LG Hamburg, Urteil vom 19. April 2012 – 319 O 262/11
Zum Unterlassungsanspruch wegen ehrenrühriger Tatsachenbehauptungen über einen nahen Verwandten im engsten Familienkreis
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in dieser Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt von der Beklagten, seiner 1967 geborenen Tochter, Unterlassung von Äußerungen.
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Der Beklagten wurde wegen andauernder erheblicher körperlicher Beschwerden, die nach Einschätzung der behandelnden Ärzte rein psychosomatischer Natur waren, die Aufnahme einer Psychotherapie dringend empfohlen. Im Rahmen dieser ambulanten Psychotherapie, die 2009 begann, glaubte die Beklagte, sich daran zu erinnern, dass sie als Kind von ihrem Vater sexuell missbraucht worden sei. Sie konfrontierte daraufhin ihren Vater und ihre Mutter mit diesen Vorwürfen in einem Brief, den sie im November 2011 an ihre Eltern versandte. Wegen des genauen Wortlautes des Briefes wird auf die Anlage K1 verwiesen.
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Die Beklagte hat den Brief anderen Personen als ihren Eltern nicht zugänglich gemacht.
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Mit Aufnahme ihrer Psychotherapie im Jahr 2009 brach die Beklagte den persönlichen Kontakt zu ihren Eltern ab. Ihren derzeit 14 und 16 Jahre alten Kindern, die bei der alleinerziehenden Beklagten wohnen, erklärte sie den Kontaktabbruch zu den Großeltern, wobei sie zunächst vermied, die Vorwürfe konkret zu benennen. Erst nachdem sie den o. g. Brief geschrieben hatte, informierte sie ihre Kinder entsprechend. Dabei erwähnte sie gegenüber ihren Kindern, dass sie die Vorwürfe nicht beweisen könne und dass diese Vorwürfe nur innerhalb der Familie besprochen werden sollten.
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Der Kläger versuchte in der Folgezeit durch persönliche Besuche, das Absenden von Kurzmitteilungen an das Mobiltelefon der Tochter der Beklagten sowie durch Briefe und E-Mails Kontakt zur Beklagten und Kontakt zu seinen Enkelkindern aufzunehmen. Sowohl die Beklagte wie auch deren Kinder lehnten den Kontakt ab.
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Dabei drohte der Kläger u.a. mit Veröffentlichung der von der Beklagten erhobenen Vorwürfe: So kündigte er in einem Schreiben vom 29. oder 30.11.2011 wörtlich an: Solltest Du dieses Schreiben nicht bis zum Freitag, 2.12.2011 bestätigt haben und eine akzeptable Kommunikations-Möglichkeit benannt haben, werde ich mich Deiner Dienstanschrift bedienen () Widrigenfalls bin ich auch wild entschlossen, den beigefügten farbigen Handzettel vor Deinem Dienstgebäude an Deine Kollegen zu verteilen und eventuell Deine personalbearbeitende Abteilung einzuschalten. Es geht darum weiteren Schaden von den Kindern abzuwenden“. Der erwähnte Handzettel war überschrieben mit „Anklage der Amtsfrau K. wegen Kindesmissbrauch“ und zeigte u. a. Kinderfotos der Beklagten, die mit der Frage „sieht so ein vom Vater vergewaltigtes und von der Mutter geknebeltes Kind aus?“ überschreiben warn. Wegen der Einzelheiten wird auf die Anlage B2 verwiesen.
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Der Kläger trägt vor, er habe Anspruch auf Unterlassung der ehrverletzenden und nicht erweislich wahren Behauptungen, obwohl diese im „kleinen Kreis“ aufgestellt worden seien, denn eine familiäre Beziehung, innerhalb der man sich darauf verlassen könne, dass die Vertraulichkeit des Gesprächs gewahrt bleibe, habe zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Äußerungen wegen des Kontaktabbruchs der Beklagten nicht mehr bestanden. Eine Aussprache zwischen den Parteien sei aufgrund des Verhaltens der Beklagten gerade nicht möglich, weshalb der Kläger auch nicht davon ausgehen könne, dass die Beklagte nicht auch Dritten gegenüber den Kläger des sexuellen Missbrauchs bezichtigen werde. Das werde auch durch die Äußerungen gegenüber den Kindern verifiziert, für die im darüber hinaus kein Anlass bestanden habe.
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Der Kläger beantragt,
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1. Die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen,
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a) zu behaupten, dass der Kläger sie vergewaltigt habe;
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b) dass der Kläger mit ihr sexuelle Kontakte, gleich welcher Art, hatte;
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2. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Kosten anwaltlicher außergerichtlicher Vertretung in Höhe von 546,69 € zuzüglich 5%Punkte Zinsen über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
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3. Für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die aufgeführten Unterlassungsverpflichtungen, ein Ordnungsgeld in Höhe von bis zu 250.000 € zu verhängen, ersatzweise, für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten anzuordnen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte trägt hierzu vor, dass dem Kläger weder ein Unterlassungs- noch ein Zahlungsanspruch nach Ziffer 2 der Klaganträge zustehe, da der enge familiäre Rahmen, in dem die Klägerin ihre Äußerungen getätigt habe, dem Ehrschutz entzogen sei. Auch eine Wiederholungsgefahr sei nicht gegeben, vielmehr sei es der Kläger selbst, der durch seine Versuche, zur Beklagten und zu ihren Kindern Kontakt aufzunehmen, zur Verbreitung der erhobenen Vorwürfe beigetragen und durch die Ankündigung, sich an die Kollegen der Beklagten zu wenden, eine weitere Veröffentlichung angedroht habe. Den Brief an ihren Vater habe sie zudem – was der Kläger mit Nichtwissen bestreitet – auf eine therapeutische Empfehlung hin verfasst.
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Mit Schriftsatz vom 16. April 2012 bat die Klägervertreterin im Hinblick den Schriftsatz der Beklagten vom 4.4.2012 um einen Schriftsatznachlass.
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Zur Ergänzung des Sachvortrags wird auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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I. Der Kläger hat gegen die Beklagten keinen Anspruch nach §§ 1004, 823 Abs. 1 BGB; §§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 186, 185 StGB auf Unterlassung der mit Klagantrag nach Ziffer 1 bezeichneten Äußerungen. Die (weitere) Aufstellung entsprechender ehrenrühriger Tatsachen ist nicht rechtswidrig, soweit sie in einem dem Ehrschutz entzogenen Freiraum getätigt wurden. Darüber hinaus hat der Kläger keine Wiederholungsgefahr dargelegt.
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Entsprechend §§ 1004 Abs. 1 S. 2 i. V. m. §§ 823 Abs. 1, 824 Abs. 1 BGB oder mit §§ 823 Abs. 2 BGB, 186, 185 StGB kann die weitere Aufstellung ehrenrühriger Tatsachenbehauptungen verboten werden, wenn der Schädiger nicht die Wahrheit beweisen kann (Palandt – Sprau, 69. Auflage 2010, Rn. 13 zu § 824 BGB).
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Unstreitig hat die Beklagte die mit der Klage angegriffenen Äußerungen getan. Sie hat sie gegenüber ihren Eltern in dem streitgegenständlichen Brief geäußert und hat gegenüber ihren Kindern, ihrem Therapeuten und gegenüber ihrer Prozessbevollmächtigten davon berichtet. Mit diesen Behauptungen hat sie das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers aus §§ 823 Abs. 1 BGB; Artt. 1 Abs. 1; 2 Abs. 1 GG beeinträchtigt, denn wegen des Vorwurfs ist sein Ansehen in der Öffentlichkeit, zumindest aber bei allen Personen, denen die Äußerung bekannt ist, erheblich beschädigt worden. Die Beklagte hat auch nicht die Wahrheit ihrer Äußerungen bewiesen.
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Die Äußerungen der Beklagten waren jedoch nicht rechtswidrig. Denn auch wenn die Wahrheit einer Behauptung nicht feststeht, ist eine Persönlichkeitsrechtsverletzung nach § 1004 Abs. 2 BGB dann nicht rechtswidrig, wenn der Geschädigte den Eingriff zu dulden hat. Dies ist nach dem Rechtsgedanken der § 824 Abs. 2 BGB und § 193 StGB dann der Fall, wenn der Schädiger in Wahrnehmung berechtigter Interessen handelt.
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Nach der Rechtsprechung stellen Äußerungen im engsten Familienkreis ähnliche Fälle im Sinne des § 193 StGB dar mit der Folge, dass hier ein dem Ehrschutz entzogener Freiraum besteht. Grund hierfür ist, dass der engste Kreis der Familie für die freie Entfaltung der Persönlichkeit besondere Bedeutung hat. Jeder muss die Möglichkeit haben, sich gegenüber seinen engsten Verwandten ohne jede Rücksichtnahme frei zu äußern, ohne sich in einem Gerichtsverfahren rechtfertigen zu müssen (BGH NJW 1993, 525 (526), OLG Düsseldorf Streit 2000, 179 (180). Äußerungen, die im engsten Familienkreis getätigt werden, sind mithin auch dann dem Ehrschutz entzogen, wenn ihre Wahrheit nicht bewiesen werden kann und die Interessen des Äußernden diejenigen des Betroffenen überwiegen. (Palandt- Sprau, 69. Auflage 2010, Rn. 101 a zu § 823 BGB).
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Soweit die Beklagte ihre Äußerungen gegenüber ihren Eltern und gegenüber ihren Kindern getätigt hat, wurden diese im engsten Familienkreis und schon deshalb aufgrund des vorgenannten berechtigten Interesses auf freie Persönlichkeitsentfaltung getätigt. Dabei durfte die Beklagte darauf vertrauen, dass ihr innerhalb dieses Sozialbereichs ein strafrechtsfreier Raum gewährt wird, unabhängig von der Frage, ob sie zum Zeitpunkt der Äußerungen ein gutes, vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Eltern hatte oder nicht. Denn der zum Schutz der Beklagten anzuerkennende Freiraum definiert sich nach der objektiv zu bestimmenden Verwandtschaft der Beklagten mit den Adressaten der Äußerung und nicht nach der subjektiven Bewertung der Qualität der Beziehung der Familienmitglieder zueinander.
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Aus den vorgenannten Gründen ist es auch letztlich irrelevant, ob die Beklagte ihre Äußerung aufgrund einer therapeutischen Weisung oder Empfehlung tätigte oder nicht, denn das „berechtigte Interesse“ auf freie Äußerung im engsten Familienkreis folgt schon aus der formalen Zugehörigkeit der Beklagten zu diesem sozialen Schonraum und bedarf keiner weiteren Rechtfertigung durch eine psychotherapeutische Behandlungsempfehlung. Ebenso spielt daher auch die Frage, ob es notwendig gewesen sei, den Kindern der Beklagten gegenüber die angegriffenen Äußerungen zur Begründung für den Kontaktabbruch zu benennen, keine streitentscheidende Rolle. Ungeachtet der Tatsache, dass es der Beklagten als Erziehungsberechtigten freisteht, zu entscheiden, ob sie die Kinder über ihre Motive für den Kontaktabbruch aufklärt, gehören die im Haushalt der Beklagten lebenden Kinder in jedem Fall zu ihrem engsten Familienkreis und unmittelbar zum sog. „beleidigungsfreien Raum“. Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Beklagte ihren Kindern gegenüber ausdrücklich erklärte, dass sie die gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe nicht beweisen könne.
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Die Tatsache, dass die Beklagte die streitgegenständliche Behauptung gegenüber ihrem Therapeuten und ihrer Prozessbevollmächtigten geäußert hat, ist ebenfalls nicht rechtswidrig, denn auch diese Personen gehören zu einem privilegierten Kreis gegenüber dem sich die Beklagte aussprechen darf.
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Unbestritten hat die Beklagte wegen psychischer Schwierigkeiten eine Behandlung bei einem Psychologen in Form einer Gesprächstherapie gemacht. Der Erfolg einer solchen Therapie ist davon abhängig, dass der Patient auch rückhaltlos seine Erinnerungen schildert, selbst wenn diese nicht zutreffend sein sollten. Denn Aufgabe der Gesprächstherapie ist es nicht nur, Verdrängtes bewusst zu machen, sondern auch, durch die Gespräche zu klären, ob es sich bei den geweckten Erinnerungen um echte“ Erinnerungen handelt. Äußerungen, die im Rahmen einer Behandlung gegenüber einem Therapeuten gemacht werden, stellen damit die Wahrnehmung berechtigter Interessen des Patienten dar. Da der behandelnde Arzt zudem der Schweigepflicht unterliegt, ist nicht zu besorgen, dass die von einem Patienten gemachten Äußerungen an dritte Personen gelangen, die nicht der Schweigepflicht unterliegen. (OLG Düsseldorf Streit 2000, 180/181, Bl. 31 ff. d. A.).
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Schließlich war es auch nicht rechtswidrig, dass sich die Beklagte im Rahmen der Verteidigung gegen die vorliegend erhobene Klage gegenüber ihre Prozessbevollmächtigen zu den bestrittenen Äußerungen erklärt hat. Denn auch das Gespräch mit dem eigenen Anwalt ist vom straf- und zivilrechtlichen Ehrschutz frei, soweit es unter dem Schutz des Berufsgeheimnisses steht (OLG Düsseldorf a. a. O mit weiteren Nachweisen)
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Desweiteren scheitert der Unterlassungsanspruch des Klägers an der nach § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB vorausgesetzten Wiederholungsgefahr. Der Kläger hat keine konkreten und nachprüfbaren Tatsachen dafür vorgetragen, dass die Beklagte beabsichtigt, die Äußerungen gegenüber Dritten zu machen, die nicht zum engsten Familienkreis gehören. Vielmehr spricht das bisherige Verhalten der Beklagten, die insbesondere gegenüber ihren Kindern darauf hingewiesen hat, dass die Vorwürfe nicht bewiesen und vertraulich zu behandeln seien und nur innerhalb der Familie besprochen werden dürften, dafür, dass sie darum bemüht ist, dass die bestrittene Behauptung nicht über den Kreis der Familie hinausgetragen wird. Vielmehr hat der Kläger selbst mit Veröffentlichung des Schreibens gedroht.
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Nach alledem überwiegt vorliegend das Interesse der Beklagten die streitgegenständliche Äußerung im engsten Familienkreis tätigen zu können, obwohl sie die Wahrheit ihrer Behauptungen nicht beweisen kann. Würde der Klägerin die weitere Äußerung untersagt, so wäre ihr eine Verarbeitung ihrer Erlebnisse und oder Erinnerungen im Familienkreis und im Rahmen der therapeutischen Behandlung für die Dauer der Rechtskraft des Titels und mithin für 30 Jahre untersagt. Auf eine solche Chance zur Verarbeitung von Erlebnissen oder vermeintlichen Erinnerungen besteht aber ein verfassungsrechtlicher Anspruch, der der Beklagten nicht verwehrt werden darf.
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II. Aus den vorstehenden Gründen sind auch die Klaganträge zu II und III abzuweisen.
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III. Der mit Schriftsatz vom 16.04.2012 beantragte Schriftsatznachlass war nicht zu gewähren. Die Ausführungen der Prozessbevollmächtigten der Beklagten im Schriftsatz vom 4.4.2012 gaben keinen Anlass zu neuem Sachvortag und führten zudem keine neuen rechtlichen Aspekten in den Rechtsstreit ein, sondern griffen vielmehr, die bereits mit der Klagerwiderung dargelegten und in der mündlichen Verhandlung erörterten Argumente auf.
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IV. Der Streitwert wird auf 6.000 € festgesetzt
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V. Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 708 Ziffer 11 Var. 2, 711 ZPO.