Zur Darlegungs- und Beweislast im Arzthaftungsprozess

Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 06.06.2012 – 1 W 25/12

1. Der Patient, der einen Arzt auf Schadensersatz in Anspruch nimmt, muss zunächst den Behandlungsfehler darlegen und beweisen. Hierbei sind an seine Substantiierungspflichten lediglich maßvolle Anforderungen zu stellen, weil von ihm angesichts des bestehenden Informationsgefälles zwischen Arzt und Patient regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden. So hat der PKH-Antragsteller nicht zwischen den Folgen unterlassener Diagnostik und denen seiner schweren Vorerkrankung zu differenzieren. Dies kann nur ein Sachverständiger tun.

2. Zwar kann ein Gutachten aus einem ärztlichen Schlichtungsverfahren im PKH-Verfahren im Wege des Urkundsbeweises herangezogen werden und dazu führen, dass im Rahmen zulässiger antizipierter Beweiswürdigung angenommen werden kann, der Antragsteller werde sein Vorbringen nicht beweisen können. Dies gilt jedoch nicht, wenn das Schlichtungsgutachten nicht nur vom Antragsteller konkret kritisiert wird, sondern sich darüber hinaus auch nicht mit allen Aspekten befasste, die der Antragsteller zur Begründung seiner beabsichtigten Klage vorträgt.

(Leitsätze des Gerichts)

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 19. März 2012 abgeändert:

Dem Antragsteller wird für den ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt L. aus J. zur Wahrnehmung seiner Rechte im Rechtsstreit beigeordnet.

Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Auslagen werden nicht erstattet.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller litt zwischen dem 30. März 2006 und dem 28. April 2006 unter einer schwerwiegenden und lebensbedrohlichen Entzündung der Gehirnhäute und der Gehirnsubstanz. Bis Juni 2006 befand er sich in einer Rehabilitationsklinik. Am 8. Mai 2007 stellte sich der Antragsteller in reduzierter körperlicher Verfassung erstmalig beim Antragsgegner mit Schmerzen in den Beinen vor. Dieser leitete ohne vorherige Röntgenuntersuchung eine konservative Therapie in Form von Akupunktur und Physiotherapie ein, die der Antragsteller am 27. Juni 2007 abbrach, indem er zum vereinbarten Termin und auch nachfolgend nicht mehr erschien. Am 3. September 2008 erhielt der Antragsteller eine Hüfttotalendoprothese rechts. Bei ihm hatte sich eine Hüftgelenkkopfnekrose entwickelt.

2

In einem Verfahren vor der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern erstattet der Sachverständige Prof. Dr. M. aus St. am 28. Januar 2010 ein Gutachten, das dem Antragsgegner eine fehlerfreie Behandlung des Antragstellers bescheinigt. Dieser Auffassung hat sich die Schlichtungsstelle mit ihrem Bescheid vom 26. Juli 2010 angeschlossen.

3

Mit seinem am 30. Dezember 2011 beim Landgericht eingegangenen Antrag begehrt der Antragsteller Prozesskostenhilfe für eine auf Schmerzensgeld von mindestens 5.000,00 EUR und Feststellung der Ersatzpflicht künftiger Schäden gerichtete Klage gegen den Antragsgegner und behauptet: Er sei nach dreiwöchigem Schmerz auf Grund einer ärztlichen Überweisung zum Antragsgegner gelangt. Dieser habe den Hüftschmerzen des Antragstellers nachgehen, ein Röntgenbild fertigen und eine Diagnose erstellen sollen. An Stelle der gebotenen bildgebenden Untersuchung und Behandlung der Hüftgelenke habe sich der Antragsgegner auf die Gabe von Schmerzmitteln, die Akupunktur und Physiotherapie zum Muskelaufbau beschränkt. Auch sei der Antragsteller nicht auf geeignete Verhaltensweisen hingewiesen und überhaupt vom Antragsgegner falsch beraten worden, der sich nicht einmal zu den Ursachen der Schmerzen oder einem Verdacht geäußert habe. Dies sei grob fehlerhaft gewesen.

4

Ein frühzeitiges Röntgenbild hätte eine verkapselte Sepsis im Gelenk gezeigt. So habe sich aber ein behandlungsbedürftiges Gelenkproblem in Form der Gelenkkopfnekrose entwickelt. Als der Antragsteller wegen fortdauernder Schmerzen zu einem anderen Arzt gegangen sei, habe dieser am 9. Juni 2008 ein Röntgenbild gefertigt, das die nun irreversibel manifestierte Nekrose offenbarte.

5

Das Gutachten des Schlichtungsverfahrens sei falsch, da es schon von unrichtigen Tatsachen ausgehe. Mittlerweile sei der Antragsteller auch an der linken Hüfte operiert und die Behandlungen setzten sich fort.

6

Bei sofortiger Diagnose wären die Gelenke zu retten gewesen. Durch die falsche Behandlung und Aufklärung des Antragsgegners habe der Antragsteller vorzeitig neue Gelenke implantiert bekommen. Zumindest habe der Antragsgegner durch sein Vorgehen den schmerzhaften Zeitraum unnötig um ein Jahr und drei bis vier Monate ausgedehnt. Durch die während dieser Zeit eingenommene Schonstellung sei eine Fehlhaltung eingetreten, wodurch es infolge der Unterarmstützen zu einer Schädigung der Schultern und der anderen Hüftseite gekommen sei.

7

Der Antragsgegner hält den Anspruch für verjährt und meint, der Antragsteller trage nicht schlüssig vor. Hierzu verweist er auf das Gutachten des Schlichtungsverfahrens.

8

Das Landgericht hat das Prozesskostenhilfegesuch mit Beschluss vom 19. März 2012 mangels Schlüssigkeit der beabsichtigten Klage zurückgewiesen und hierzu im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller trage schon keine ausreichenden Einzelheiten zum Behandlungsgeschehen, zu den einzelnen Vorwürfen und zu den Folgen vor. Auch werde das Schlichtungsgutachten nicht erheblich angegriffen.

9

Gegen diese, seinem Verfahrensbevollmächtigten am 23. März 2012 zugestellte Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit der am 10. April 2012 eingegangenen sofortigen Beschwerde, der das Landgericht nicht abgeholfen hat.

10

Die Physiotherapie habe mangels Diagnose abgebrochen werden müssen. Von einer angedachten MRT-Untersuchung habe der Antragsgegner dem Antragsteller nichts gesagt. Eine solche sei auch nicht beabsichtigt gewesen. Vielmehr habe es der Antragsgegner zugelassen, dass der Antragsteller die Gelenke weiterhin stark belastete, was in wenigen Wochen zu einer irreversiblen Abnutzung der Gelenkknorpel und damit zum Entfernen der Gelenke geführt habe.

II.

11

Die zulässige sofortige Beschwerde ist begründet. Das Landgericht hat dem Antragsteller zu Unrecht Prozesskostenhilfe versagt, weil es den Sachvortrag des Antragstellers im Hinblick auf das beanstandete Behandlungsgeschehen nur ungenügend würdigt, dem Gutachten des Schlichtungsverfahrens eine zu große Bedeutung beimisst und letztlich zu hohe Anforderungen an das Vorbringen des Patienten im Arzthaftungsprozess stellt. Tatsächlich kann der beabsichtigten Klage die hinreichende Erfolgsaussicht nicht abgesprochen werden, sodass dem bedürftigen Antragsteller ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten zu bewilligen ist (§§ 114 Satz 1, 115 Abs. 1 Sätze 1 bis 5, Abs. 2, 119 Abs. 1 Satz 1, 121 Abs. 1 ZPO i.V.m. PKHB 2011 und §§ 823 Abs. 1, 280 Abs. 1, 253 Abs. 2, 249 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 BGB).

12

Das Vorbringen einer Partei ist schlüssig, wenn es in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet ist, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen; nähere Einzelheiten sind nur dann vorzutragen, wenn diese für die Rechtsfolgen von Bedeutung sind (BGH NJW 1999, 2887, 2888). Der Patient, der einen Arzt auf Schadensersatz in Anspruch nimmt, muss zunächst den nach §§ 823 Abs. 1, 280 Abs. 1 Satz 1 BGB notwendigen Behandlungsfehler darlegen und beweisen. Hierbei sind an seine Substantiierungspflichten lediglich maßvolle Anforderungen zu stellen, weil von ihm angesichts des bestehenden Informationsgefälles zwischen Arzt und Patient regelmäßig keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden kann (BGH NJW 2004, 2825, 2827; OLG Hamm NJOZ 2002, 1847, 1848). So hat der Antragsteller nicht zwischen Folgen unterlassener Diagnostik und Folgen seiner schweren Vorerkrankung zu differenzieren. Dies kann nur ein Sachverständiger tun.

13

Dem Landgericht ist zuzugeben, dass das Vorbringen des Antragstellers unübersichtlich und nicht immer eindeutig ist. Dennoch lässt sich erkennen, dass der Antragsteller dem Antragsgegner zum einen die unterlassene Befunderhebung vorwirft. Werden aus medizinischer Sicht zweifelsfrei gebotene Befunde nicht erhoben, handelt es sich um einen Behandlungsfehler. Zum anderen spielt aber auch die unterlassene Therapieaufklärung eine Rolle. Beides soll auf die eine oder andere Weise zur Schädigung der Hüftgelenke geführt haben.

14

Obwohl eine nähere Folgenbetrachtung dem Antragsteller nicht abverlangt werden kann, sind zumindest auf den ersten Blick mögliche Kausalverläufe dargetan. Hat der Antragsgegner die Sepsis im Gelenk nicht erkannt und führte diese die Nekrose herbei, liegt dies auf der Hand. Aber selbst wenn zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns bereits eine Nekrose vorlag, kann die fehlende Therapieaufklärung in Verbindung mit der nur konservativen Therapie dem Antragsteller vermittelt haben, an keiner besonders schwerwiegenden Erkrankung zu leiden, sich im Rahmen des Möglichen uneingeschränkt belasten und auf die Weiterbehandlung verzichten zu können. Kam es hierdurch zur Schädigung, könnte eine Haftung des Antragsgegners ebenfalls nicht verneint werden. Läge sogar ein grober Behandlungs- oder ein Befunderhebungsfehler vor, der wahrscheinlich zu einem gravierenden und unbedingt reaktionspflichtigen Ergebnis geführt hätte, wäre es u.U. sogar Sache des Antragsgegners, den haftungsbegründenden Kausalverlauf zu widerlegen (vgl. BGH NJW-RR 2010, 831, 832; NJW 1996, 1589, 1590; 1999, 860, 861; 862, 863). All dies bedarf sachverständiger Klärung und ist nicht vom Antragsteller darzulegen.

15

Das Gutachten des Schlichtungsverfahrens steht dem nicht entgegen. Die Möglichkeit, es im Wege des Urkundenbeweises heranzuziehen (BGH NJW 1987, 2300 f.) und auf dieser Grundlage die Prozesskostenhilfe zu versagen, weil der Antragsteller sein Vorbringen nicht wird beweisen können (vgl. BVerfG NJW 2010, 288, 289; Senat, Beschluss vom 5. August 2009, 1 W 39/08BeckRS 2009, 29086; Zöller/Geimer, ZPO, 29. Aufl., § 114 Rdn. 19, 26 f.), besteht hier nicht. Der ablehnende Beschluss des Landgerichts lässt es an der kritischen Auseinandersetzung mit dem Gutachten unter Berücksichtigung des Vorbringens des Antragstellers fehlen (vgl. auch OLG Karlsruhe NJW-RR 2006, 205, 206; OLG Frankfurt NJOZ 2011, 903, 904). Das Schlichtungsgutachten befasst sich nur mit der Hüftkopfnekrose rechts, wohingegen der Antragsteller dem Antragsgegner nunmehr weitere Folgen (linkes Hüftgelenk, Schulter) anlastet. Die Therapie- oder Sicherungsaufklärung spielte in der Schlichtung keine Rolle. Genauso wenig hat sich der Sachverständige Prof. Dr. M. mit der Variante einer eingekapselten Sepsis zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns am 8. Mai 2007 befasst.

16

Die Einrede der Verjährung greift offensichtlich nicht durch (§§ 195, 199 Abs. 1, 203, 204 Abs. 1 Nrn. 11 BGB).

17

Die aus dem Behandlungsgeschehen hergeleiteten Ansprüche lassen sich gegenwärtig auch nicht verneinen. Der Schmerzensgeldanspruch liegt nicht außerhalb des Möglichen. Der Feststellungsantrag ist zulässig und derzeit schlüssig. Nach Darstellung des Antragstellers hat er mit Spätfolgen zu rechnen und die behaupteten Behandlungsfehler sind grundsätzlich geeignet, künftige Schäden herbeizuführen (vgl. BGH NJW-RR 2007, 601).

18

Die Auslagenentscheidung folgt aus §§ 127 Abs. 4, 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

Dieser Beitrag wurde unter Arztrecht abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.