmen war.

26 Die Fahrtkostenentschädigung ist daher im vorliegenden Fall ohne einen Abzug für Einsparmöglichkeiten vorzunehmen.

27 Nach Auffassung des Gerichts ist aber andererseits nicht zu beanstanden, dass sich die Beklagte bei der Höhe der Fahrtkostenerstattung pro gefahrenem Kilometer an den Wertungen in § 3 Abs. 7 und § 6 Abs. 1 Nr. 3b der ALG-II-VO orientiert und im Ergebnis den gefahrenen Kilometer mit 0,10 € entschädigt.

28 Zwar betreffen die Regelungen der ALG-II-VO nicht unmittelbar die Entschädigung von Fahrtkosten bei Wahrnehmung des Umgangsrechts, sondern die Berechnung des dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehenden Einkommens und damit des Hilfebedarfes.

29 Der Gegenstand der Feststellung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II ist aber durchaus vergleichbar mit der Feststellung des verbleibenden Bedarfes bei der Erzielung von Einkommen durch den Hilfebedürftigen.

30 Vor diesem Hintergrund besteht keine Veranlassung, den Kläger hinsichtlich der Feststellung des Mehrbedarfes besser zu stellen, als den anderweitig Hilfsbedürftigen, der unter Anfall von ihm zu tragender Fahrtkosten Einkünfte erzielt. Hier ist insgesamt eine grundsicherungsrechtliche Betrachtung gerechtfertigt (vgl. Urteil des BSG vom 26.05.2011und B 14 AS 93/10 R; auch: Beschluss SG Dresden vom 20.05.2006, S 23 AS 768/06 ER).

31 Dies bedeutet, dass mit den erstatteten Fahrtkosten vordringlich der tatsächlich unmittelbar anfallende Bedarf gedeckt werden soll, wie er vor allem durch die Kraftstoffkosten entsteht.

32 Ob sich der Fahrtkostenersatz bei der Wahrnehmung des Umgangsrechts mit privatem Pkw wie beispielsweise bei der betrieblichen Nutzung eines privaten Kfz anteilig auch auf Kfz-Steuer und Kfz-Versicherung zu erstrecken hat, kann hier letztlich offen bleiben, weil entsprechende tatsächliche Mehrkosten über die pauschale Entschädigung nach den Bestimmungen der ALG-II-VO zu erstattende Kosten hinaus nicht nachgewiesen wurden. Demgegenüber liegt in dem statistisch entstehenden Verschleiß und den nach einer gewissen Kilometerlaufleistung zu erwartenden Wartungsbedarf kein unmittelbar anfallender und laufend zu berücksichtigender Mehrbedarf.

33 Konkret angefallene weitere Aufwendungen zur Wartung oder Reparatur des Pkw sind durch die Klägerseite nicht vorgetragen oder sonst ersichtlich geworden.

34 Auch wurde von der Klägerseite nicht dargelegt oder behauptet, dass die Wegstreckenentschädigung der Beklagten den tatsächlichen Bedarf an Fahrtkosten nicht abgedeckt habe. Nur wenn nachgewiesen worden wäre, dass mit der erfolgten Kostenerstattung die tatsächlichen Fahrtkosten nicht abgedeckt worden seien, sondern tatsächlich höhere Kosten angefallen seien, hätte Veranlassung bestanden, entsprechend § 3 Abs. 7 S. 5 ALG-II-VO anstelle der pauschalen Entschädigung mit 0,10 € pro Kilometer ggf. höhere notwendige Ausgaben zu berücksichtigen.

35 Für die klägerische Auffassung, der Kläger sei für die angefallenen Fahrtkosten entsprechend zivilrechtlicher Entschädigungen im Rahmen des Schadensersatzrechtes oder wie z.B. nach VV RVG zu entschädigen, ist keine geeignete Begründung ersichtlich. Der von Grundsicherungsleistungen abhängige Kläger ist weder Geschädigter, noch geht es um eine Vergütung einer Dienstleistung.

36 In grundsicherungsrechtlicher Betrachtung ist vielmehr eine Basisentschädigung des konkret angefallenen Aufwandes angezeigt, wie sie durch die Entschädigung entsprechend der Vorgaben der ALG-II-VO gewährleistet ist.

37 So kann der Kläger – ein anderweitiger Sachverhalt ist nicht vorgetragen oder ersichtlich – die Kosten eines durchschnittlichen Kraftstoffverbrauches von rund 300 bis 330 € bei einem Verbrauch von 6 bis 7 Liter auf 100 km aus der zuzusprechenden Entschädigung von 3.151 Km á 0,10 €, also 315,10 € decken.

38 Ein Abzug von der Regelleistung ist nicht vorzunehmen, stattdessen ist der Hilfebedürftige bei fortdauerndem Anfall von Fahrten zur Wahrnehmung des Umgangsrechtes angehalten, Rücklagen für die Wartung und die Reparatur des benutzen Fahrzeuges anzusparen.

39 Der Klage war daher nur im ausgesprochenen Umfang stattzugeben.

40 Die Kostenentscheidung ergibt sich daraus, dass klägerseits eine zusätzliche Entschädigung von 809,70 € über die gewährten 135,60 € hinaus gefordert war. Hier hatte die Klage zu weniger als 1/4 Erfolg; durch die Quotelung von 1/4 wird berücksichtigt, dass die Beklagte mit ihrer Verwaltungsentscheidung Anlass zur Klage geboten hat.

41 Die Berufung ist zuzulassen; zwar erreicht die Beschwer des Klägers nicht den Wert von 750 €; die Berufung ist jedoch nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zuzulassen, da die Regelung der Fahrtkostenerstattung bei Wahrnehmung des Umgangsrechtes grundsätzliche Bedeutung hat.

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