Zum Schmerzensgeldanspruch eines Polizeibeamten nach Knieverletzung bei einem Festnahmeversuch

OLG Karlsruhe, Urteil vom 01.12.2015 – 9 U 114/14
 
1. Kommt es bei einem berechtigten Festnahmeversuch (hier: zur Verhinderung einer Selbsttötung des Betroffenen) zu einem „Gerangel“, ist der Betroffene zivilrechtlich für Verletzungen verantwortlich, die sich der Polizeibeamte durch eine nicht kontrolliere Eigenbewegung im „Gerangel“ zuzieht (hier: Verletzung mehrerer Bänder im Knie durch ein Verdrehtrauma).

2. Bei einer komplexen Schädigung des Kniegelenks durch eine fahrlässige Körperverletzung kann ein Schmerzensgeld in Höhe von 5000 EUR in Betracht kommen. Dabei sind berücksichtigt drei Monate Dienstunfähigkeit, eine Vielzahl ärztlicher Behandlungen und Schmerzen bei leichten Belastungen des Knies im Sinne eines Dauerschadens.

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 19.08.2014 – D 4 O 82/14 – in der Hauptsache wie folgt abgeändert:

1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,00 EUR zu bezahlen.

2. Der Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger 40,00 EUR für ärztliche Zuzahlungen zu bezahlen.

3. Der Beklagte wird verurteilt, den Kläger von außergerichtlichen Kosten in Höhe von 571,44 EUR gegenüber seinen Prozessbevollmächtigten frei zu stellen.

4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

II. Die weitergehende Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.

III. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 1/4 und der Beklagte zu ¾.

Wegen der Kosten im Verfahren des Landgerichts verbleibt es bei der erstinstanzlichen Entscheidung.

III. Das Urteil des Senats und das Urteil des Landgerichts – soweit dieses auf-rechterhalten wird – sind vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe
I.

Am 05.09.2013 hatte der Beklagte gegenüber ihm nahestehenden Personen ernsthaft geäußert, er wolle sich das Leben nehmen. Dies führte zu einer polizeilichen Suchaktion, an welcher auch der Kläger als Polizeibeamter teilnahm. Der Beklagte wurde in einem hügeligen Gelände in der Nähe von S. gefunden. Der Kläger, der eine Selbsttötung des Beklagten befürchtete, versuchte, den Beklagten festzuhalten und ihn an einem Davonlaufen zu hindern. Der Kläger wollte den Beklagten festnehmen, damit er zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik gebracht wurde. Der Beklagte wollte sich vom Kläger nicht festhalten und nicht festnehmen lassen. Es kam zu einem Gerangel, dessen Ablauf im Einzelnen streitig ist. Es gelang dem Beklagten kurzzeitig, sich von den Festhalteversuchen des Klägers loszureißen und davon zu laufen. Kurz darauf wurde der Beklagte von anderen Polizeibeamten festgenommen und in eine psychiatrische Klinik gebracht.

Der Kläger hat erstinstanzlich vorgetragen: Während der tätlichen Auseinandersetzung mit dem Beklagten habe er sich eine schwere Knieverletzung zugezogen. Kraft- und Gewalteinwirkungen des Beklagten seien ursächlich für eine komplexe Schädigung des Kniegelenks; es sei ein Dauerschaden zurückgeblieben. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Beklagte sei zur Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz verpflichtet.

Mit Urteil vom 19.08.2014 hat das Landgericht den Beklagten – überwiegend antragsgemäß – wie folgt verurteilt:

1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,00 EUR zu bezahlen.

2. Der Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger 40,00 EUR für ärztliche Zuzahlungen zu bezahlen.

3. Der Beklagte wird verurteilt, den Kläger von außergerichtlichen Kosten in Höhe von 729,23 EUR gegenüber der Rechtsanwaltskanzlei b. + Partner freizustellen.

4. Es wird festgestellt, dass die mit Klagantrag Ziffer 1 und 2 geltend gemachten Forderungen auf einer unerlaubten Handlung beruhen.

5. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

6. Von den Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger 2/7, der Beklagte 5/7.

Das Landgericht hat ausgeführt, die Knieverletzung des Klägers sei bei dem Vorfall vom 05.09.2013 durch eine unerlaubte Handlung des Beklagten verursacht worden. Der Kläger sei berechtigt gewesen, den Beklagten zu dessen Schutz festzuhalten und festzunehmen. Der Höhe nach sei ein Schmerzensgeld von 5.000,00 EUR angemessen; dabei ist das Landgericht hinter den Vorstellungen des Klägers, der einen Mindestbetrag von 7.000,00 EUR verlangt hat, zurückgeblieben. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das erstinstanzliche Urteil verwiesen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Beklagten. Er ist der Auffassung, er sei aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen nicht zur Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz verpflichtet. Es sei keineswegs bewiesen, dass die vom Kläger geltend gemachte Verletzung bei dem Vorfall vom 05.09.2013 entstanden sei. Wenn der – beweispflichtige – Kläger sich die Verletzung seines linken Knies auf andere Weise und bei einer anderen Gelegenheit zugezogen habe, komme eine Haftung des Beklagten nicht in Betracht. Zu der Rangelei zwischen den Parteien sei es am 05.09.2013 zudem nur durch ein verbal unangemessenes Verhalten des Klägers gekommen, welches den Beklagten erregt habe. Es sei auch nicht erforderlich gewesen, den Beklagten festzunehmen, da an der betreffenden Örtlichkeit, wo der Beklagte gefunden wurde, keine unmittelbare Suizidgefahr bestanden habe. Schließlich sei der Beklagte berechtigt gewesen, sich gegen die Versuche des Klägers, ihn festzuhalten und festzunehmen, zur Wehr zu setzen. Denn es sei für den Beklagten nicht erkennbar gewesen, dass der Kläger Polizeibeamter war.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landgerichts Konstanz – D 4 O 82/14 – vom 19.08.2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil. Er ergänzt und vertieft seinen Vortrag.

Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Der Senat hat im Termin vom 10.11.2015 durch den Einzelrichter beide Parteien informatorisch angehört und die Zeugen F. R. und M. B. zum Ablauf des Geschehens am 05.09.2013 vernommen. Außerdem hat der Senat ein mündliches Gutachten des Sachverständigen Dr. H. zur Entstehung der Verletzung des Klägers eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll vom 10.11.2015 verwiesen.

II.

Die Berufung des Beklagten hat überwiegend keinen Erfolg. Er ist zur Zahlung eines Schmerzensgeldes an den Kläger in Höhe von 5.000,00 EUR wegen des Vorfalls vom 05.09.2013 verpflichtet. Die Berufung hat jedoch insoweit Erfolg, als der Feststellungsantrag des Klägers nicht begründet ist. Die Haftung des Beklagten beruht nicht auf einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung.

1. Der Beklagte ist verpflichtet, wegen des Vorfalls vom 05.09.2013 an den Kläger gemäß §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,00 EUR zu zahlen.

a) Nach der im Berufungsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats folgender Sachverhalt fest: Im Rahmen des Polizeieinsatzes vom 05.09.2013 versuchte der Kläger, den Beklagten festzuhalten und festzunehmen. Der Kläger wurde zum Schutz des Beklagten tätig. Nach den vorher vom Beklagten ernsthaft geäußerten Suizidabsichten diente das Handeln des Klägers dazu, den Beklagten an einer Selbsttötung zu hindern und zur Behandlung in ein psychiatrisches Krankenhaus zu bringen. Bei dem Versuch, den Kläger festzuhalten und festzunehmen, kam es zwischen den Parteien zu einem Gerangel, an welchem auch die beiden Zeugen, die den Kläger unterstützen wollten, teilweise beteiligt waren. Das Gerangel war davon gekennzeichnet, dass der Kläger und der Beklagte jeweils Körperkräfte einsetzten, der Kläger bei dem Versuch, den Beklagten festzuhalten und am Davonlaufen zu hindern, der Beklagte bei dem – letztlich erfolgreichen – Versuch, sich loszureißen und wegzulaufen. Während dieses Gerangels kam es in unmittelbarem Zusammenhang mit den beiderseitigen Krafteinwirkungen zur Verletzung des Klägers. Er verdrehte sich bei dem Gerangel das linke Knie. Es entstand eine komplexe Schädigung des Kniegelenkes, bei welcher das vordere Kreuzband, das Innenband und der Innenmeniskus verletzt wurden. Die Verletzung führte zu dauerhaften Beschwerden des Klägers, der trotz einer Operation und einer Vielzahl ärztlicher Behandlungen schon bei leichten Belastungen des Knies unter Schmerzen leidet. Er ist in der Möglichkeit, Sport auszuüben, stark eingeschränkt.

b) Der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt steht fest auf Grund der durchgeführten Beweisaufnahme.

aa) Die festgestellte Verletzung ist dokumentiert durch das ärztliche Attest des behandelnden Arztes Dr. med. P. vom 15.09.2015 (II 103/105). Die Feststellungen in diesem Attest wurden bestätigt durch den Sachverständigen Dr. H,. der die vorliegenden Befunde ausgewertet hat. Der Kläger war wegen der Beschwerden an seinem linken Knie erstmals bereits am 05.09.2015 zur Behandlung bei Dr. P.. Bereits auf Grund des zeitlichen Zusammenhangs ist eine Verursachung der Knieverletzung durch das streitgegenständliche Geschehen am 05.09.2015 naheliegend.

bb) Aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H. ergibt sich, dass in der Kernspintomographie vom 15.09.2013 eine frische Verletzung des Knies festgestellt wurde. Dies passt zu einer Verursachung am 05.09.2013; es hat sich mithin nicht um eine schon länger bestehende Vorschädigung des Knies gehandelt.

Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dr. H. steht außerdem fest, dass es ein sogenanntes Verdrehtrauma gegeben haben muss. Die Verletzung kann nicht entstanden sein durch ein normales Beugen und Strecken des Knies, also nicht durch normale willkürliche Bewegungen beim Gehen oder Laufen. Wie der Sachverständige ausgeführt hat, ist ein solches Verdrehtrauma jedenfalls ohne Weiteres vereinbar mit einer Verursachung während des „Gerangels“ zwischen den Parteien. Wenn der Kläger im Zusammenhang mit den wechselseitigen Krafteinwirkungen bei dem Gerangel mit dem linken Bein abgerutscht ist oder das Bein verdreht hat, konnte die Verletzung ohne Weiteres entstehen.

cc) Das „Gerangel“ zwischen dem Kläger und dem Beklagten ergibt sich aus den im Wesentlichen übereinstimmenden Angaben der Parteien und der beiden im Termin vernommenen Zeugen.

dd) Von wesentlicher Bedeutung im Rahmen der Beweiswürdigung sind die in-formatorischen Angaben des Klägers im Termin vom 10.11.2015. Danach müssen die Verletzungen während des Gerangels entstanden sein. Denn der Kläger hatte nach seinen Angaben vor der Auseinandersetzung keine Beschwerden im Knie; aus dem Umstand, dass er beim Gehen nach Abschluss des „Gerangels“ bereits erstmals Schmerzen verspürt hat, ist zu schließen, dass die Ursache hierfür bei dem unmittelbar vorausgegangenen „Gerangel“ gesetzt worden sein muss. Dass die Beschwerden anschließend im Laufe der nächsten Stunden zugenommen haben, ist nach dem Gutachten des Sachverständigen nachvollziehbar und entspricht dem Charakter der Verletzung. Unter den gegebenen Umständen – insbesondere im Hinblick auf die sonstigen vorhandenen Indizien – ist davon auszugehen, dass der Kläger das Geschehen zutreffend geschildert hat.

ee) Im Rahmen der Beweiswürdigung ist zudem zu berücksichtigen, dass es zeitlich vor und nach der Auseinandersetzung zwischen den Parteien kein anderes – festgestelltes – Geschehen gab, welches alternativ als Ursache für die Knieverletzung des Klägers in Betracht kommt. Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger vorher oder nachher – unabhängig von dem „Gerangel“ – beim Gehen oder Laufen gestolpert oder gestürzt wäre mit der möglichen Konsequenz einer alternativen Verursachung der Knieverletzung durch ein solches Ereignis. Die bloße theoretische Möglichkeit, dass ein solches alternatives Ereignis – irgendwann am 05.09.2013 – generell nicht ausschließbar ist, kann angesichts der vorhandenen Indizien die Beweiswürdigung nicht in Frage stellen.

ff) Die Glaubwürdigkeit der Angaben des Klägers wird zudem bestätigt durch sein Verhalten nach dem Geschehen. Bereits gegenüber dem behandelnden Arzt hat er am 05.09.2015 ausweislich des Attestes angegeben, er habe sich das linke Knie „bei der Auseinandersetzung“ verdreht (vgl. das Attest II 103). Auch die Darstellung des Klägers in seiner Dienstunfallanzeige (vgl. die Anzeige II 93), wonach das linke Knie „bei dieser Aktion“ verdreht worden sei, stimmt mit seinen Angaben im Termin vom 10.11.2015 überein. Die früheren zeitnahen Angaben des Klägers sprechen dafür, dass die zeitliche Zuordnung der Knieverletzung zu dem „Gerangel“ von Anfang an seiner Wahrnehmung entsprach.

c) Der Beklagte haftet für die Verletzung des Klägers gemäß § 823 Abs. 1 BGB. Er hat fahrlässig die Gesundheit des Klägers verletzt.

aa) Der Kläger war in der konkreten Situation berechtigt, den Beklagten festzunehmen, um ihn an einer möglichen Selbsttötung zu hindern und zur Behandlung in ein psychiatrisches Krankenhaus zu bringen. Das Handeln des Klägers war zulässig gemäß §§ 28, 50, 52 PolG Baden-Württemberg. Die vom Kläger versuchte Festnahme war erforderlich, um eine drohende Gefahr für Leib und Leben des Beklagten abzuwenden (vgl. zur Tätigkeit der Polizei zur Verhinderung einer Selbsttötung BayObLG, NJW 1989, 1815). Da der Beklagte ernsthafte Suizidabsichten geäußert hatte, kommt es für die Frage der Rechtmäßigkeit des Handelns des Klägers nicht darauf an, ob die Örtlichkeit mit bestimmten Gefahren verbunden war. Es war aus der Sicht des Klägers in jedem Fall geboten, den Beklagten am Davonlaufen zu hindern. Die Berechtigung zur Festnahme ist im Übrigen auch unabhängig von der Frage, ob der Kläger – wie der Beklagte meint – vor dem Festnahmeversuch keine angemessenen Worte zur Deeskalation der Situation gefunden hat.

bb) Da der Kläger polizeirechtlich zum Festhalten und zur Festnahme des Beklagten berechtigt war, stand dem Beklagten keine Berechtigung zu, sich gegen das Handeln des Klägers zu wehren. Der Beklagte war nicht berechtigt, sich mit Kraftentfaltung gegen das Festhalten zu wehren, um davonlaufen zu können. Das „Gerangel“, bei welchem der Beklagte Körperkräfte einsetzte, um seinen Fluchtwillen durchzusetzen, war unter den gegebenen Umständen eine nicht rechtmäßige Gegenwehr gegen eine rechtmäßige polizeiliche Aktion des Klägers.

cc) Mit der nicht rechtmäßigen Gegenwehr hat der Beklagte ein gesteigertes Risiko für den Kläger geschaffen. Durch das „Gerangel“ wurde eine nicht unerhebliche Gefährdung des Klägers verursacht. Denn das Risiko einer Eigenverletzung des Polizeibeamten ist bei einem solchen „Gerangel“ wesentlich größer bei einer Festnahme ohne „Gerangel“ und ohne Einsatz beiderseitiger Körperkräfte. Die gesteigerte Gefahr, welche der Beklagte für den Kläger verursacht hat, hat sich in der Knieverletzung des Klägers realisiert. Denn es steht fest, dass die Knieverletzung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem „Gerangel“ verursacht wurde und nicht etwa bei einer anderen Gelegenheit (siehe oben). Der Beklagte ist unter diesen Umständen zivilrechtlich gemäß § 823 Abs. 1 BGB für die Folgen verantwortlich, die durch das von ihm geschaffene gesteigerte Risiko bei dem Kläger eingetreten sind. (Vgl. zu entsprechenden Fällen der Haftung bei Herausforderung eines gesteigerten Risikos für den Geschädigten BGH, MDR 1967, 663; BGH, NJW 1971, 1980; BGH, NJW 1996, 1533; vgl. im Übrigen zur Abgrenzung – keine Zurechnung von Körperverletzungen, die nur „zufällig“ in einer vom Schädiger verursachten Situation entstanden sind – OLG Düsseldorf, OLGR 1997, 240; BGH, NJW 1993, 2234; OLG Saarbrücken, NJW-RR 1992, 472.)

dd) Hinsichtlich der Körperverletzung des Klägers ist dem Beklagten Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Es ist nicht fernliegend, sondern vorhersehbar, dass bei einem „Gerangel“ Verletzungen durch nicht vollständig kontrollierte Eigenbewegungen des Geschädigten entstehen können, wie insbesondere durch ein Verdrehen des Knies. Dabei gilt für die Fahrlässigkeit grundsätzlich ein objektiver Sorgfaltsmaßstab (vgl. Palandt/Sprau, BGB, 74. Auflage 2015, § 823 BGB, RdNr. 43). Es kommt daher für den Vorwurf der Fahrlässigkeit nicht darauf an, ob und inwieweit der Beklagte bei dem Geschehen an die Möglichkeit einer Verletzung des Klägers gedacht hat.

ee) Die Voraussetzungen für einen Ausschluss der Verantwortlichkeit (Schuldunfähigkeit) gemäß § 827 BGB liegen nicht vor. Darlegungs- und Beweislast für einen Schuldausschluss obliegen dem Schädiger, vorliegend also dem Beklagten. Dass der Beklagte sich am fraglichen Tag in einem seelischen Ausnahmezustand befand, reicht für einen Schuldausschluss nicht aus. Es ist nicht ersichtlich, dass dem Beklagten in der konkreten Situation die Möglichkeit fehlte, die Gefährlichkeit seines Handelns für den Kläger – mögliche Verletzung durch das „Gerangel“ – zu erkennen.

d) Das Handeln des Beklagten war nicht durch Notwehr gerechtfertigt. Da der Festnahmeversuch des Klägers gerechtfertigt war (siehe oben), lag für den Beklagten kein rechtswidriger Angriff im Sinne von § 227 Abs. 2 BGB vor. Dass dem Beklagten nach seinen Angaben nicht bewusst war, dass der Kläger als Polizeibeamter auftrat, ist rechtlich ohne Bedeutung. Im Fall einer sogenannten Putativnotwehr wäre ein Anspruch des Klägers gegen den Beklagten nur dann ausgeschlossen, wenn der Irrtum des Beklagten nicht vermeidbar gewesen wäre, wobei die Beweislast für eine solche Situation dem Beklagten obliegt (vgl. Palandt/Ellenberger a.a.O., § 227 BGB, RdNr. 12, 13). Unter Anwendung eines objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs (siehe oben) ist davon auszugehen, dass der Beklagte in der konkreten Situation hätte erkennen können, dass der Kläger – obwohl er keine Uniform trug – als Polizeibeamter handelte. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Beklagte kurz vorher den Einsatz des Hubschraubers bemerkt hatte, mit dem die Polizei nach ihm suchte.

e) Der Höhe nach erscheint das vom Landgericht zuerkannte Schmerzensgeld von 5.000,00 EUR angemessen. Da dem Beklagten lediglich Fahrlässigkeit zur Last fällt (siehe oben), können zum Vergleich Fälle herangezogen werden, in denen ähnliche Verletzungen bei Verkehrsunfällen entstanden sind. Für die Bemessung des Schmerzensgeldes spielt eine Rolle, dass der Kläger eine Vielzahl ärztlicher Behandlungen in Anspruch nehmen musste (vgl. das Attest II 103). Es war eine Operation des Knies erforderlich. Der Kläger war mehr als drei Monate dienstunfähig. Wesentlich erscheint vor allem, dass ein Dauerschaden verblieben ist; schon bei leichten Belastungen kommt es zu Schmerzen im linken Knie.

2. Dem Kläger steht außerdem ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 40,00 EUR gemäß § 823 Abs. 1 BGB zu. Der Kläger hat Zuzahlungen in dieser Höhe für ärztliche Leistungen erbracht. Für diese Zuzahlungen liegen Belege vor.

3. Der Beklagte ist verpflichtet, den Kläger von vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 571,44 EUR freizustellen. Die über diesen Betrag hinausgehende Forderung ist nicht berechtigt.

a) Der Anspruch beruht auf § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. § 249 Abs. 2 BGB. Die vorgerichtliche Beauftragung eines Anwalts war unter den gegebenen Umständen für den Kläger geboten, um Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche gegen den Beklagten zu verfolgen.

b) Die Forderungen des Klägers gegen den Beklagten waren in Höhe von 5.040,00 EUR (5.000,00 EUR Schmerzensgeld und 40,00 EUR Zuzahlung) berechtigt. Dementsprechend sind die Anwaltskosten aus einem Streitwert von 5.040,00 EUR zu berechnen. Bei dem angegebenen Streitwert beträgt eine 1,3-fache Gebühr gemäß VV RVG Nr. 2300 460,20 EUR netto. Unter Berücksichtigung von Postpauschale und Mehrwertsteuer ergibt sich ein Bruttobetrag von 571,44 EUR.

4. Der Feststellungsantrag des Klägers ist nicht begründet. Insoweit ist das erstinstanzliche Urteil abzuändern und die Klage teilweise abzuweisen.

a) Der Feststellungstenor in Ziff. 4 des erstinstanzlichen Tenors ist dahingehend zu verstehen, dass die Forderungen nicht „auf einer unerlaubten Handlung“ beruhen sollen, sondern auf einer „vorsätzlichen unerlaubten Handlung“. Denn nur dies entspricht dem Begehren des Klägers (vgl. Seite 6 der Klageschrift). Mit dem Feststellungsantrag wollte der Kläger § 302 Ziff. 1 InsO Rechnung tragen (keine Restschuldbefreiung bei einer Forderung aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung).

b) Der Feststellungsantrag ist nicht begründet. Denn ein vorsätzliches Handeln des Beklagten lässt sich nicht feststellen. Aus Gründen der Beweislast kann daher nur von einer fahrlässigen unerlaubten Handlung ausgegangen werden.

aa) Der Beklagte hat erklärt, er habe bei dem „Gerangel“ den Kläger nicht verletzen wollen; er habe nur versucht, sich loszureißen, da er fliehen wollte. Dieses Vorbringen ist dahingehend zu verstehen, dass der Beklagte auch mit der Möglichkeit einer Verletzung des Klägers nach seinen Angaben nicht gerechnet hat und dies auch nicht billigend in Kauf genommen hat. Das Vorbringen des Klägers ist nicht zu widerlegen. Es ist unter den gegebenen Umständen nachvollziehbar, dass sich der Kläger in der fraglichen Situation so auf sein Ziel des Davonlaufens konzentriert hat, dass mögliche Verletzungsfolgen für den Kläger durch das „Gerangel“ nicht von seinem Bewusstsein umfasst waren (vgl. zur Begrenzung des Verschuldens auf Fahrlässigkeit in entsprechenden Fällen BGH, NJW 1976, 568; BGH, NJW 1996, 1533).

bb) Es kann dahinstehen, ob der Beklagte eine – vorsätzliche – versuchte Nötigung begangen hat, indem er versucht hat, den Kläger durch Krafteinwirkung („Gewalt“) an einer Festnahme zu hindern. Auch wenn man dies unterstellt, kommt eine Haftung des Beklagten aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung nicht in Betracht. Denn es lässt sich nicht feststellen, dass die Verletzung des Klägers unmittelbare Folge einer „Gewalteinwirkung“ des Beklagten war. Vielmehr ist aus Beweislastgründen zu Gunsten des Beklagten davon auszugehen, dass die Verletzung des Klägers durch ein – vom Beklagten fahrlässig provoziertes – Eigenhandeln des Klägers (Verdrehen des Knies) verursacht wurde (siehe oben). Bei dieser für den Beklagten günstigeren Alternative fehlt jedenfalls ein kausaler Zusammenhang zwischen einer versuchten Nötigung und der Körperverletzung.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Auf Grund der schwierigen finanziellen Situation des Beklagten hatte der Feststellungsantrag (Forderungen aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung) für den Kläger eine gewisse wirtschaftliche Bedeutung. Daher erscheint es angemessen, den Teilerfolg des Beklagten bei diesem Antrag im Berufungsverfahren in gewissem Umfang zu berücksichtigen.

6. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziff. 10, 713 ZPO.

7. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision(§ 543 Abs. 2 ZPO) liegen nicht vor. Die für die Entscheidung maßgeblichen Rechtsfragen sind in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt.

Dieser Beitrag wurde unter Zivilrecht abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.