Zur Erteilung einer Fahrerlaubnis bei Selbsttherapie mit Cannabis zur Linderung einer ADHS-Erkrankung

VG Karlsruhe, Urteil vom 30.06.2016 – 3 K 3375/15

Soweit ein Fahrerlaubnisbewerber zur Therapie einer Erkrankung nicht ausschließlich aufgrund einer Erlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte nach § 3 Abs. 2 BtMG aus der Apotheke bezogene Medizinal-Cannabisblüten entsprechend der ärztlichen Dosierungsanweisung konsumiert, sondern zusätzlich illegal beschafftes Cannabis, ist nicht von einer Dauerbehandlung mit Arzneimitteln im Sinne der Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung auszugehen. Vielmehr findet insoweit die Vorschrift der Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung Anwendung.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand
Der am … geborene Kläger begehrt die erstmalige Erteilung einer Fahrerlaubnis.

Der Kläger ist arbeitslos und lebt von staatlichen Sozialleistungen (Hartz IV). Er ist bereits vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Ausweislich einer Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 04.03.2014 enthielt dieses elf Eintragungen. Der Kläger wurde u.a. wie folgt verurteilt:

1. Verurteilung durch das Amtsgericht … vom 21.12.2000, rechtskräftig seit dem 29.12.2000, wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten (Datum der Tat: 14.01.2000);

2. Verurteilung durch das Amtsgericht … vom 05.04.2001, rechtskräftig seit dem 05.04.2001, wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in vier Fällen zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zehn Monaten;

3. Verurteilung durch das Amtsgericht … vom 14.05.2002, rechtskräftig seit dem 14.05.2002, wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in fünf Fällen und versuchten unerlaubten Anbaus von Betäubungsmitteln zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten (Datum der Tat: 22.10.2001);

4. Verurteilung durch das Amtsgericht … vom 06.02.2006, rechtskräftig seit dem 12.09.2006 wegen Raub in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten (Datum der Tat: 08.10.2005);

5. Verurteilung durch das Amtsgericht … vom 13.01.2012, rechtskräftig seit dem 13.01.2012, wegen unerlaubten gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in neun Fällen, unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln und Beleidigung zu einer Geldstrafe von 210 Tagessätzen zu je 10 € (Datum der Tat: 03.09.2011).

Mit Urteil des Amtsgerichts … vom 07.03.2014 – … – wurde der Kläger wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in zwei Fällen sowie unerlaubten Anbaus von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Mit Urteil vom 27.07.2015 – … – verwarf das Landgericht Baden-Baden die Berufung des Klägers und änderte auf die Berufung der Staatsanwaltschaft das Urteil des Amtsgerichts dahingehend ab, dass der Kläger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt wurde. Auf die Revision des Klägers hob das Oberlandesgericht … das Urteil des Landgerichts mit Beschluss vom 03.03.2016 – … – auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Baden-Baden zurück.

Gegen den Kläger wurde bereits am 19.02.2015 ein weiteres Ermittlungsverfahren eingeleitet (Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft Baden-Baden …). Der Kläger stand im Verdacht, im Zeitraum zwischen September 2014 und Februar 2015 in einer Vielzahl von Fällen (32-48) jeweils 2 g Haschisch oder Marihuana zum Preis von je 25 € veräußert zu haben. Bei einer Durchsuchung waren in der Wohnung des Klägers am 19.02.2015 eine Haschischkante (Nettogewicht: 49 g), 34 g Cannabissamen, 34,57 g Cannabisstängel sowie getrocknetes Pilzmaterial (Nettogewicht 3,505 g) aufgefunden worden. In den Pilzen waren Psilocybin und Psilocin nachweisbar.

Der Kläger beantragte unter dem 11.11.2013 beim Landratsamt Rastatt die Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B. Er gab an, er sei wegen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mit einem Grad von 50 % schwerbehindert und fügte dem Antrag unter anderem eine Erlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte – Bundesopiumstelle – nach § 3 Abs. 2 BtMG vom 01.03.2013 bei zum Erwerb von Cannabis (Medizinal-Cannabisblüten) entsprechend der Dosierungsvorgabe des betreuenden/begleitenden Arztes nur jeweils bis zu dem in der Erklärung des Arztes vorgegebenen 4-Wochen-Bedarf, und zwar der Sorten Bedrocan (mit ca. 18 v. H. Delta-9-Tetrahydrocannabinol), Bedica (mit ca. 14 v. H. Delta-9-Tetrahydrocannabinol), Bedrobinol (mit ca. 11 v. H. Delta-9-Tetrahydro-cannabinol) und Bediol (mit ca. 6 v. H. Delta-9-Tetrahydrocannabinol), wobei dem Kläger der Bezug nur aus der …-Apotheke in … gestattet war. In der dem Antrag auf Erteilung einer Fahrerlaubnis ebenfalls beigefügten Erklärung des betreuender/begleitender Arztes Dr. … vom 04.06.2013 wird als Dosierungsanweisung eine Einzeldosis von 1 g, eine maximale Tagesdosis von 5 g und ein 4-Wochen-Bedarf von 140 g angegeben. Die Medizinal-Cannabisblüten seien als Teezubereitung oder Inhalation anzuwenden. Der Kläger fügte dem Antrag des Weiteren ein ärztliches Attest von Dr. G. vom 03.04.2013 bei, wonach er sich in dessen ärztlicher Behandlung befinde. Bei der ärztlich begleiteten Selbsttherapie mit Cannabis auf der Grundlage einer Erlaubnis durch die Bundesopiumstelle handele es sich, zumindest soweit eine gleichbleibende Dosierung erreicht sei, um eine arzneiliche Anwendung; diese sei bezüglich der möglichen Auswirkungen auf die Fähigkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs der Therapie mit einem verschriebenen Arzneimittel vergleichbar. Der Kläger gehe mit der Verwendung seines Medikaments im Zusammenhang mit der Teilnahme am Straßenverkehr gewissenhaft um, so dass seine Cannabisverwendung nicht die Teilnahme am Straßenverkehr ausschließe.

Am 28.01.2014 übersandte der Kläger dem Landratsamt … ein Schreiben der Bundesanstalt für Straßenwesen an Dr. G. vom 15.01.2014. Danach unterliege die Beurteilung der Fahreignung bei medizinischer Verwendung von cannabishaltigen Medikamenten den gleichen rechtlichen Regelungen wie bei der Verwendung anderer Medikamente. Voraussetzung hierfür sei allerdings, dass das Medikament ärztlich verordnet worden sei, eine mit dem Arzt abgesprochene Medikamentierung erfolge und diese vom Patienten auch eingehalten werde. Für den Fall einer Dauermedikation gelte Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV -.

Der Kläger legte darüber hinaus eine Bescheinigung des Hausarztes Dr. … vom 13.09.2012 vor, wonach er an einer Impulskontrollstörung aufgrund einer bereits vordiagnostizierten ADHS im Erwachsenenalter leide. Die Behandlung mit dem einzigen Präparat, das in Deutschland für diese Erkrankung bei Erwachsenen zugelassen sei, habe wegen ausgeprägten Unverträglichkeiten beendet werden müssen. Auch der Versuch einer Dosisanpassung habe keinen Erfolg gebracht.

Der Kläger legte ferner ein Schreiben der Bundesopiumstelle vom 07.02.2011 an Dr. G. vor, in dem zur ärztlich begleiteten Selbsttherapie mit Cannabisprodukten und zur Fähigkeit zur aktiven Teilnahme am Straßenverkehr Stellung genommen wurde.

Mit Schreiben vom 28.03.2014 führte der Prozessvertreter des Klägers aus, der Kläger leide seit Jahren unter den Symptomen einer ADHS. Aufgrund dieser schwerwiegenden Erkrankung sei ihm von der zuständigen Bundesopiumstelle eine Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG zum Erwerb von Cannabisblüten und Cannabisextrakt zur Anwendung im Rahmen einer medizinisch betreuten und begleiteten Selbsttherapie erteilt worden. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft solle der Kläger zwischen Mai und September 2013 über kleinere Mengen von Haschisch bzw. Marihuana in Pflanzenform verfügt haben. Fahrten unter Betäubungsmitteleinfluss hätten dem Kläger zu keinem Zeitpunkt nachgewiesen werden können und hätten auch nicht stattgefunden. Vor diesem Hintergrund sei von einer bestimmungsgemäßen und ärztlich verordneten Einnahme von Cannabis als Arzneimittel auszugehen. Sollte das Landratsamt von einer Dauermedikation ausgehen, wäre gemäß Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung zu beachten, dass die Fahreignung dann nicht gegeben wäre, wenn die Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erforderliche Maß beeinträchtigt wäre. Anhaltspunkte dafür, dass beim Kläger nicht von einem bestimmungsgemäßen und insoweit ärztlich verordneten Gebrauch von Cannabis auszugehen sei, lägen nicht vor. Gemäß der vorgelegten ärztlichen Verordnung sei davon auszugehen, dass der Kläger täglich 5 g eines Cannabisderivats zu sich nehmen müsse, um die unbestrittenen erheblichen Symptome seiner ADHS-Erkrankung zu lindern. Anhaltspunkte dafür, dass die medizinisch verordnete Dosierung vom Kläger überschritten werden könne, bestünden nicht. Im Übrigen seien auch charakterliche Eignungsmängel nicht gegeben.

Mit Verfügung vom 03.06.2014 lehnte das Landratsamt … den Antrag des Klägers auf Ersterteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B ab. Zur Begründung führte das Landratsamt im Wesentlichen aus, beim Kläger sei von einer regelmäßigen Einnahme von Betäubungsmitteln auszugehen. Er konsumiere nach eigenen Angaben seit seinem 14. Lebensjahr und damit schon lange vor der Erteilung der Erlaubnis der Bundesopiumstelle Haschisch/Cannabis. Bei missbräuchlichem Konsum von illegalen Drogen sei in der Regel ein einjähriger, nachgewiesener Zeitraum der Drogenabstinenz erforderlich, um davon ausgehen zu können, dass ein erhöhtes Rückfallrisiko nicht mehr bestehe. Die Nichteignung des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen stehe zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde fest, weshalb die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens nach § 11 Abs. 7 FeV unterbleibe.

Der Prozessvertreter des Klägers legte gegen die Verfügung rechtzeitig Widerspruch ein und verwies zur Begründung im Wesentlichen auf sein Schreiben vom 28.03.2014.

Das Regierungspräsidium Karlsruhe wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 19.06.2015, der dem Prozessvertreter des Klägers am 24.06.2015 zugestellt wurde, zurück. Zur Begründung führte das Regierungspräsidium im Wesentlichen aus, der Kläger habe keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Fahrerlaubnis, weil er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei. Er sei in der Vergangenheit Konsument harter Drogen gewesen. Anlässlich einer psychiatrischen Begutachtung zur Frage seiner Schuldfähigkeit habe er im Jahr 2000 behauptet, schon alle Arten harter Drogen probiert zu haben. Aus einem Schreiben des Dr. G. vom 20.12.2012 an die Bundesopiumstelle gehe hervor, dass dieser bezüglich des Klägers als Nebendiagnose unter anderem „Zustand nach Polytoxikomanie (Alkohol, Ecstasy, LSG, Cannabis) im frühen Erwachsenenalter“ attestiert habe. Nach einem Urteil des Amtsgerichts … vom 05.04.2001 habe der Kläger jedenfalls im Jahr 2000 in einem Fall drei Ecstasy-Tabletten und in zwei Fällen jeweils zehn Ecstasy-Tabletten unerlaubt erworben. Ausweislich einer psychiatrischen Stellungnahme vom 27.10.2014 habe er von ca. 2000-2003 einen LSD-Missbrauch betrieben und bis 2003 unregelmäßig Kokain sowie gelegentlich in der Vergangenheit Amphetamine eingenommen. Ein Nachweis darüber, dass der Kläger keine harten Drogen mehr konsumiere, liege nicht vor. Nach Ziffer 9.5 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung sei in der Regel der Nachweis einer einjährigen Abstinenz zu führen. Hinsichtlich des Cannabiskonsums des Klägers sei die Regelvermutung der Ziffer 9.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung erfüllt. Der Kläger konsumiere nach seinen eigenen Angaben seit seinem 14. Lebensjahr Haschisch. In der Hauptverhandlung vom 07.03.2014 habe er angegeben, er benötige 5 g Cannabis am Tag als Medikament. Die Regelvermutung der Ziffer 9.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung, die den Cannabiskonsum unabhängig von einer medizinischen Verwendung regele, könne allenfalls gemäß der Vorbemerkung Ziffer 3 zur Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung widerlegt werden, wobei der Betroffene die Beweislast trage. Atypische Umstände im Sinne der Ziffer 3 der Vorbemerkung zur Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung seien im Fall des Klägers nicht ersichtlich. Aufgrund seiner wiederholten Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, des Konsums harter Drogen, des übermäßigen Alkoholkonsums in der Vergangenheit, der ärztlich bescheinigten Polytoxikomanie, der bei den Straftaten zu Tage getretenen erheblichen Aggressivität des Klägers, seiner offensichtlichen Schwierigkeit, Normen einzuhalten, und der Art seiner Auftritte im Internet im Zusammenhang mit Drogen könne nicht von einer Kompensation nach Ziffer 3 der Vorbemerkung zur Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung ausgegangen werden. Beim Kläger könne im Übrigen von einem bestimmungsgemäßen, medizinischen Gebrauch von Cannabioden im Sinne der Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG nicht die Rede sein. Bei ihm sei vielmehr davon auszugehen, dass eine eventuell vorliegende ADHS-Erkrankung für den Erwerb und Konsum von Cannabis eine untergeordnete Rolle spiele und er auch ohne eine solche Erkrankung Cannabis erwerben und regelmäßig konsumieren würde.

Der Kläger hat am 01.07.2015 beim Verwaltungsgericht Karlsruhe Klage erhoben. Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend, der Beklagte habe keine Anknüpfungstatsachen benannt, die einen Konsum harter Drogen nahelegten. Jedenfalls seien diese angesichts des mittlerweile eingetretenen Zeitablaufs von mehr als zwölf Jahren nicht mehr verwertbar. Die möglicherweise in den auf YouTube eingestellten Videos sichtbaren Gegenstände seien keine Betäubungsmittel. Dass er aus persönlicher Überzeugung für die Legalisierung von Cannabis eintrete, dürfe ihm im Fahrerlaubniserteilungsverfahren nicht entgegengehalten werden. Entscheidend sei allein, ob die unstreitig medizinisch indizierte Einnahme von Cannabisprodukten bei ihm zu einer relevanten Beeinträchtigung der Fahreignung führe. In diesem Zusammenhang übersehe der Beklagte, dass die Einnahme von Cannabisderivaten in dem medizinisch indizierten Bereich bis 5 g pro Tag bei ihm nur zu einer Normalisierung seiner ADHS-bedingten und ihn massiv belastenden Symptomatik führe. Der Konsum von Cannabis führe bei ihm gerade nicht zu Rauschzuständen, die fahreignungsrelevante Beeinträchtigungen mit sich bringen könnten. Vielmehr führe die ADHS-Therapie mit THC unter Beachtung der ärztlichen Vorgaben des Konsums bei ihm nur dazu, dass seine neuronal dominierte psycho-physische und ADHS-typische Erregung und die daraus abzuleitende vielschichtige Symptomatik abklinge. Die bei ihm möglicherweise krankheitsbedingt bestehende Einschränkung seiner Kraftfahreignung werde gerade durch die Einnahme von Cannabis kompensiert. Insoweit werde die Einholung eines medizinisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens beantragt. Es werde auch auf den Fallbericht „Cannabis verbessert Symptome der ADHS“ von Stobeck-Kühner, Skopp und Mattern vom Institut für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin der Universität Heidelberg (http://www.cannabis-med.org/data/ pdf/de_2008_01_1.pdf) verwiesen, wonach THC im Falle der ADHS atypische Wirkungen verursachen und sogar zu einer Verbesserung fahrrelevanter Leistungen führen könne. Darüber hinaus werde auf die Stellungnahmen der Bundesopiumstelle vom 07.02.2011 und der Bundesanstalt für Straßenwesen vom 15.01.2014 hingewiesen. Bezüglich der Fahreignung könne es nicht darauf ankommen, ob er das zu seiner Behandlung verwendete Cannabis entsprechend der Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG aus der …-Apotheke bezogen habe oder aus anderen (bislang illegalen) Quellen. Diese Differenzierung betreffe lediglich die bisher noch nicht geklärte strafrechtliche Frage des unerlaubten Umgangs mit Cannabisderivaten außerhalb der Erlaubnis nach § 3 Absatz 2 BtMG. Für die Frage der Fahreignung könne es keinen Unterschied machen, ob ein möglicherweise sogar weniger potentes Cannabisderivat auf dem Schwarzmarkt bezogen worden sei oder das hochpotente Cannabis in Blütenform aus der Apotheke mit Wirkstoffgehalten von bis zu 18 % THC.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Landratsamts … vom 03.06.2014 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 19.06.2015 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten sowie der beigezogenen Behördenakten des Landratsamtes … und des Regierungspräsidiums Karlsruhe verwiesen, die dem Gericht vorlagen.

Gründe

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die Verfügung des Landratsamtes … vom 03.06.2014 und der Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 19.06.2015 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut entscheidet (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist in der hier gegebenen prozessualen Situation einer Verpflichtungsklage der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Gerichts.

Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 StVG ist die Fahrerlaubnis zu erteilen, wenn der Bewerber die dort genannten Voraussetzungen erfüllt. Er muss nach § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StVG i.V.m. § 11 Absatz 1 Satz 1 FeV insbesondere zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet sein, d.h. er muss die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllen und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen haben (§ 2 Abs. 4 Satz 1 StVG). Die körperlichen und geistigen Anforderungen sind insbesondere dann nicht erfüllt, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur Fahrerlaubnis-Verordnung vorliegt, wodurch die Eignung oder die bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen wird (§ 11 Absatz 1 Satz 2 FeV).

Nach diesen Maßgaben ist der Kläger zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet. Zwar ergibt sich seine fehlende Fahreignung nicht bereits aus Nr. 9.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung. Danach ist ein Fahrerlaubnisinhaber, der Betäubungsmittel im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (ausgenommen Cannabis) einnimmt, im Regelfall als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen.

Der Kläger hat jedenfalls bis 2002 nicht nur Cannabis, sondern auch andere Betäubungsmittel im Sinne der Anlage III zu § 1 Abs. 1 BtMG, u.a. LSD, Kokain und Ecstasy, eingenommen. Dies ergibt sich aus einem von dem Prozessvertreter des Klägers im Strafverfahren vor dem Landgericht … (…) übersandten Arztbericht des Dr. G. vom 20.11.2012, in dem dieser bezüglich des Klägers als Nebendiagnose ausgeführt hat: „Zustand nach Polytoxikomanie (Alkohol, Ecstasy, LSD, Cannabis) im frühen Erwachsenenalter (bis 2002)“. Der Kläger habe im frühen Erwachsenenalter exzessiv legale und illegale Drogen (Alkohol, Ecstasy, LSD, Kokain, Cannbis) konsumiert. Im Fall des Klägers ist nicht allein aufgrund des Zeitablaufs seit dem letzten nachgewiesenen Konsum harter Drogen im Jahr 2002 von einer Wiedererlangung der Kraftfahreignung auszugehen. Denn nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg ist ohne Beachtung zeitlicher Vorgaben grundsätzlich vom Fortbestand einer zuvor festgestellten oder feststellbaren Fahrungeeignetheit auszugehen, solange der materielle Nachweis der Wiedererlangung der Fahreignung nicht erbracht ist (vgl. VGH Bad-Württ., Beschluss vom 07.04.2014 – 10 S 404/14 -, juris). Vom Betroffenen ist regelmäßig der Nachweis einer mindestens einjährigen Betäubungsmittelabstinenz zu erbringen (vgl. Nr. 9.5 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 30.09.2003 – 10 S 1917/02 -, juris). Der Kläger hat keinen entsprechenden Nachweis durch negative Laborbefunde erbracht. Der Umstand, dass er seit 14 Jahren nicht mehr auffällig geworden ist, belegt nicht die tatsächliche Drogenabstinenz und damit einen stabilen Einstellungswandel im Hinblick auf den Konsum sogenannter „harter“ Drogen. Denn auch bei Personen, die wegen Betäubungsmitteldelikten mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten sind, ist nicht gewährleistet, dass ausnahmslos jeder neue Konsum eines Betäubungsmittels den Behörden bekannt wird (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 18.05.2004 – 10 S 2796/03 -, juris).

Allerdings muss der in der Vergangenheit erfolgte Drogenkonsum noch in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang mit der Versagung der Fahrerlaubnis stehen, d.h. er muss unter zeitlichen Gesichtspunkten noch den Schluss auf die fehlende Kraftfahreignung zulassen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 03.07.2007 – 10 S 961/07 -, juris). Hiervon ist nach Ablauf von 14 Jahren seit dem letzten nachgewiesenen Konsum harter Drogen nicht ohne weiteres auszugehen. Auch unter Berücksichtigung des fortgesetzten Cannabiskonsums und des polizeilichen Fundes betäubungsmittelhaltiger Pilze in der Wohnung des Klägers am 19.02.2015 kann ohne Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nicht mit hinreichender Sicherheit auf die fehlende Fahreignung nach Nr. 9.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung geschlossen werden.

Die Ungeeignetheit des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen ergibt sich jedoch aus seinem regelmäßigen Cannabiskonsum. Nach eigenen Angaben konsumiert der Kläger täglich bis zu 5 g Cannabis. Sein Prozessvertreter hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, der Kläger konsumiere die Medizinal-Cannabisblüten aus der Apotheke, soweit er sich diese leisten könne, und zusätzlich illegal beschafftes Cannabis. In seinem Schreiben vom 28.03.2014 führte er aus, der Kläger müsse täglich 5 g Cannabis zu sich nehmen, um die Symptome seiner ADHS-Erkrankung zu lindern. Dies entspricht der eigenen Aussage des Klägers in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht … im Verfahren … (vgl. das Protokoll zur Hauptverhandlung, Bl. 219 ff. d.A. des Landratsamtes …).

Nach Auffassung der Kammer spricht einiges dafür, dass hinsichtlich des Konsums von Medizinal-Cannabisblüten, für deren Erwerb der Kläger eine Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG zur medizinisch betreuten und begleiteten Therapie einer bestehenden Erkrankung besitzt, die Nr. 9.6.2 (Dauerbehandlung mit Arzneimitteln) der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung eine grundsätzlich anwendbare und im Verhältnis zu Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung (regelmäßige Einnahme von Cannabis) spezielle Regelung trifft (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 11.08.2015 – 10 S 444/14 -, juris; Beschluss vom 22.01.2013 – 10 S 243/12 -, juris; BayVGH, Beschluss vom 18.04.2011 – 11 C 10.3167, 11 CS 10.3168 -, juris; Nds. OVG, Beschluss vom 11.01.2013 – 12 ME 289/12 -, juris). Auch bei der Einnahme von Cannabis, wenn diese medizinisch indiziert und das Cannabis aufgrund einer Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG aus der Apotheke bezogen und in Übereinstimmung mit der ärztlichen Dosierungsanweisung eingenommen wird, erscheint es dem Grunde nach vorstellbar, dass diese die Fahreignung unberührt lässt. Das kann z.B. dann der Fall sein, wenn aufgrund des Charakters des Betroffenen und einer begleitenden ärztlichen Überwachung gewährleistet ist, dass das Cannabis nur in einer Dosis eingenommen wird, bei der es auch auf längere Sicht zu keinen fahreignungsrelevanten körperlichen und psychischen Veränderungen kommt und bei der zusätzlich entweder die Fahrtüchtigkeit unbeeinträchtigt bleibt oder – wenn Auswirkungen der Cannabiseinnahme auf die Fahrtüchtigkeit zu besorgen sind – gewährleistet ist, dass der Patient zwischen der therapeutischen Einnahme des Betäubungsmittels und dem Führen von Fahrzeugen im Straßenverkehr trennt (vgl. BayVGH, Beschluss vom 18.04.2011 – 11 C 10.3167, 11 CS 10.3168 -, juris, allgemein zu Betäubungsmitteln).

Soweit der Kläger illegal beschafftes Cannabis konsumiert, findet nach Auffassung der Kammer die Vorschrift der Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung Anwendung, wonach bei regelmäßigem Cannabiskonsum die Fahreignung grundsätzlich ausgeschlossen ist. Zumindest ist, weil der Kläger nicht ausschließlich die aus der Apotheke bezogenen Medizinal-Cannabisblüten, sondern zusätzlich illegal beschafftes Cannabis konsumiert hat, von einer missbräuchlichen Einnahme, d.h. einem regelmäßig übermäßigen Gebrauch von psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln und anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen im Sinne der Nr. 9.4 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung auszugehen, der die Fahreignung grundsätzlich ausschließt (vgl. BayVGH, Beschluss vom 18.04.2011 – 11 C 10.3167, 11 CS 10.3168 -, juris, Rn. 25).

Besondere Umstände, welche nach Ziffer 3 der Vorbemerkung zur Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung trotz des regelmäßigen Cannabiskonsums die Annahme der ausnahmsweisen Fahreignung gebieten oder zumindest Zweifel begründen, die eine medizinisch-psychologische Begutachtung angezeigt sein lassen, sind im Fall des Klägers nicht ersichtlich. Soweit sein Prozessvertreter auf den Fallbericht „Cannabis verbessert Symptome der ADHS“ von Stobeck-Kühner, Skopp und Mattern vom Institut für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin der Universität Heidelberg (http://www.cannabis-med.org/data/pdf/de_2008_01_1.pdf) verweist, vermag die Kammer hierin keine Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall zu erkennen, der eine medizinisch-psychologische Begutachtung des Klägers nahelegt. Dem Fallbericht kann insbesondere nicht die allgemeine Aussage entnommen werden, dass der Konsum von Cannabis bei Menschen, die an ADHS leiden, nicht zu die Fahreignung beeinträchtigenden Rauschzuständen führt, sondern eine möglicherweise krankheitsbedingte Einschränkung der Kraftfahreignung gerade kompensiert. Denn der Fallbericht bezieht sich nur auf eine einzelne an ADHS erkrankte Person und stellt keine repräsentative Studie dar. Die Autoren kommen lediglich zu dem Ergebnis, „dass sich Cannabis bei einzelnen Personen günstig auf das Verhalten und die Leistungsfähigkeit auswirken kann“; der beschriebene Fall lasse „daran denken, dass bei Vorliegen einer ADHS (…) es in Einzelfällen durch THC zu einer Regulierung der Aktivierung auf ein mittleres Aktivierungsniveau kommen kann“. Der Fallbericht nimmt darüber hinaus keine Stellung zu der Frage, bei welcher Menge, Wirkstoffkonzentration und Häufigkeit die Einnahme von Cannabis bei ADHS-Erkrankten positive Auswirkungen auf die Fahreignung haben kann. Schließlich ist bei dem Kläger gar nicht von einer gesicherten Diagnose einer ADHS auszugehen. Dies geht aus dem vom Landgericht Baden-Baden im Verfahren … in Auftrag gegebenen, überzeugenden Gutachten des Dr. med. Dipl. Psych. … hervor, wonach beim Kläger eine entsprechende Testdiagnostik nicht durchgeführt wurde beziehungsweise wegen fehlender Explorationsbereitschaft nicht durchgeführt werden konnte. Der Gutachter hat nachvollziehbar dargelegt, dass die beim Kläger festgestellten Symptome durchaus auch andere Ursachen haben können wie etwa den von ihm seit seinem 14. Lebensjahr praktizierten Cannabis-Missbrauch.

Von einem Ausnahmefall, der die Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens geboten erscheinen lässt, ist hier auch deshalb nicht auszugehen, weil der Kläger nicht erst seit dem Bekanntwerden seiner Erkrankung zu Therapiezwecken, sondern bereits seit seinem 14. Lebensjahr Cannabis konsumiert. Besondere Anhaltspunkte für einen im Hinblick auf die Teilnahme am Straßenverkehr vernünftigen Umgang und insbesondere ein Trennungsvermögen bestehen bei ihm deshalb nicht. Für eine Kompensation durch Gewöhnung bestehen in seinem Fall angesichts des erheblichen Konsums von bis zu 5 g Cannabis täglich ebenfalls keine hinreichenden Anhaltspunkte.

Nach alledem begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass der Kläger vor der ablehnenden Entscheidung über die Fahrerlaubniserteilung nicht zunächst aufgefordert wurde, ein Gutachten beizubringen. Denn § 11 Abs. 7 FeV bestimmt ausdrücklich, dass die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens unterbleibt, wenn die Nichteignung des Betroffenen zur Überzeugung der Fahrerlaubnisbehörde feststeht. Durch diese Bestimmung hat der Verordnungsgeber zu erkennen gegeben, dass eine Begutachtung nur bei Eignungszweifeln in Betracht kommt, nicht jedoch, wenn – wie hier – die mangelnde Eignung bereits feststeht und ohne Hinzuziehung eines Gutachters über sie entschieden werden kann (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 07.04.2014 – 10 S 404/14 -, juris; Urteil vom 13.12.2007 – 10 S 1272/07 -, juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Berufung ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO genannten Gründe vorliegt (§ 124 a Abs.1, S. 1 VwGO).

Beschluss

Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit den Empfehlungen in Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Hinsichtlich der Beschwerdemöglichkeit gegen die Streitwertfestsetzung wird auf § 68 Abs. 1 Satz 1, 3 und 5 GKG verwiesen.

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