BGH, Urteil vom 11.07.2003 – V ZR 199/02
Wird ein einheitlich (hier: mit einer Burganlage) bebautes Grundstück so geteilt, daß auf jedem der beiden neu entstandenen Grundstücke ein Gebäude steht, kann der Erwerber des einen Grundstücks nach den Grundsätzen des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses verpflichtet sein, bauliche Änderungen an seinem Gebäude in einer die Belange des anderen (teilenden) Grundstückseigentümers möglichst wenig beeinträchtigenden Weise zu verwirklichen.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 14. Mai 2002 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke, auf denen sich jeweils unmittelbar aneinander grenzende Gebäude der als „geschütztes Kulturdenkmal“ ausgewiesenen Burg A. in B. H. befinden. Ursprünglich waren die Kläger Eigentümer der gesamten Anlage. Im Jahr 1995 wurde das Grundstück auf Veranlassung der Kläger geteilt. Im darauf folgenden Jahr übertrugen sie eines der neu entstandenen Flurstücke auf ihre Tochter und ihren Schwiegersohn, die dieses mit notariell beurkundetem Vertrag vom 4. März 1998 an die Beklagten verkauften. Die Kläger bewohnen auf ihrem Grundstück weiterhin das Haupthaus der Burganlage, die Beklagten einen auf ihrem Grundstück stehenden niedrigeren Anbau.
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Die Beklagten beabsichtigen, auf dem Dach ihres Gebäudes direkt vor der angrenzenden Wand des Hauses der Kläger einen Wintergarten zu errichten. Die dafür erforderliche Brandmauer würde zwei Fenster des Hauses der Kläger verschließen. Die Baubehörde hat das Vorhaben der Beklagten genehmigt; der von den Klägern dagegen eingelegte Widerspruch ist zurückgewiesen worden. Das von ihnen angestrengte Verwaltungsgerichtsverfahren ist noch nicht abgeschlossen.
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Die Kläger verlangen von den Beklagten die Unterlassung der geplanten Baumaßnahme. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kläger ist erfolglos geblieben. Mit der Revision, deren Zurückweisung die Beklagten beantragen, verfolgen sie ihren Unterlassungsanspruch weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist zugunsten der Kläger kein Lichtrecht gemäß § 34 Abs. 2 NRG Rheinland-Pfalz entstanden, weil die Beklagten nicht schriftlich in den Einbau der Fenster eingewilligt haben; nur wenn sie die Einwilligung erteilt hätten, wäre es ihnen verwehrt, den Fenstern das Licht zu nehmen. Im Zeitpunkt des Fenstereinbaus habe erkennbar kein Fall des § 34 NRG Rheinland-Pfalz vorgelegen, da das Grundstück damals ungeteilt und somit eine Grenze nicht existent gewesen sei. Auch durch die Grundstücksteilung sei keine konkludente Einräumung eines Fensterrechts erfolgt und damit im Gegenzug kein Lichtrecht entstanden; eine entsprechende schuldrechtliche „Fensterabrede“ sei nicht erkennbar.
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Den Klägern stehe auch kein Anspruch aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis zu. Innerhalb der Grenzen seines Grundstücks dürfe jedermann grundsätzlich mit seinem Eigentum nach Belieben verfahren. Die gegenseitigen Rechte und Pflichten benachbarter Grundstückseigentümer folgten aus den gesetzlichen Bestimmungen des Nachbarrechts; sie hätten dort eine ins einzelne gehende Sonderregelung erfahren. § 242 BGB habe demgegenüber für das nachbarliche Zusammenleben hauptsächlich einschränkende und ausgleichende Bedeutung. Seine Anwendung beschränke sich auf krasse Ausnahmefälle. Für einen derartigen – über die landesgesetzliche Regelung des § 34 NRG Rheinland-Pfalz hinausgehenden – zwingenden billigen Ausgleich der widerstreitenden Interessen fehle es an hinreichenden Anhaltspunkten.
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Das hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht in allen Punkten stand.
II.
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1. Zutreffend nimmt das Berufungsgericht allerdings an, daß den Klägern kein Lichtrecht nach § 34 Abs. 2 NRG Rheinland-Pfalz zusteht, kraft dessen die Beklagten verpflichtet sind, mit der beabsichtigten Errichtung des Wintergartens einen Abstand von 2 m von den Fenstern in dem Gebäude der Kläger einzuhalten. Es fehlt an der nach § 34 Abs. 1, Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 NRG Rheinland-Pfalz erforderlichen schriftlichen Einwilligung der Beklagten in den Einbau der Fenster. Entgegen der Ansicht der Revision macht die von den Klägern veranlaßte Grundstücksteilung diese Einwilligung nicht entbehrlich. Es liegt auf der Hand, daß für den Einbau der Fenster, der spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgte, keine Einwilligung im Sinne des § 34 Abs. 1 NRG Rheinland-Pfalz erforderlich war. Im Zeitpunkt der Grundstücksteilung im Jahr 1995 konnte die Einwilligung ebensowenig erteilt werden wie bei den späteren Veräußerungen des nunmehr den Beklagten gehörenden Grundstücks, weil da die Fenster bereits vorhanden waren, die Einwilligung jedoch vor dem Anbringen von Fenstern erteilt werden muß. Das ergibt sich bereits aus der Legaldefinition des Begriffs „Einwilligung“ in § 183 BGB als vorherige Zustimmung; außerdem gestattet § 34 Abs. 1 NRG Rheinland-Pfalz das Anbringen von Fenstern unter dort näher beschriebenen Voraussetzungen nur dann, wenn der Nachbar seine Einwilligung erteilt hat. Ist somit hier die Einwilligung eines Nachbarn nicht möglich gewesen, konnte für die Kläger kein Lichtrecht nach § 34 Abs. 2 S. 1 NRG Rheinland-Pfalz entstehen.
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Für die Kläger ist auch kein Lichtrecht nach § 36 NRG Rheinland-Pfalz entstanden. Nach dieser Vorschrift ist der Anspruch auf Beseitigung eines Fensters, das einen geringeren als den in § 34 Abs. 1 NRG Rheinland-Pfalz vorgeschriebenen Abstand einhält, ausgeschlossen, wenn der Nachbar nicht innerhalb von zwei Jahren nach dem Anbringen des Fensters Klage auf Beseitigung erhoben hat. Das begründet lediglich eine Duldungspflicht des Nachbarn.
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2. Zu Recht versagt das Berufungsgericht den Klägern auch einen Unterlassungsanspruch nach §§ 906 Abs. 1, 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB.
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a) Eine unmittelbare Anwendung dieser Bestimmungen scheidet aus.
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aa) Die Errichtung des Wintergartens an der vorgesehenen Stelle hätte für die Kläger zwar negative Folgen. Zum einen würde dem Raum, in welchem sich die durch die Brandmauer verschlossenen Fenster befinden, das Licht teilweise entzogen; zum anderen wäre den Klägern der Ausblick aus den Fenstern versperrt. Aber solche negativen Einwirkungen sind keine Einwirkungen im Sinne des § 906 Abs. 1 BGB; hierunter sind nur positiv die Grundstücksgrenze überschreitende, sinnlich wahrnehmbare Wirkungen zu verstehen (Senat, BGHZ 88, 344, 345 f.; 113, 384, 386; Urt. v. 12. Juni 1992, V ZR 106/91, WM 1992, 1669, 1671).
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bb) Ebenfalls nicht als Eigentumsbeeinträchtigung abwehrbar sind ideelle Einwirkungen, die durch Handlungen auf dem eigenen Grundstück hervorgerufen werden, welche das ästhetische Empfinden des Nachbarn verletzen und/oder den Verkehrswert des Nachbargrundstücks mindern (Senat, BGHZ 51, 396, 398 f.; 54, 60 f.; 95, 307, 310). Deshalb können die Kläger auch unter dem Gesichtspunkt einer ästhetischen Beeinträchtigung des Gesamtbilds der Burganlage die Unterlassung der Errichtung des Wintergartens nicht verlangen.
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b) Eine analoge Anwendung der §§ 906, 1004 BGB auf den vorliegenden Sachverhalt scheidet ebenfalls aus. Das Gesetz enthält hinsichtlich der sog. negativen Einwirkungen keine Lücke, sondern beläßt es insoweit bewußt bei der Freiheit des Grundstückseigentümers, seine Sache im Rahmen der Gesetze nach Belieben zu benutzen (§ 903 BGB), solange er die Grenzen zu dem Nachbargrundstück nicht durch das Zuführen unwägbarer Stoffe überschreitet (Senat, BGHZ 88, 344, 348). Daran ändert nichts die von der Revision hervorgehobene Wertminderung, welches das Grundstück der Kläger durch die Errichtung des Wintergartens erleiden würde. Dieser Gedanke der Beeinträchtigung spielt hier keine Rolle. Für die ideellen Einwirkungen gilt nichts anderes.
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3. Entgegen der Auffassung der Revision haben die Kläger keinen Unterlassungsanspruch nach § 907 Abs. 1 Satz 1 BGB. Nach dieser Vorschrift kann ein Grundstückseigentümer nur die Errichtung solcher Anlagen verhindern, die in sinnlich wahrnehmbarer Weise über die Grundstücksgrenze auf das Nachbargrundstück unmittelbar positiv einwirken können; dagegen müssen Anlagen, die sich auf der Grundfläche des Grundstücks, auf dem sie errichtet werden sollen, halten und nicht unmittelbar und positiv in das Gebiet des Nachbargrundstücks hinübergreifen, sondern dieses nur negativ beeinträchtigen, geduldet werden (vgl. Senat, BGHZ 113, 384, 386). Dabei kommt es auch hier nicht darauf an, ob und in welchem Maß die negativen Einwirkungen zu einer Wertminderung des Nachbargrundstücks führen. Den Entzug von Licht und das Versperren der Aussicht durch das Zumauern der Fenster können die Kläger daher auch nach dieser Norm nicht verhindern. Soweit sie sich auf unzulässige Einwirkungen im Sinne der Vorschrift berufen, haben sie nicht ausreichend dargelegt, daß der Wintergarten eine Anlage ist, von der mit Sicherheit vorauszusehen ist, daß ihr Bestand oder ihre Benutzung eine unzulässige Einwirkung auf das Grundstück der Kläger zur Folge hätte. Ihre in der Klageschrift aufgestellte Behauptung, die von den Beklagten geplante Errichtung der Grenzwand könne zu erheblichen Schäden an der Giebelwand des Gebäudes der Kläger infolge des Eintritts von Feuchtigkeit führen, haben die Kläger in der Berufungsinstanz nicht wiederholt. Statt dessen haben sie dort behauptet, daß die beabsichtigte Bauausführung zu einer Substanzverletzung des Gebäudes der Kläger infolge bauphysikalischer und bautechnischer Nachteile führen könne, weil ernsthafte Bedenken bezüglich der Brandsicherheit und Funktion der Brandwand bestünden. Darauf kommt es indes nicht an. Eine unzulässige Einwirkung im Sinne des § 907 Abs. 1 Satz 1 BGB ist nur dann mit Sicherheit zu erwarten, wenn sie die Folge des normalen Zustands und ordnungsmäßiger Benutzung der Anlage ist (Senat, BGHZ 51, 396, 399). Auf die Folgen eines eventuellen Brandfalls können sich die Kläger somit nicht mit Erfolg berufen.
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4. Fehlerhaft verneint das Berufungsgericht jedoch einen Unterlassungsanspruch der Kläger nach den Grundsätzen des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses.
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a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (s. nur Urt. v. 31. Januar 2003, V ZR 143/02, NJW 2003, 1392 m. umfangr. Nachw.) haben die Rechte und Pflichten von Grundstücksnachbarn insbesondere durch die Vorschriften der §§ 905 ff. BGB und die Bestimmungen der Nachbarrechtsgesetze der Länder eine ins Einzelne gehende Sonderregelung erfahren. Auch auf sie ist allerdings der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) anzuwenden; daraus folgt für die Nachbarn eine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme, deren Auswirkungen auf den konkreten Fall man unter dem Begriff des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses zusammenfaßt. Eine solche Pflicht ist zwar mit Rücksicht auf die nachbarrechtlichen Sonderregelungen eine Ausnahme und kann nur dann zur Anwendung kommen, wenn ein über die gesetzliche Regelung hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen dringend geboten erscheint. Wenn diese Voraussetzungen vorliegen, kann die Ausübung gewisser aus dem Eigentum fließender Rechte aber ganz oder teilweise unzulässig werden (Senat, BGHZ 113, 384, 389; 148, 261, 268).
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b) So kann es auch hier sein. Die Grundstücke der Parteien sind 1995 im Wege der Parzellierung aus einem einheitlichen Gesamtgrundstück hervorgegangen. Die beiden Fenster in dem von den Klägern bewohnten Gebäude waren bereits vorher vorhanden, nämlich seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Bei der Grundstücksteilung bestand für die Kläger kein Anlaß, dafür Sorge zu tragen, daß diese Fenster nicht zugebaut werden, weil die Kläger Eigentümer der beiden neu gebildeten Grundstücke waren. Auch bei dem Verkauf des einen Grundstücks an ihre Tochter und ihren Schwiegersohn stellte sich den Klägern im Hinblick auf die Fenster die Frage der Absicherung des vorhandenen Zustands durch eine schuldrechtliche Abrede mit den Käufern oder durch das Verlangen nach der Bestellung einer Dienstbarkeit nicht. Denn angesichts des Umstands, daß es sich bei den Gebäuden um eine als „geschütztes Kulturdenkmal“ ausgewiesene Burganlage handelt, brauchten sie nicht damit zu rechnen, daß die Käufer oder etwaige Rechtsnachfolger auf ihrem Grundstück bauliche Veränderungen vornehmen würden, die ein Zumauern von zwei Fenstern zur Folge haben. Umgekehrt konnten die Erwerber nicht damit rechnen, daß ihnen solche Veränderungen genehmigt werden würden.
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c) Die beabsichtigte Errichtung des Wintergartens entsprechend der bisherigen Bauplanung hätte nach der Behauptung der Kläger im Berufungsrechtszug eine Wertminderung ihres Grundstücks zwischen 46.000 € und 61.000 € zur Folge. Wäre es, wie die Kläger weiter behaupten, den Beklagten mit wirtschaftlich zumutbaren Maßnahmen möglich, den Wintergarten entsprechend einer von den Klägern vorgelegten Alternativplanung so zu errichten, daß die Interessen beider Parteien ausreichend gewahrt würden, könnten die Kläger von den Beklagten nach § 242 BGB diese Rücksichtnahme verlangen. Auch wenn es keinen allgemeinen Rechtssatz gibt, daß ein Grundstückseigentümer beim Bestehen verschiedener gleichwertiger Möglichkeiten für die Nutzung seines Grundstücks stets diejenige wählen muß, die seinen Nachbarn nicht schädigt, so ist doch nach den Umständen des Einzelfalls zu entscheiden, ob eine Einschränkung des an sich bestehenden Rechts des Eigentümers, sein Grundstück nach seinem Ermessen auszunutzen, ausnahmsweise mit Rücksicht auf die sonst den Nachbarn treffenden ungewöhnlich schweren Nachteile bejaht werden muß (Senat, Urt. v. 10. April 1953, V ZR 115/51, LM BGB § 903 Nr. 2). Daran ändert nichts der Umstand, daß die Kläger im Zusammenhang mit der Grundstücksteilung eine Vereinigungsbaulast bestellt haben, so daß die Bauwerke nach dem Bauplanungsrecht keinen Abstand von der Grundstücksgrenze einhalten müssen. Diese Baulast war nämlich wegen der vorhandenen Bebauung Voraussetzung für die Zulässigkeit der Teilung des Grundstücks; sie stand nach den Vorstellungen der Kläger jedoch nicht im Zusammenhang mit einer künftigen Grenzbebauung.
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d) Das Berufungsgericht hat bisher die von den Klägern behauptete Möglichkeit einer den Beklagten zumutbaren und die Kläger begünstigenden Alternativplanung nicht berücksichtigt. Das wird es nachzuholen haben. Erst wenn sich ergeben sollte, daß sie in zumutbarer Weise nicht zu verwirklichen ist, eine die Nachteile für die Kläger vermeidende oder mildernde Rücksichtnahme der Beklagten bei der Ausübung ihrer Eigentümerbefugnisse also nicht möglich ist, kann ihnen der geplante Bau des Wintergartens nicht mehr verwehrt werden, zumal dem Raum, in welchem sich die beiden Fenster befinden, durch die Maßnahme nicht das gesamte Licht entzogen wird; denn er besitzt noch zwei weitere Fenster, die einen ausreichenden Lichteinfall gewährleisten.
III.
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Nach alledem ist das Berufungsurteil aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), damit es die erforderlichen Feststellungen treffen kann.