Zum anwendbaren Recht bei Unfall im Ausland

OLG München, Urteil vom 30.04.2010 – 10 U 3822/09

Für die Beurteilung der Schuldfrage bei einem Verkehrsunfall im Ausland sind die am Unfallort geltenden Verkehrsvorschriften maßgebend, auch wenn die Unfallbeteiligten deutsche Staatsangehörige sind und sich die Haftungsfolgen nach deutschem Recht, also deutschem Prozessrecht und deutschem Schadensersatzrecht, richten (Rn.4).

Ist die Anwendung ausländischen (hier: österreichischen) Rechts erforderlich, kann sich das erkennende Gericht gemäß § 293 S. 2 ZPO aller Erkenntnisquellen bedienen. Das insoweit eingeräumte Ermessen ist aber insofern gebunden, als es Aspekte der Verfahrensbeschleunigung und Kostenminimierung angemessen zu berücksichtigen hat. Unter diesem Gesichtspunkt hat das Gericht zu prüfen, ob es sich nicht die erforderlichen Kenntnisse durch Heranziehung von Rechtsinformationssystemen im Internet, hilfsweise der Einholung einer amtlichen Auskunft des betreffenden Landesgemäß dem Europäischen Abkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht (Bundesgesetzblatt 1974 II 938) verschafft. Erst wenn diese Möglichkeiten aus nachvollziehbar dargestellten Gründen ausscheiden, wird ein Rechtsgutachten eines Instituts für ausländisches Recht zu erholen sein (Rn.9).

Nach ständiger Rechtsprechung begründet das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers dann kein Verschulden, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (Rn.11).

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers vom 20.07.2009 wird das Endurteil des LG München I vom 12.05.2009 (Az. 17 O 19103/06) samt dem ihm zugrundeliegenden Verfahren aufgehoben, soweit es die erholten Gutachten betrifft und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG München I zurückverwiesen.

2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem LG München I vorbehalten. Gerichtsgebühren für die Berufungsinstanz werden nicht erhoben.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

A.

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Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).

Entscheidungsgründe

B.

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Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg.

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I. Das Landgericht hat nach derzeitigem Verfahrensstand zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz verneint.

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1. Das Erstgericht hat fehlerhaft die deutschen Verkehrsregeln angewandt. Für die Beurteilung der Schuldfrage bei einem Verkehrsunfall im Ausland sind jedoch die am Unfallort geltenden Verkehrsvorschriften maßgebend, auch wenn die Unfallbeteiligten deutsche Staatsangehörige sind und sich – wie hier – die Haftungsfolgen nach deutschem Recht, also deutschem Prozessrecht und deutschem Schadensersatzrecht, richten (vgl. BGH NJW-RR 1996, 732). Nur in diesem Sinne ist auch der Hinweis in Ziff. I 1 der Gründe des Vergleichsvorschlags vom 13.10.2009 zu verstehen, wie die Verweisung auf die zitierte BGH-Entscheidung zeigt.

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2. Hinsichtlich der erholten Sachverständigengutachten hat der Kläger bereits in erster Instanz zu Recht gerügt, dass eine der streitentscheidenden Fragen, ob die Beklagte zu 2) im Kollisionszeitpunkt über die Mittellinie geschleudert ist, bislang nicht ordnungsgemäß aufgeklärt wurde. Die Sachverständigen B. und M. durften sich hinsichtlich der baulichen Maße der Straße nicht auf die Angaben der Polizei (PI Vils) verlassen (vgl. S. 3 des Ergänzungsgutachtens vom 28.01.2009, Bl. 125/139 d.A.), sondern mussten die Straße einschließlich der genauen Lage der Verkehrsmarkierungen durch einen amtlichen Lageplan oder durch Vermessungen vor Ort verifizieren.

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3. Hinsichtlich der Höhe des klägerischen Anspruchs wird Bezug genommen auf Ziff. 3 des Beschlusses vom 13.10.2009 (Bl. 197/200 d.A.).

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4. Der Senat hat nach eingehender Prüfung davon abgesehen, die Sache selbst zu entscheiden und von der Möglichkeit der Aufhebung und Zurückverweisung nach entsprechendem Antrag der Klageseite gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO Gebrauch gemacht. Leitend für die Entscheidung des Senats waren folgende Überlegungen: Eine schnellere Erledigung des Rechtsstreits durch den Senat ist angesichts der gegenwärtigen Geschäftsbelastung des Senats (der Senat ist seit 2 Jahren, was die Eingänge angeht, mit der stärkst belastete Senat des Oberlandesgerichts München) nicht zu erwarten. Darüber hinaus wäre die hier notwendige vollständige Neudurchführung der rechtlichen Prüfung und die danach anschließende ergänzende Gutachtenerholung, welche selbstredend umfangreich ist, mit der Funktion des Oberlandesgerichts als in erster Linie zur Rechtsprüfung zuständiges Gericht, nicht vereinbar.

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5. Für das weitere Verfahren wird auf Folgendes hingewiesen:

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a) Das Landgericht wird zunächst das anzuwendende österreichische Straßenverkehrsrecht zu klären haben. Hierzu kann es sich gemäß § 293 S. 2 ZPO aller Erkenntnisquellen bedienen. Das insoweit dem Landgericht eingeräumte Ermessen ist aber insofern gebunden, als es Aspekte der Verfahrensbeschleunigung und Kostenminimierung angemessen zu berücksichtigen hat. Unter diesem Gesichtspunkt wird das Landgericht zu prüfen haben, ob es sich nicht die erforderlichen Kenntnisse durch Heranziehung des „Rechtsinformationssystem der Republik Österreich“, hilfsweise der Erholung einer amtlichen Auskunft der Republik Österreich gemäß dem Europäischen Abkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht (Bundesgesetzblatt 1974 II 938) verschafft. Erst wenn diese Möglichkeiten aus nachvollziehbar dargestellten Gründen ausscheiden, wird ein Rechtsgutachten eines Instituts für ausländisches Recht zu erholen sein.

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b) Nach dem Wortlaut des § 538 II 1 Nr. 1 ZPO ist das erstinstanzliche Verfahren aufzuheben, soweit es durch den Mangel betroffen wird. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, lediglich den von dem Verstoß betroffenen Verfahrensvorgang zu beseitigen, wobei die Aufhebung auf mangelbehaftete, eindeutig abtrennbare Verfahrensteile beschränkt werden kann (OLG Saarbrücken NJW-RR 1999, 719 [720]; Senat, Urt. v. 09.10.2009 – 10 U 2309/09; Eichele/Hirtz/Oberheim, Berufung im Zivilprozess, 2. Aufl. 2008, Kap. XVIII Rz. 89; Schumann/Kramer, Die Berufung in Zivilsachen, 7. Aufl. 2008, Rz. 670).

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Das Landgericht hat unter Beachtung des österreichischen Straßenverkehrsrechts die Angaben der beteiligten Fahrer und die Zeugenaussage erneut zu würdigen. Im Anschluss ist ein weiteres unfallanalytisches Gutachten durch einen neu zu bestimmenden Sachverständigen zu erholen, das die oben dargestellten Unterlassungen zu beseitigen hat. Nach genauer Vermessung kann dann unter Beachtung der Fahrzeugmaße und unter Würdigung der vorhandenen Lichtbilder sachgerecht geprüft werden, ob die Beklagte zu 2) die Mittellinie überfahren hat bzw. inwieweit die Kollision für den Kläger vermeidbar war. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nach ständiger Rechtsprechung das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers dann kein Verschulden begründet, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (RGZ 92, 38; BGH LM Nr. 2 zu § 286 [A] ZPO; VRS 5 [1952] 87; 34 [1967] 434 [435]; 35 [1968] 177; VersR 1953, 337; 1958, 165; 1971, 909 [910]; 1976, 734 = DAR 1976, 184 [185] = NJW 1976, 1504 = MDR 1976, 749; VersR 1982, 443; 2009, 234 [unter II 2 a]; KG VersR 1978, 744; 1995, 38; OLG Karlsruhe VersR 1987, 692; OLG Koblenz, Urt. v. 27.10.2003 – 12 U 714/02; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415 [416]; NZV 2007, 614 = NJOZ 2007, 5944 [5950] = DAR 2007, 704; Senat, Beschl. v. 11.08.2006 – 10 U 2990/06 und v. 22.08.2007 – 10 U 3101/07; Urt. v. 18.01.2008 – 10 U 4156/07 [Juris = NJW-Spezial 2008, 201 – red. Leitsatz, Kurzwiedergabe]; Urt. v. 03.07.2009 – 10 U 1711/09 [n.v.]; LG Ravensburg SP 1995, 227). Es kommt in solchen Fällen dann nur eine Haftung aus Betriebsgefahr gem. § 7 I StVG in Betracht (BGH VersR 1976, 734 = DAR 1976, 184 [186] = NJW 1976, 1504 = MDR 1976, 749; OLG Koblenz a.a.O.; Senat, Urt. v. 03.07.2009 – 10 U 1711/09 [n.v.]).

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II. Die Kostenentscheidung war dem Landgericht auch hinsichtlich der Kosten des Berufungsverfahrens vorzubehalten. Von der Erhebung der Gerichtskosten der 2. Instanz wurde gemäß § 21 Abs. 1 GKG abgesehen.

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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

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IV. Die Zulassung der Revision war nicht geboten, da die Voraussetzung des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Der Senat hat einen Einzelfall aufgrund anerkannter Rechtsgrundsätze ohne Abweichung von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung entschieden.

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