Zur Amtshaftung wegen unterlassener Entsendung auch eines Notarztwagens durch die Rettungsleitstelle bei einer Notfallindikation

KG Berlin, Beschluss vom 20. März 2017 – 20 U 147/16

Zur Amtshaftung wegen unterlassener Entsendung auch eines Notarztwagens durch die Rettungsleitstelle bei einer Notfallindikation

Tenor

In der Sache L… ./. A… – K… . beabsichtigt der Senat, die Berufung des Beklagten gegen das am 27.9.2016 verkündete Urteil der Zivilkammer 36 des Landgerichts Berlin gemäß § 522 II ZPO durch Beschluß zurückzuweisen, weil er einstimmig davon überzeugt ist, daß die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat und die Voraussetzungen einer mündlichen Verhandlung nicht vorliegen. Der Beklagte erhält Gelegenheit, zu den nachstehenden Ausführungen binnen 1 Monat schriftsätzlich Stellung zu nehmen.

Gründe
I.

1
Die Klägerinnen verlangen von dem Beklagten im Regreßwege Schadensersatz mit der Begründung, der bei ihnen versicherte, zwischenzeitlich verstorbene S… B… (nachfolgend: Patient) sei anläßlich dessen Asthmaanfalls am 4./5.10.07 nicht rechtzeitig einem Notarzt im Rahmen des der Beklagten obliegenden öffentlichen Rettungswesens zugeführt worden, wodurch er im einzelnen bezeichnete Gesundheitsschäden bis hin zur Schwerstpflegebedürftigkeit erlitten habe.

2
Wegen der tatsächlichen Feststellungen und der erstinstanzlichen Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

3
Das Landgericht hat den Beklagten nach Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. K… (GA), eines Ergänzungsgutachtens (EGA), deren mündlicher Erläuterung im Termin (Erl.) und nach Vernehmung der Zeugen S…, B… und J… durch das angefochtene Teil-Grundurteil zur Schadensersatzleistung verurteilt. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des Urteils verwiesen.

4
Der Beklagte verfolgt mit der Berufung weiterhin Klageabweisung. Er trägt vor: Die Alarmierung eines Rettungstransportwagens (RTW) ohne gleichzeitigen Notarztwagen (NAW) sei sachgerecht gewesen, weder fehlerhaft, noch gar grob fehlerhaft. Die nach dem Anruf des Zeugen S… erfolgte Einstufung des Patienten in die Kategorie 6C1A sei zutreffend erfolgt. „C“ bedeute, daß der in der Feuerwache zuständige Disponent diese Einstufung als Ergebnis der standardisierten Abfrage erhalten habe. Nur aufgrund des Codes „D“ (Bewußtseinseintrübung, Sprachschwierigkeiten, Hautfarbeveränderungen) hätte der Patient mit einem Notarzt beschickt werden müssen. Eine erkennbar unmittelbar lebensbedrohliche Erkrankung habe nicht vorgelegen. Der Notarzt-Indikationskatalog der Bundesärztekammer sei nichts weiter als eine „Handreichung“. Andere Bundesländer würden beim Notruf unterschiedlich vorgehen. Der Asthmaanfall des Patienten habe keine Notarztindikation begründet. Mit der knappen Ressource „Notarzt“ müsse im Sinne der Bedarfsgerechtigkeit verantwortungsvoll umgegangen werden. Daß nicht der Patient, sondern der Zeuge S… den Notruf wählte, besage nicht, daß der Patient hierzu nicht selbst in der Lage gewesen sei. Zweifel daran, ob ein Notarzt hätte geschickt werden müssen, habe es nicht gegeben. Es könne auch nicht verlangt werden, daß die Leitstelle (Feuerwache) mit Notärzten besetzt werde. Das Landgericht hätte auch die Zeugin Dr. H… hören müssen. Das Handeln der Leitstelle sei keine medizinische Behandlung. Deshalb seien auch die Grundsätze der Beweislastumkehr nicht anwendbar.

5
Die Klägerinnen halten das angefochtene Urteil für zutreffend und tragen weiter vor.

6
Wegen der übrigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze, auf den Inhalt der eingereichten Urkunden und auf die Beweisergebnisse Bezug genommen.

II.

7
Die Berufung muß aussichtslos bleiben. Das Landgericht hat den Beklagten aufgrund der Beweisaufnahmen in Verbindung mit dem übrigen Parteivorbringen zu Recht dem Grunde nach zur Schadensersatzleistung verurteilt. Der Senat schließt sich den Entscheidungsgründen des Urteils an. Die Berufungsbegründung rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Die Unterlassung der Entsendung eines NAW nach dem Anruf des Zeugen S… war grob fehlerhaft (1), so daß auch für diesen Fall die Grundsätze der Beweislastumkehr anzuwenden sind (2). Danach ist nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, daß der Patient die im einzelnen bezeichneten Gesundheitsnachteile bis hin zur Schwerstpflegebedürftigkeit nicht erlitten hätte, wäre zeitgleich mit dem RTW auch ein NAW hinzugezogen worden (3). Hierzu gilt Folgendes.

1.

8
Die Leitstelle war verpflichtet, aufgrund des Anrufes des Zeugen S… am 5.10.07 nachts einen NAW anzufordern. Dies ergibt sich eindeutig aus dem Gutachten des Sachverständigen, der diesem Ergebnis die zutreffenden Tatsachen zugrunde legt.

a.

9
Die telefonischen Alarmierungsstichworte waren „Atemnot“, nicht nur „Atembeschwerden“. Im Alarmprotokoll sind zwar nur „Atembeschwerden, Asthmapatient“ sowie „Abnorme Atmung (Asthma)“ vermerkt. Das ist indes unvollständig und widerspricht den Aussagen des Zeugen J… . Danach lag Atemnot vor, was die Leitstelle auch wußte. Der Zeuge J… hat bekundet, der Zeuge B… habe ihm nach dessen Anruf bei der Leitstelle gesagt, der dortige Disponent habe ihm, B…, mitgeteilt „ach, die Atemnot“. Der Zeuge konnte sich noch daran erinnern, weil der Zeuge B… sich noch darüber aufgeregt hatte, daß die beiden zu dem Einsatz allein gefahren waren. Daß der Disponent diesen Ausdruck gebrauchte, ohne daß ihm der Zeuge S… eine solche Atemnot gemeldet hätte, ist nicht ersichtlich. Dementsprechend heißt es in dem handschriftlichen Vermerk auf dem Alarmblatt „bei Anruf und Melden als 64/3 kam gleich `die Atemnot` von der Lst.“. Auch der Sachverständige hält es nicht für schlüssig, wenn der Disponent gegenüber den Rettungsassistenten, den Zeugen, hinterher Atemnot sagt, aber bei dem vorangegangenen Anruf keine vorgelegen haben soll.

b.

10
Auch wenn die Leitstelle nur von Atembeschwerden erfahren hätte, würde dies an deren Verpflichtung zum Einsatz eines NAW nichts ändern. Die geschilderten Symptome „Atembeschwerden bei Asthmapatienten“ hätten die Leitstelle unabhängig von einer telefonischen Meldung „Atemnot“ auf eine solche hinführen müssen (GA Seite 5 Mitte), wonach sich obligatorisch die Alarmierung eines NAW ergeben hätte (auch: GA Seite 9 zu Nr. 1; Seite 10 zu 3a). Die ausgeprägte Atemnot ist das Leitsymptom des Asthmaanfalls (GA Seite 8 Absatz 2 aA). Allein die Angabe einer PiN (Person in Notlage) wurde diesem der Leitstelle berichteten Beschwerdebild nicht gerecht. In einer solchen Situation war immer mit einer Aggravierung (stetige, beschleunigte Verschlimmerung) der klinischen Symptomatik zu rechnen, so daß die alleinige Bereitstellung eines RAW ohne ärztliches Personal nicht adäquat war. Die Symptomkonstellation Atembeschwerden waren bei einer bekannten Asthmaanamnese, wie sie hier in der Leitstelle dokumentiert wurde, eine Indikation für einen NAW-Einsatz (GA Seite 17).

c.

11
Es kommt nicht darauf an, daß die Leitstelle die Indikation 6C1A angenommen hatte. Schon gar nicht ist erheblich, daß bei einer solchen Klassifizierung kein Notarzt entsendet wird. Nicht die Üblichkeit, sondern die jeweilige Indikation entscheidet darüber, ob ein NAW zu stellen ist. Mithin ist der von der Bundesärztekammer entwickelte Standard maßgebend, wie ihn der Sachverständige beschreibt (EGA Seite 12 f.). Danach war der Patient in die Kategorie MED AN einzustufen (GA Seite 10), woraus automatisch den Einsatz eines NAW gefolgt wäre. Dieser Standard gilt bundesweit, und es ist nicht verständlich, warum er im L… B… nicht gelten sollte. Der indizierte Einsatz eines NAW kann nicht davon abhängen, in welche formelle Kategorie die telefonisch berichteten Symptome einzuordnen sind. Es kommt allein auf Art und Ausmaß dieser Symptome an, und diese verlangten nun einmal nach dem Einsatz eines NAW.

d.

12
Selbst der von dem Beklagten mit der Berufungsbegründung eingereichte „Vertrauliche Entwurf“ spricht für die Klägerinnen. Dort heißt es sehr deutlich, daß Atemstörungen bis zum Beweis des Gegenteils als potentiell lebensbedrohlich eingestuft werden und daß sie sich jederzeit verschlechtern können. Danach kommt es nicht einmal darauf an, ob es sich um „Atemnot“ handelt. Eine Atemstörung genügt für die Annahme einer lebensgefährlichen Situation. Erst recht muß dies für Atembeschwerden oder gar, wie hier, eine Atemnot gelten.

e.

13
Der Hinweis des Beklagten auf die behauptete Praxis anderer Bundesländer führt nicht weiter. Dort ist u.a. die Rede von medizinischen Begriffen und Syndromen wie Lungenödem, Lungenembolie (Rheinland-Pfalz), Status asthmaticus, Zyanose (Hessen), Zyanose, Stridor, Lungenödem, Thoraxtrauma, Anaphylaxie (Bayern), mit denen kein Notfallanrufer etwas anfangen kann, so daß solche „Beschwerden“ keine Grundlage für den Notfallbericht eines durchschnittlichen medizinisch-laienhaften Patienten bilden können. Es ist nicht nachvollziehbar, daß solche für einen Laien kryptischen Begriffe einer Leitstelle gegenüber auch nur ansatzweise sachgerecht berichtet werden können. Es ist auch schwer vorstellbar, daß die angegebenen Zitate als Grundlage für die Einstufung von Notfallmeldungen durch eine Rettungsleitstelle dienen sollen.

f.

14
Die Notfallindikation für einen NAW wird noch dadurch gestützt, daß nicht der Patient selbst, sondern der Zeuge S… die Leitstelle anrief. Auch darauf stützt der Sachverständige sein Ergebnis (GA Seite 5 Mitte; EGA Seite 6 aE), und auch dies ist nachvollziehbar. Betätigt nicht der Patient, sondern ein Dritter für den Patienten den Notruf, begründet das, entgegen der Behauptung des Beklagten, regelmäßig jedenfalls den dringenden Verdacht darauf, daß dem Patienten selbst eine entsprechende Notfallmeldung nicht mehr möglich ist. Es ist nicht nachvollziehbar, daß der Patient andernfalls nicht selbst anrufen würde, denn dieser vermag seine Beschwerden der Leitstelle doch aufgrund eigenen Erlebens besser zu vermitteln und mehr Einzelheiten mitzuteilen als ein nur auf eine äußerliche Beobachtung der Symptome des Patienten angewiesener Dritter. Dementsprechend rief der Zeuge S… anstelle des Patienten an, weil dieser, wie der Zeuge deutlich bekundet hat, das Handy in der Hand hielt, aber keinen Ton mehr richtig rausbekam, ohne daß der Leitstelle diese Einzelheit allerdings bekannt war. Gleichwohl war der Umstand, daß ein Dritter für den Patienten angerufen hatte, für die Leitstelle ein weiteres Alarmsignal.

g.

15
Auf § 2 I 1 BlnRDG kann sich der Beklagte ersichtlich nicht stützen. Richtig ist, daß die NAW bedarfsgerecht einzuteilen sind. Soweit Notrufe eingehen, welche die erforderliche Zahl der zur Verfügung stehenden NAW übersteigen, hat die Leitstelle, das versteht sich von selbst, die jeweiligen NAW nach Art, Schweregrad und Umfang der gemeldeten Notfälle einzusetzen. Diese Situation lag hier nicht vor. Der NAW stand zur Verfügung, er wurde anderweitig nicht benötigt, und es ist nicht nachvollziehbar, daß er aufgrund der eindeutig vorliegenden Indikation in diesem Fall nicht sogleich nach Eingang des Notrufes durch den Zeugen S… eingesetzt wurde. Selbst wenn sich unmittelbar nach dem hier erforderlichen Einsatz des NAW weitere Notfälle ereignet hätten, die noch dringlicher als dieser Einsatz einen NAW erfordert hätten, wäre es durchaus möglich gewesen, diesen NAW nach Abwägung der unterschiedlichen Notfälle und bei schwerer wiegendem Bedarf ggf. umzudirigieren. Auch das war hier nicht erforderlich.

h.

16
Der Beklagte kann die Kompetenz des Sachverständigen nicht erfolgreich mit der Begründung angreifen, dieser habe sich verrannt, indem er ausführt, die Leitstelle sei mit einem Notarzt zu besetzen. So ist das Gutachten nicht zu verstehen. Der Sachverständige führt allein aus, daß ein Notarzt vor Ort die einzelnen medizinischen Diagnosen zu erheben und den Patienten dort entweder entsprechend zu behandeln hat, festzustellen hat, daß dies nicht erforderlich ist oder den Patienten zur weitergehenden Behandlung weiterleiten muß. Daß die Leitstelle nicht mit Notärzten zu besetzen ist, die aufgrund einer dann erforderlichen, nicht weiter führenden Ferndiagnose aufgrund laienhaft geschilderter Krankheitsbilder tätig werden müßten, ist naheliegend. Das fordert der Sachverständige nicht, und darauf kommt es hier auch nicht an.

i.

17
Einer Vernehmung der Notärztin Dr. H… bedurfte es nicht. Zwar hat der Beklagte vorgetragen, es ergäben sich für die Zeit nach erfolgtem Notruf bis zum Eintreffen des Versicherten in der Klinik viele Fragen. Keine davon hat der Beklagte bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist genannt. Es ist nicht ansatzweise ersichtlich, worüber die Notärztin zu vernehmen wäre. Als Sachverständige kam sie nicht in Betracht, und welche einzelnen Behauptungen die Notärztin als Zeugin bestätigen sollte, ist dunkel geblieben.

j.

18
Aufgrund der vorgenannten Umstände kann sich der Senat den Ausführungen des Sachverständigen nur anschließen, wonach es gänzlich und völlig unverständlich war, daß kein NAW zum Einsatz kam (Erl. Seite 12 aA). Die Leitstelle hatte offensichtlich nicht berücksichtigt, daß sich der Patient in einem lebensbedrohenden Zustand befand und nicht nur die Hilfe von mit der Behandlung per se überforderten Rettungssanitäter, sondern vornehmlich die Unterstützung eines Arztes benötigte. Ein solcher Fehler durfte der Leitstelle in keinem Fall unterlaufen.

2.

19
Danach haftet die Beklagte dem Grund nach für diejenigen Gesundheitsschäden des Patienten, welche dieser dadurch erlitt, daß er nicht bereits früher als geschehen notärztlich behandelt wurde.

20
Die Grundsätze der Beweislastumkehr sind auch auf den hier vorliegenden Sachverhalt anwendbar. Die Anspruchsgrundlage (Amtshaftung statt Behandlungsvertrag oder Delikt) ist hierfür unergiebig. In allen Fällen einer ärztlichen Behandlung ist eine Beweislastumkehr aufgrund eines groben Behandlungsfehlers angezeigt. Es macht aus der Sicht des Patienten keinen Unterschied, auf welcher rechtlichen Grundlage er behandelt (oder wie hier: nicht behandelt) wurde.

21
Es ist auch unerheblich, daß die Leitstelle nicht mit einem Arzt besetzt war. Daß die Beweislastumkehr auch für grob fehlerhaftes Verhalten von nicht-ärztlichem Hilfspersonal eintritt, ist unumstritten. Weist die in der Notaufnahme tätige Krankenschwester einen Patienten aufgrund grob fehlerhaft unterlassener oder unrichtiger (Vor-) Diagnose ab, haftet der Krankenhausträger für die hierdurch entstandenen Gesundheitsnachteile, wenn er nicht beweisen kann, daß diese ohnehin eingetreten wären. Entsprechendes hat hier zu gelten. Der Disponent der Leitstelle handelte als nicht-ärztliches Hilfspersonal und war verpflichtet, den Patienten aufgrund der Notfallmeldung, die sich aus dem Anruf des Zeugen S… ergab, eine vorläufige Diagnose zu stellen und den Patienten dem Notarzt zuzuführen.

3.

22
Der Sachverständige konnte nicht ausschließen, daß dem Patienten die im einzelnen vorgetragenen Gesundheitsschäden nicht entstanden wären, wenn die Notärztin gleichzeitig mit dem RTW vor Ort eingetroffen wäre und nicht erst 10 Minuten später (GA Seite 6 aA). Hiergegen hat der Beklagte in seiner Berufungsbegründung keine wesentlichen Einwendungen erhoben.

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