Zu den wechselseitigen Sorgfaltspflichten im Bereich einer Fahrbahnverengung und Haftungsverteilung bei Kollision zweier entgegenkommender Fahrzeuge in einer Engstelle

LG Berlin, Urteil vom 05.11.2013 – 42 S 48/13

Zu den wechselseitigen Sorgfaltspflichten im Bereich einer Fahrbahnverengung und Haftungsverteilung bei Kollision zweier entgegenkommender Fahrzeuge in einer Engstelle

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird – unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen – das am 05.02.2013 verkündete Urteil des Amtsgerichts Mitte – Az.: 3 C 3080/12 – abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 1.842,38 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 04.01.2012 zu zahlen. Des Weiteren werden sie als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger zu Händen seiner Rechtsschutzversicherung, der ADAC-Rechtsschutz Versicherung AG, 81364 München, zur Schaden-Nr.: … die vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 229,55 € zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits erster Instanz haben der Kläger zu 31% und die Beklagten als Gesamtschuldner zu 69% zu tragen. Die Kosten des Rechtsstreits zweiter Instanz werden gegeneinander aufgehoben.

Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe
1
I. Von der Darstellung des Sachverhalts wird gemäß §§ 540 Abs. 2, § 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO (§ 26 Nr. 8 EGZPO) abgesehen.

2
II. Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung hat in der Sache in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Nur insoweit stehen dem Kläger Ansprüche gegen die Beklagten aus §§ 7, 17, 18 StVG, §§ 823, 254 BGB i.V.m. § 115 VVG zu.

3
1. Grundsätzlich kommt es für die Haftung gem. §§ 7, 18 StVG gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG auf eine Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der unfallbeteiligten Fahrer unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr an. Hierbei sind nach der ständigen Rechtsprechung neben unstreitigen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen, wobei auch die Regeln des Anscheinsbeweises Berücksichtigung finden (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Auflage, § 17 StVG Rn. 4). Daraus folgt nach allgemeinen Beweisgrundsätzen, dass im Rahmen der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung jeweils der eine die Umstände zu beweisen hat, die dem anderen zum Verschulden gereichen (BGH, Urteil vom 13.02.1996 – VI ZR 126/95NZV 1996, 231). Hiernach kann der Kläger den Ersatz seiner Schäden nur nach einer Quote von ¾ ersetzt verlangen. Im Einzelnen:

4
a) Zu Lasten der Beklagten ist zu berücksichtigen, dass der Beklagte zu 2. gegen die Vorgaben des § 6 Satz 1 StVO verstoßen hat. Nach dieser Vorschrift muss derjenige, der an einer Fahrbahnverengung, einem Hindernis auf der Fahrbahn oder einem haltenden Fahrzeug links vorbeifahren will, entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen. Es ist der Wartepflichtige, der in besonderem Maße zur Vorsicht verpflichtet ist. Dazu gehört, dass er bei der Annäherung an die Engstelle die eigene Geschwindigkeit in ausreichendem Maße herabsetzt und beobachtet, ob nicht Gegenverkehr herannaht (KG, Urteil vom 02.07.2007 – 22 U 198/06ZfS 2008, 12).

5
aa) Diesen Anforderungen ist der Beklagte zu 2. nicht gerecht geworden. Er hat im Rahmen seiner persönlichen Anhörung im Kammertermin erklärt, dass vor ihm ein die Sicht einschränkender Transporter fuhr und er sich, kurz bevor der Transporter den Baustellenbereich verließ, bereits selbst in der Baustelle befand. Ausweislich seines eigenen Vortrags ist er also gleichsam blind hinter dem Transporter hergefahren, in der Annahme, der ggf. herannahende und bevorrechtigte Gegenverkehr werde schon warten.

6
bb) Nach der Darstellung des Klägers ergibt sich ein noch gravierenderer Sorgfaltspflichtverstoß des Beklagten zu 2. Hiernach ist der Beklagte zu 2. nämlich erst nach dem Kläger in die Engstelle eingefahren.

7
Diese Behauptung konnte von den Zeugen aber nicht bestätigt werden. Der Zeuge F. hat das Geschehen vor dem Unfall nicht beobachtet, weil er mit seinem Handy beschäftigt war. Die Zeugin F. hat bekundet, dass der Beklagte zu 2. in dem Zeitpunkt, als sich das klägerische Fahrzeug unmittelbar vor der Baustelle befand, noch nicht in den Baustellenbereich eingefahren war; wie weit entfernt er von dem Beginn des Baustellenbereichs befand, konnte sie nicht mehr sagen. Danach bleibt unbewiesen, dass der Beklagte zu 2. erst nach dem Kläger in die Engstelle eingefahren ist.

8
Nach der Aussage der Zeugin war es aber jedenfalls so, dass der Beklagte zu 2. den unmittelbar vor dem Baustellenbereich befindlichen und bevorrechtigten Kläger sehen konnte, bevor er in die Engstelle einfuhr, weil der Transporter in diesem Zeitpunkt bereits am Klägerfahrzeug vorbeigefahren war, was ebenfalls besonders schwer wiegt. Das Gericht hält diese Angaben aber nicht für wahr.

9
Gemäß § 286 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Eine absolute Gewissheit ist nicht erforderlich, um von der Wahrheit einer Behauptung auszugehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der etwaigen Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH, Urteil vom 11.12.2012 – VI ZR 314/10NJW 2013, 790 Rn. 17). An der Richtigkeit bzw. Zuverlässigkeit der Geschehensdarstellung der Zeugin bestehen aber erhebliche Zweifel. Das hat seinen Grund zunächst darin, dass die Zeugin zahlreiche Erinnerungslücken hatte; sie musste häufig einräumen, sich an bestimmte Aspekte des Geschehens nicht mehr zu erinnern. Auch ihre Einschätzung, dass zwischen dem Stillstand des Klägerfahrzeugs und der Kollision fünf Sekunden vergingen, kann nicht zutreffend sein. Weiter ist zu berücksichtigen, dass der Kläger ausweislich der beigezogenen polizeilichen Akte nach dem Unfall geäußert hat: „Der andere ist hinter einem Transporter gefahren und hat mich nicht durchfahren lassen.“ Dass diese Äußerung gemacht wurde, hat auch der Zeuge R., der an der polizeilichen Aufnahme des Unfalls beteiligt war, bestätigt. Die Äußerung spricht für die Darstellung des Beklagten zu 2., wonach er unmittelbar hinter dem Transporter gefahren ist und sich beide – das Fahrzeug des Beklagten zu 2. und der Transporter – teilweise gleichzeitig in der Engstelle befanden. Schließlich ist es nicht nachvollziehbar, warum der Beklagte zu 2. von Anfang an sehenden Auges auf den Kläger zugefahren sein soll.

10
cc) An einer erheblichen Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten zu 2. bestehen aber – wie oben ausgeführt – schon nach seiner eigenen Darstellung des Geschehens keine Zweifel.

11
b) Allerdings obliegen nicht nur dem Wartepflichtigen Sorgfaltspflichten – auch wenn er in erster Linie die Pflicht zur Prüfung hat, ob ein behinderungsfreies Passieren der Engstelle möglich ist –, sondern auch der Bevorrechtigte hat Sorgfaltspflichten, die sich aus § 1 StVO (Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme) und § 11 StVO ergeben, wonach in besonderen Verkehrslagen der an sich vorrangige Fahrer auf sein Recht verzichten muss (KG a.a.O.).

12
Diese Sorgfaltspflichten hat der Kläger nicht erfüllt. Das Gericht geht aufgrund der obigen Ausführungen davon aus, dass die Darstellung des Beklagten zu 2. zutrifft. Daraus folgt zugleich, dass der Kläger es verabsäumt hat, sich darauf einzustellen, dass hinter dem Transporter ggf. noch weitere Fahrzeuge fahren, die ihm entgegenkommen können. Das führt zu seiner Mithaftung (vgl. Hentschel/König/Dauer a.a.O., § 6 Rn. 4 a.E.).

13
c) Im Hinblick darauf, dass es in erster Linie der Wartepflichtige ist, der die Pflicht zur Prüfung hat, ob ein behinderungsfreies Passieren der Engstelle möglich ist (s.o.), hält die Kammer eine Haftungsverteilung von ¾ zu ¼ zu Lasten des Beklagten zu 2. für angemessen, da sie den größeren Pflichtenverstoß des Beklagten zu 2. deutlich zum Ausdruck bringt (vgl. KG a.a.O.).

14
d) Daher stehen dem Kläger nicht die vom Amtsgericht ausgeurteilten 2.456,50 € Schadensersatz, sondern nur ¾ hiervon, also 1.842,38 € zu.

15
2. Aus §§ 823, 254 BGB ergibt sich nichts anderes.

16
3. Der Kläger kann – bezogen auf einen Gegenstandswert bis zu 2.000 € – Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten wie folgt verlangen:

17 1,3 Geschäftsgebühr gem. Nr. 2300 VV RVG 172,90 €
Kommunikationspauschale gem. Nr. 7002 VV RVG 20 €
19% Umsatzsteuer gem. Nr. 7008 VV RVG 36,65 €
Gesamt 229,55 €

18
Die Anerkennung einer Geschäftsgebühr von über 1,3 ist im vorliegenden – durchschnittlichen – Fall, nicht veranlasst (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 31.10.2006 – VI ZR 261/05NZV 2007, 181).

19
4. Der Zinsbeginn – 04.01.2012 – ist mit der Berufung nicht angegriffen worden.

20
III. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

21
IV. Die Revision war gemäß § 543 Abs. 1, 2 ZPO nicht zuzulassen; die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und erfordert eine Entscheidung des Revisionsgerichts auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.

Dieser Beitrag wurde unter Verkehrsunfallrecht abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.