Zum Umfang der Verkehrssicherungspflicht des Betreibers eines Sägewerks

BGH, Urteil vom 15.07.2003 – VI ZR 155/02

Zum Umfang der Verkehrssicherungspflicht des Betreibers eines Sägewerks

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 14. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main in Kassel vom 26. März 2002 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand
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Der Beklagte ist Inhaber eines Sägewerkes und holzverarbeitenden Betriebes. Der Kläger, ein selbständiger Fliesenlegermeister, brachte im Januar 1998 Baumstämme in den Betrieb des Beklagten, um daraus Schalbretter und Kanthölzer herstellen zu lassen. Am 26. Januar 1998 wollte der Kläger das geschnittene Holz abholen.

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Dazu begab er sich auf das nicht eingezäunte Betriebsgelände des Beklagten und betrat dort einen nach zwei Seiten offenen, frei zugänglichen Schuppen, in dem ein Sägegatter (Vertikalgatter) in Betrieb war. Als der Kläger den Schneidearbeiten zusah, wurde er von einem aus dem Sägegatter herausgeschleuderten Kantholz am Kopf getroffen und schwer verletzt.

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Der Kläger begehrt Schadensersatz, Zahlung eines Schmerzensgeldes sowie die Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten für alle materiellen und immateriellen Zukunftsschäden. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht die Zahlungsansprüche dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und der Feststellungsklage stattgegeben; wegen des Betragsverfahrens hat es den Rechtsstreit an das Landgericht zurückverwiesen. Gegen dieses Urteil wendet sich der Beklagte mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision.

Entscheidungsgründe
I.

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Das Berufungsgericht hält für nicht bewiesen, daß der Beklagte das Vertikalgatter in mangelhaftem Zustand betrieben habe und läßt offen, ob die Säge fehlerhaft bedient worden sei. Es meint, der Beklagte habe seine Verkehrssicherungspflicht verletzt und dadurch die Schädigung des Klägers herbeigeführt. Allerdings handele es sich beim Sägen an einem Vertikalgatter nach Angaben des Sachverständigen nicht um einen besonders gefährlichen Vorgang. Holz reagiere aber bei der Bearbeitung unterschiedlich. Aufgrund von Verwachsungen und sonstigen Besonderheiten im Innern des Stammes könne es beim Sägen reißen oder absplittern. Es sei auch nicht ausgeschlossen, daß sich durch die senkrechte Bewegung des Sägeblattes vor allem kurze Kanthölzer verkeilten und dadurch aus der Maschine herausgeschleudert würden. Dies sei für den Gatterführer auch bei aufmerksamer Beobachtung des Schneidevorgangs nicht vorhersehbar. Wegen dieser Gefahren hätte der Beklagte nach Auffassung des Berufungsgerichts betriebsfremden Personen den Zutritt zu dem Schuppen durch Anbringung von Warn- und Verbotsschildern verbieten müssen. Dafür, daß der Kläger ein entsprechendes Verbot beachtet hätte, spreche eine tatsächliche Vermutung. Ein Mitverschulden treffe ihn nicht. Als Betriebsfremder habe er nicht mit abfliegenden Spänen oder weggeschleuderten Kanthölzern rechnen müssen.

II.

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Das angefochtene Urteil hält der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht überspannt die dem Beklagten als Betreiber der Säge obliegenden Verkehrssicherungspflichten.

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1. Zutreffend geht das Berufungsgericht allerdings davon aus, daß derjenige, der eine Gefahrenlage schafft, grundsätzlich verpflichtet ist, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Senatsurteile vom 19. Dezember 1989 – VI ZR 182/89VersR 1990, 498, 499 und vom 4. Dezember 2001 – VI ZR 447/00VersR 2002, 247, 248; jeweils m.w.N.; vgl. auch BGH, Urteil vom 17. Dezember 1992 – III ZR 99/90VersR 1993, 586, 587 m.w.N.; BGHZ 121, 368, 375 und BGH, Urteil vom 13. Juni 1996 – III ZR 40/95VersR 1997, 109, 111). Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfaßt danach diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren. Voraussetzung ist daher, daß sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Gefahr ergibt, daß Rechtsgüter anderer verletzt werden können (Senatsurteil vom 4. Dezember 2001 – VI ZR 447/00 – aaO m.w.N.).

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2. Das Berufungsgericht hält eine solche Gefahr hier deswegen für gegeben, weil nach Angaben des Sachverständigen bei dem Betrieb der Säge die Möglichkeit besteht, daß Teile des zu verarbeitenden Holzes absplittern oder Kanthölzer sich verkeilen und aus dem Gatter herausgeschleudert werden. Dieser vom Sachverständigen als möglich angesehene Geschehensablauf mag eine Erklärung für den Hergang des Unfalls vom 26. Januar 1998 sein. Eine solche nachträgliche Betrachtungsweise eines nach Kenntnis des Sachverständigen bislang einmaligen Vorgangs erlaubt für sich allein jedoch nicht die Schlußfolgerung, daß der Beklagte betriebsfremden Personen den Zutritt zu der Anlage hätte verbieten müssen. Das Berufungsgericht verkennt, daß nicht jeder abstrakten Gefahr durch vorbeugende Maßnahmen begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre unrealistisch (Senatsurteil vom 15. April 1975 – VI ZR 19/74VersR 1975, 812). So ist eine Verkehrssicherung, die jeden Unfall ausschließt, nicht erreichbar (Senatsurteil vom 21. April 1964 – VI ZR 39/63VersR 1964, 746). Haftungsbegründend wird eine Gefahr erst dann, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Möglichkeit ergibt, daß Rechtsgüter anderer verletzt werden können (Senatsurteile vom 15. April 1975 – VI ZR 19/74 – aaO m.w.N.; vom 10. Oktober 1978 – VI ZR 98 u. 99/77 – VersR 1978, 1163, 1165 und vom 5. Mai 1987 – VI ZR 181/86VersR 1987, 1014, 1015).

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Deshalb muß nicht für alle nur denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur die Vorkehrungen geboten, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden (vgl. Senatsurteil vom 10. Oktober 1978 – VI ZR 98 u. 99/77 – aaO; BGHZ 14, 83, 85; BGH, Urteil vom 13. November 1970 – 1 StR 412/70NJW 1971, 1093, 1094 m.w.N.). Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB), deren Verletzung zur deliktischen Haftung führt (§ 823 Abs. 1 BGB), ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich erachtet (Senatsurteil vom 16. Februar 1972 – VI ZR 111/70VersR 1972, 559, 560 m.w.N.). Daher reicht es anerkanntermaßen aus, dann, wenn die Gefahren bei der Ausübung eines Berufes oder eines Gewerbes auftreten, diejenigen Sicherungsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger dieser Berufsgruppe für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schaden zu bewahren, und die diesem den Umständen nach zuzumuten sind (vgl. Senatsurteile vom 12. Februar 1963 – VI ZR 145/62VersR 1963, 532 und vom 19. Mai 1967 – VI ZR 162/65VersR 1967, 801, jeweils m.w.N.).

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Kommt es in Fällen, in denen hiernach keine Schutzmaßnahmen getroffen werden mußten und eine Gefährdung von anderen – wenn auch nicht völlig ausgeschlossen – nur unter besonders eigenartigen und entfernt liegenden Umständen zu befürchten war, ausnahmsweise doch einmal zu einem Schaden, so muß der Geschädigte den Schaden selbst tragen, auch wenn dies im Einzelfall hart sein mag. Er hat ein „Unglück“ erlitten und kann dem Schädiger kein „Unrecht“ vorhalten (Senatsurteil vom 15. April 1975 – VI ZR 19/74 – aaO).

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3. Nach diesen Grundsätzen vermögen die bisher getroffenen Feststellungen eine Haftung des Beklagten gem. § 823 BGB nicht zu begründen.

11
a) Das Berufungsgericht stellt – sachverständig beraten – fest, daß die Anbringung eines Zutrittsverbotsschildes nach den maßgeblichen Unfallverhütungsvorschriften (UVV) für Maschinen und Anlagen zur Be- und Verarbeitung von Holz und ähnlichen Stoffen nicht erforderlich war. Damit ist allerdings die Frage noch nicht geklärt, ob der Beklagte dennoch gehalten gewesen wäre, insbesondere betriebsfremden Personen den Zutritt zu dem Maschinenraum zu verwehren. Insoweit geht das Berufungsgericht im Ansatz zutreffend davon aus, daß an die Sorgfaltspflicht des Unternehmers zum Schutz betriebsfremder Personen im Einzelfall durchaus höhere Anforderungen zu stellen sein können als gegenüber seinen Betriebsangehörigen, zu deren Schutz die UVV in erster Linie bestimmt sind (vgl. Senatsurteil vom 15. April 1975 – VI ZR 19/74 – aaO S. 812 f. m.w.N.). Gesetzliche oder andere Anordnungen, einschlägige Unfallverhütungsvorschriften und DIN-Normen enthalten im allgemeinen nämlich keine abschließenden Verhaltensanforderungen (vgl. Senatsurteile vom 30. April 1985 – VI ZR 162/83VersR 1985, 781; vom 12. November 1996 – VI ZR 270/95VersR 1997, 249, 250; vom 26. Mai 1998 – VI ZR 183/97VersR 1998, 1029, 1030; vom 4. Mai 1999 – VI ZR 379/98VersR 1999, 1033, 1034 und vom 13. März 2001 – VI ZR 142/00VersR 2001, 1040 jeweils m.w.N.). Solche Bestimmungen können jedoch regelmäßig zur Feststellung von Inhalt und Umfang bestehender Verkehrssicherungspflichten herangezogen werden (Senatsurteile vom 9. Juli 1985 – VI ZR 118/84VersR 1985, 1147 f. und vom 13. März 2001 – VI ZR 142/00 – aaO, jeweils m.w.N.). Namentlich die Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaft stellen den von der zuständigen Stelle kraft öffentlicher Gewalt festgelegten Niederschlag der in einem Gewerbe gemachten Berufserfahrungen dar und sind von dem Unternehmer zu beachten (vgl. Senatsurteile vom 11. Februar 1953 – VI ZR 58/52 – VersR 1953, 196 und vom 9. Juli 1985 – VI ZR 118/84VersR 1985, 1147 f., jeweils m.w.N.). Gebietet die Verkehrssicherungspflicht den Schutz vor anderen Gefahren als denen, die zu verhüten die Unfallverhütungsvorschrift dient, so kann sich der Verkehrssicherungspflichtige nicht darauf berufen, in Ansehung dieser Gefahren seiner Verkehrssicherungspflicht dadurch genügt zu haben, daß er die Unfallverhütungsvorschrift eingehalten hat. Vielmehr hat er die insoweit zur Schadensabwehr erforderlichen Maßnahmen eigenverantwortlich zu treffen. Dient hingegen die Unfallverhütungsvorschrift gerade der Vermeidung der Gefahren, die sich später in einem Unfall verwirklicht haben, so kann dem Verkehrssicherungspflichtigen nicht zum Vorwurf gemacht werden, daß er keine weitergehenden Schutzmaßnahmen ergriffen hat, als in der einschlägigen Unfallverhütungsvorschrift gefordert (vgl. Senatsurteile vom 30. April 1985 – VI ZR 162/83 – aaO und vom 12. November 1996 – VI ZR 270/95 – aaO, jeweils m.w.N.).

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b) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts sahen die seinerzeit maßgebenden UVV keine spezifischen Schutzmaßnahmen gegen ein Herausschleudern von Kanthölzern vor, sondern verlangten nur, beim Sägen von kurzen Stämmen an einem Vertikalgatter solche Vorrichtungen bereitzuhalten und zu benutzen, die das Hochschlagen der Stämme verhindern. Daß der Beklagte am Unfalltag gegen diese Vorschrift verstoßen hätte, ist nicht festgestellt. Deshalb ist im Revisionsrechtszug zu seinen Gunsten zu unterstellen, daß die Säge vorschriftsmäßig und fehlerfrei bedient wurde. Weitergehende Sicherungsvorkehrungen waren nach den UVV nicht zu treffen. Hat der Beklagte aber die Vorschriften beachtet, welche der Abwendung der (bekannten) Gefahr des Hochschlagens der Stämme dienten, hat er denjenigen Sicherheitsgrad geschaffen, den ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betreffenden Berufsgruppe für ausreichend halten durfte, um andere Personen vor Schaden zu schützen. Da die von dem Hochschlagen der Stämme ausgehende Gefährdung für alle sich in der Nähe der Säge aufhaltenden Personen und damit für Betriebsangehörige wie für Betriebsfremde in gleichem Maße galt, bestanden gegenüber letzteren auch keine zusätzlichen Sorgfaltspflichten. Für ein Zutrittsverbot gegenüber betriebsfremden Personen wegen der Möglichkeit des Herausschleuderns von Kanthölzern hätte nur dann Veranlassung bestanden, wenn es sich dabei um eine nach sachverständigem Urteil naheliegende Gefahr gehandelt hätte.

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Das ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht der Fall. Hat sich der Unfall vorliegend trotz Einhaltung der aus damaliger Sicht gebotenen Sicherheitsvorkehrungen ereignet, hat er die Erkenntnis gebracht, daß diese Maßnahmen nicht ausreichend waren. In diesem Fall mag sich eine bis dahin zwar denkbare, aber für das sachverständige Urteil seinerzeit allenfalls als bloß theoretisch anzusehende Möglichkeit des Herausschleuderns von Holzteilen in der Praxis realisiert haben. Das reicht jedoch zur Begründung einer Haftung aus einem solchen Unfall nach den oben dargestellten Grundsätzen nicht aus (vgl. Senatsurteile vom 15. April 1975 – VI ZR 19/74 – aaO m.w.N.; vom 10. Oktober 1978 – VI ZR 98 u. 99/77 – aaO und vom 5. Mai 1987 – VI ZR 181/86 – aaO). Nach alledem mußte der Beklagte den Zutritt zu der Anlage jedenfalls seinen Kunden nicht verwehren. Eine andere Frage mag es sein, ob er den Sägeschuppen allen Außenstehenden und somit z.B. auch Kindern zugänglich machen durfte. Einer Vertiefung dieser Frage bedarf es hier aber deshalb nicht, weil es sich insoweit um ein besonderes Risiko handeln würde, das sich im Streitfall nicht verwirklicht hat und das deshalb hier außer Betracht bleiben kann (vgl. Senatsurteil vom 25. April 1978 – VI ZR 194/76VersR 1978, 739, 740; Lepa, Der Schaden im Haftpflichtprozeß, 1992, S. 17).

III.

14
Nach alledem kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um zu klären, ob die Schädigung des Klägers durch eine fehlerhafte Bedienung des Vertikalgatters verursacht worden ist.

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