Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13. September 2006 – 6 U 61/06
1. Ein Gastwirt, der im Rahmen seines Hausrechts einen betrunkenen und unter Drogeneinfluss stehenden Gast, der einen anderen Gast geschlagen und trotz Aufforderung des Gastwirts den Gastraum nicht verlassen hat (§ 123 Abs. 1 StGB), mittels körperlicher Gewalt aus seinen Gasträumen entfernt hat, haftet auch nicht teilweise auf Ersatz des Schadens, der dem Gast infolge eines Sturzes vor der Gaststätte entstanden ist. Diese Handlung des Gastwirts ist als Notwehrhandlung zur Verteidigung des Hausrechts des Gastwirts gemäß § 227 Abs. 1 BGB gerechtfertigt gewesen.(Rn.26)
2. Eine Rechtspflicht der Gastwirte, zur Entfernung und Betreuung betrunkener Gäste die Polizei oder das Rote Kreuz herbeizurufen, besteht grundsätzlich nicht (Anschluss an OLG München, 11. Februar 1966; 10 U 2121/65; NJW 1966, 1165, 1166). Eine solche Einschränkung des Notwehrrechts kommt gegenüber einem schuldlos oder im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit handelnden Angreifer jedoch dann in Betracht, wenn mit der Notwehrhandlung erhebliche Gefahren für Leib oder Leben des Angreifers verbunden sind, die der Verteidiger ohne nennenswertes eigenes Risiko anderweitig abwenden kann.(Rn.29)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das am 02.03.2006 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer – Einzelrichter – des Landgerichts Magdeburg (Az.: 11 O 2169/05) wird zurückgewiesen.
2. Auf die Berufung des Beklagten wird das am 02.03.2006 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer – Einzelrichter – des Landgerichts Magdeburg (Az.: 11 O 2169/05) abgeändert und die Klage abgewiesen.
3. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
1
Der Kläger verlangt Schmerzensgeld und Schadensersatz für die Folgen einer behaupteten Körperverletzung.
2
Vor Mitternacht am 20.05.2004, dem so genannten Männertag, begab der Kläger sich in die Gaststätte „K. “ in W., deren Inhaber der Beklagte war. Einige Zeit zuvor hatte der Beklagte dem Kläger bereits Lokalverbot erteilt, dieses aber vor dem 20.05.2004 wieder aufgehoben. Nachdem es zu Rempeleien zwischen dem Kläger und Dritten gekommen war, untersagte der Beklagte es dem Kläger, andere Gäste zu belästigen, und kündigte ihm für den Fall der Zuwiderhandlung ein Lokalverbot an.
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Gegen 1:30 Uhr am 21.05.2004 schlug der Kläger, bei dem kurz danach eine Blutalkoholkonzentration von 3,26 g ‰ festgestellt wurde und der zudem Cannabis konsumiert hatte, mit Fäusten auf den auf einem Barhocker sitzenden unbeteiligten Zeugen K. H. ein, so dass letzterer vom Hocker fiel. Um seinen Stammgast H. vor weiteren Schlägen und Verletzungen zu schützen, nahm der Beklagte den Kläger in den „Schwitzkasten“, indem er dessen Kopf unter seinen linken Arm klemmte, und führte den Kläger so über 12-15 m in die geöffnete Eingangstür. Hier löste er die Umklammerung. Im weiteren Verlauf des Geschehens, der unter den Parteien streitig ist, stürzte der Kläger im Bereich vor der Eingangstür in der Nähe eines Betonpfeilers, zog sich dadurch eine Schädelkalottenfraktur rechts parietal mit Beteiligung des Hiatus acusticus zu und wurde bewusstlos.
4
Der Kläger hat behauptet, der Beklagte habe ihn in hohem Bogen durch die geöffnete Tür hinausgeworfen, obwohl er seine starke Alkoholisierung erkannt habe, so dass er mit dem Kopf voran auf den Gehwegplatten aufgeschlagen sei. Hierdurch habe er über die Schädelverletzungen hinaus eine Ohrverletzung, die operiert werden musste, und Dauerschäden (Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Hörminderung) erlitten.
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Der Beklagte hat behauptet, Herr H. habe nach seinem Sturz vom Barhocker weitere Schläge des Klägers einstecken müssen. Der Kläger habe sich gegen den „Schwitzkasten“ nach Kräften gewehrt und habe ihn noch auf dem Weg zur Eingangstür mehrfach kräftig in die Seite gestoßen. Er hat bestritten, den Kläger aus der Gaststätte hinausgeworfen, -geschleudert oder ihn mit unangemessener Gewalt behandelt zu haben. Er sei durch Nothilfe gerechtfertigt. Es sei nicht erkennbar gewesen, dass der Kläger volltrunken gewesen sei. Nachdem er ihn zur geöffneten Eingangstür gebracht habe, habe er ihn dort losgelassen und sei sofort in die Gaststätte zurückgegangen. Gäste hätten die Tür hinter dem Kläger geschlossen.
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Der Einzelrichter beim Landgericht Magdeburg hat aufgrund des Beweisbeschlusses vom 14.12.2005 Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen F. Z., L. D., M. A. und B. M. . Ausweislich des Verhandlungsprotokolls vom 08.02.2006 wurde die polizeiliche Aussage des Zeugen R. R. aus dem Ermittlungsverfahren der StA Magdeburg 955 Js 79088/04 mit dem Einverständnis der Parteien verlesen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Verhandlungsprotokoll vom 08.02.2006 Bezug genommen.
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Das Landgericht hat dem Kläger dem Grunde nach ein Schmerzensgeld unter Berücksichtigung eines Mithaftungsanteils des Klägers von ¾ zugebilligt und festgestellt, dass die Klage hinsichtlich des geltend gemachten materiellen Schadens zu ¼ gerechtfertigt sei. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass der Beklagte eine fahrlässige Körperverletzung zum Nachteil des Klägers begangen habe, indem er ihn durch eine Schleuderbewegung aus der Gaststätte befördert und dadurch seinen Sturz verursacht habe. Das Hinauswerfen sei nicht durch ein Nothilferecht gedeckt gewesen.
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Beide Parteien wenden sich mit ihrer jeweils form- und fristgerecht eingelegten Berufung gegen dieses Urteil.
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Der Kläger greift es insoweit an, als er zu einer höheren Mithaftung als ¼ dem Grunde nach verurteilt worden ist. Er beanstandet, es sei nicht berücksichtigt worden, dass er aufgrund seiner starken Alkoholisierung schuldunfähig gewesen sei. Dies rechtfertige eine Mithaftung des Klägers von allenfalls ¼. Die Feststellungen zur Intensität und Motivation des Angriffs auf den Zeugen H. habe das Landgericht ohne eine Vernehmung des Zeugen nicht treffen dürfen.
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Der Kläger beantragt,
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1. das Urteil des LG Magdeburg vom 02.03.2006 – 11 O 2169/05 – abzuändern und
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a) ihm dem Grunde nach ein Schmerzensgeld unter Berücksichtigung seines Mithaftungsanteiles von ¼,
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b) und seinen materiellen Schaden zu ¾ zuzuerkennen;
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2. die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
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Der Beklagte beantragt,
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1. unter Abänderung des angefochtenen Urteils, die Klage abzuweisen,
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2. hilfsweise,
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das am 02.03.2006 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer – Einzelrichter – des Landgerichts Magdeburg aufzuheben und das Verfahren an das Landgericht Magdeburg zurückzuverweisen;
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3. die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
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Er rügt die Beweiswürdigung des Landgerichts. Die Aussagen der Zeugen seien nicht im Zusammenhang mit dem unstreitigen Geschehensablauf und den daraus resultierenden Besonderheiten gewürdigt worden. Ferner habe das Landgericht unberücksichtigt gelassen, dass der Beklagte, um sich nicht selbst der Gefahr von Schlägen auszusetzen, beim Lösen seines Armes vom Hals des Klägers gezwungen gewesen sei, Distanz zwischen sich und dem Kläger zu schaffen. Er beanstandet, dass das Gericht sein Verhalten fehlerhaft als nicht durch Notwehr/Nothilfe gedeckt angesehen habe.
II.
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1. Der Hauptantrag des Beklagten im Berufungsverfahren ist zulässig und auch in der Sache begründet. Dem Kläger steht gegen den Beklagten ein Anspruch auf Ersatz der immateriellen und materiellen Schäden, die er aufgrund des Sturzes in der Nacht zum 21.05.2004 erlitten hat, aus §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2, 249 Abs. 2 S. 1 BGB nicht zu.
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a) Der Beklage rügt zunächst zu Recht die Tatsachenfeststellung des erstinstanzlich zuständigen Gerichts. Es bestehen konkrete Anhaltspunkte im Sinne des § 529 ZPO, die Zweifel an der Richtigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen des Einzelrichters beim Landgericht begründen.
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Die Aussage der Zeugin L. D., auf die der Einzelrichter die Verurteilung des Beklagten in erster Linie gestützt hat, trägt bereits ihrem protokollierten Inhalt nach nicht die Feststellung, der Beklagte habe durch sein Verhalten die Verletzungen des Klägers verursacht, indem er ihn mit beiden Händen weggeschleudert habe. Die Aussage der Zeugin hat nämlich inhaltlich nicht ergeben, dass der Beklagte den Kläger aus dem Lokal geworfen oder geschleudert habe.
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Ausweislich des Protokolls vom 08.02.2006 hat die Zeugin zwar ausgesagt, der Beklagte habe den Kläger weggeworfen, „wie man einen Sandsack wegwirft“, ohne dies näher zu bestimmen.
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Diese Aussage ist aber im Zusammenhang mit den vorangegangenen Ausführungen der Zeugin nicht dahingehend zu verstehen, dass der Beklagte den Kläger etwa durch die Luft auf das Pflaster geschleudert habe. Denn der Kläger soll, nachdem der Beklagte ihn losgelassen hatte, noch einige Schritte geradeaus gemacht haben und getorkelt sein; es habe ausgesehen, als ob er überhaupt keine Kontrolle mehr über seinen Körper gehabt habe. Diese Passage der Aussage steht im Widerspruch zur polizeilichen Aussage des Zeugen R., der Beklagte habe den Kläger „in hohem Bogen“ hinausgeworfen. Die Feststellung, dass der Beklagte den Kläger gestoßen oder gar geworfen hat, trägt die Aussage der Zeugin D. jedoch nicht. Sie deutet vielmehr darauf hin, dass der Kläger infolge des Kontrollverlustes über seine Beine, den er durch die seine schwere Trunkenheit und Cannabiskonsum herbeigeführt hatte, auf das Straßenpflaster gestürzt ist.
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b) Einer Wiederholung der Beweisaufnahme bedurfte es nicht. Der Beklagte haftet nicht aus § 823 Abs. 1 BGB dafür, dass der Kläger vor dem Lokal gestürzt ist. Denn das Hinausbefördern des Klägers war gemäß § 227 BGB gerechtfertigt. Dies gilt unabhängig davon, ob ein Angriff des Klägers auf die körperliche Unversehrtheit des Zeugen H. oder des Beklagen noch fortdauerte. Denn der Beklagte war daneben gemäß § 227 BGB zur zwangsweisen Verteidigung seines Hausrechts berechtigt.
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Der Kläger hat neben der körperlichen Unversehrtheit des Zeugen H. auch das Hausrecht des Beklagten verletzt. Er hielt sich unbefugt in der Gaststätte auf, als der Beklagte ihn zwangsweise hinausbrachte. Zwar hatte der Kläger sich zunächst mit dem Einverständnis des Beklagten in das Lokal begeben. Der Beklagte forderte ihn aber konkludent im Sinne des § 123 Abs. 1, 2. Alt. StGB zum Verlassen des Lokals auf, indem er sich nach dem Angriff auf Herrn H. einschaltete. Angesichts der Ankündigung eines Lokalverbots anlässlich der vorausgegangenen Rempeleien musste auch der Kläger das Verhalten des Beklagten als Aufforderung zum Verschwinden verstehen, die ihn zum sofortigen Verlassen des Lokals verpflichtete. Dieser Verpflichtung ist der Kläger nicht freiwillig nachgekommen, so dass der Beklagte ihn zwangsweise hinausbefördern durfte.
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Ausgehend von der Annahme, der Beklagte habe den Kläger entsprechend den Feststellungen des Landgerichts mit einer – angesichts der Alkoholisierung des Klägers möglicherweise unvorsichtigen – Schleuderbewegung durch die Tür aus dem „Schwitzkasten“ entlassen, wäre auch dieses Verhalten, das die Zeugin D. als „Rauswurf im wahrsten Sinne des Wortes“ charakterisiert hat, als Verteidigung des Hausrechts gemäß § 227 BGB gerechtfertigt. Insbesondere war das Notwehrrecht des Beklagten nicht durch eine besondere Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf die starke Alkoholisierung des Klägers dahingehend eingeschränkt, dass etwa sein Verbleib in der Gaststätte bis zum Eintreffen fremder Hilfe zu dulden gewesen wäre.
29
Eine Rechtspflicht der Gastwirte, zur Entfernung betrunkener Gäste die Polizei oder das rote Kreuz herbeizurufen, besteht grundsätzlich nicht (OLG München NJW 1966, 1165 (1166)). Eine solche Einschränkung des Notwehrrechts kommt gegenüber einem schuldlos oder im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit handelnden Angreifer ausnahmsweise dann in Betracht, wenn mit der Notwehrhandlung erhebliche Gefahren für Leib oder Leben des Angreifers verbunden sind, die der Verteidiger ohne nennenswertes eigenes Risiko anderweitig abwenden kann (vgl. Staudinger-Repgen BGB § 227 Rn. 56, MüKo-StGB § 32 Rn. 185 f.). Dies trifft vorliegend nicht zu. Das auf Seiten des Verteidigers einzugehende Risiko ist vielmehr als so erheblich einzustufen, dass es nicht hinzunehmen ist. Denn von dem Kläger drohte aus Sicht des Beklagten nicht nur die weitere Verletzung des Hausrechts. Angesichts des Angriffs auf den Zeugen H. musste der Beklagte vielmehr mit weiteren Körperverletzungshandlungen rechnen. Zur Hinnahme von Körperverletzungen war er nicht verpflichtet (vgl. MüKo-StGB § 32 Rn. 186). Er war vielmehr gegenüber seinen Gästen dafür verantwortlich, es nicht mehr zu Angriffssituationen kommen zu lassen (vgl. BGH NJW 1978, 2028 (2029)).
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2. Die Berufung des Klägers ist in der Sache nicht begründet.
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a) Seine Rüge, das Landgericht hätte die Feststellungen zur Intensität des Angriffs auf den Zeugen H. ohne eine Vernehmung dieses Zeugen nicht treffen dürfen, greift im Ergebnis nicht durch.
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Dem Kläger ist zwar darin zuzustimmen, dass das Unterbleiben der Vernehmung des Zeugen H. scheinbar verfahrensfehlerhaft war. Das Urteil beruht aber darauf nicht zum Nachteil des Klägers. Denn diejenigen Tatsachen, zu deren Beweis der Zeuge vom Beklagten benannt worden ist, sind unstreitig und daher nicht beweisbedürftig.
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Der Zeuge, der während der Entfernung des Klägers aus dem Gastraum verletzt am Boden lag, ist lediglich zu dem Angriff auf den Zeugen selbst und die dadurch verursachten Verletzungen, nicht aber zu dem entscheidungserheblichen Geschehen im Bereich der Eingangstür benannt. Lediglich ergänzend ist anzumerken, dass der Zeuge bereits im Strafverfahren bekundet hat, dass er zu den Modalitäten des Rauswurfs nichts sagen könne.
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b) Die Berufungsbegründung des Klägers enthält auch keine durchgreifende Rüge unrichtiger Rechtsanwendung gemäß § 546 ZPO. Insbesondere ist es nicht entscheidungserheblich, ob der Kläger infolge Alkohol- und Cannabiskonsums schuldunfähig war. Denn die Frage, ob eine Mithaftung des Klägers gemäß § 827 S. 2 BGB ausgeschlossen sei, stellt sich vorliegend deshalb nicht, weil der Beklagte dem Kläger bereits dem Grunde nach nicht haftet.
III.
35
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 97 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10 ZPO.
IV.
36
Die Revision war nicht zuzulassen. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Zulassung, § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und 2 ZPO.