BGH, Urteil vom 21.03.2000 – VI ZR 158/99
Zu den Anforderungen an die Organisation der Aufsicht in dem Freibad einer Gemeinde.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 17. März 1999 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die beklagte Gemeinde (der Flecken L.; künftig: der Beklagte) betreibt ein Freibad. Die klagende Krankenkasse begehrt von dem Beklagten Ersatz der Kosten, die ihr für die Heilbehandlung des Sohnes ihres Versicherten entstanden sind und künftig entstehen. Das damals 11 Jahre alte Kind trieb am 29. Juli 1995 im Freibad des Beklagten nach Benutzung der Wasserrutsche des Nichtschwimmerbeckens bewußtlos im Wasser, bis es von einem Badegast bemerkt und herausgezogen wurde. Der von einem weiteren Badegast gerufene Schwimmeister konnte es reanimieren. Der Junge wurde mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht. Nach den Feststellungen der Krankenhausärzte hat er sich „nicht mehr als 10 bis 15 Minuten“ unter Wasser befunden.
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Die Klägerin ist mit den Kosten der Heilbehandlung belastet. Sie hat Merk- und Denkstörungen sowie Störungen der Lernfähigkeit als Dauerschaden des Kindes infolge des Unfalls vorgetragen. Die Klägerin ist der Ansicht, der Beklagte habe die ihm bei der Organisation der Badeaufsicht obliegenden Pflichten verletzt. Er sei deshalb zum Ausgleich der auf sie gemäß § 116 SGB X übergegangenen Ansprüche des Geschädigten verpflichtet.
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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht den Beklagten im wesentlichen antragsgemäß zur Zahlung von 53.872,20 DM nebst Zinsen verurteilt und festgestellt, daß der Beklagte verpflichtet sei, der Klägerin sämtliche weiteren materiellen Schäden aus dem Unfall zu ersetzen. Mit der zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Zurückweisung der Berufung der Klägerin.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht hat aufgrund eigener Sachkunde eine Untertauchzeit des Kindes von mindestens vier Minuten, aber auch nicht wesentlich mehr als fünf Minuten angenommen. Es hat eine Verletzung der dem Beklagten obliegenden Verkehrssicherungspflicht durch fehlerhafte Organisation der Aufsicht im Freibad bejaht. Der Beklagte habe dem Schwimmeister einen ungeeigneten Standort im Eingangsbereich des Freibades zugewiesen. Aufgrund der räumlichen Entfernung zur Wasserrutsche von ca. 35 Metern sei es diesem auch unter Berücksichtigung der Anzahl der Badegäste nicht möglich gewesen, Einzelheiten in dem Nichtschwimmerbecken zu erkennen und Gefahrensituationen rechtzeitig zu bemerken. Bei angemessener Kontrolle von einem Standort aus, von dem er das Becken vollständig hätte einsehen können, hätte er den leblos unter Wasser treibenden Körper des Jungen innerhalb von vier Minuten bemerkt und daraufhin in deutlich kürzerer Zeit Rettungsmaßnahmen ergriffen. Damit hätte die kritische Phase einer Unterbindung der Sauerstoffzufuhr in entscheidender Weise verkürzt werden können. Für den Beklagten sei erkennbar gewesen, daß er seiner Verkehrssicherungspflicht nicht hinreichend genügte.
II.
5
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision in einem entscheidenden Punkt nicht stand.
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1. Die Erwägungen des angefochtenen Urteils sind im Ansatzpunkt auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Oberlandesgerichts nicht zu beanstanden. Sollte das Kind vier Minuten oder länger im Wasser des Nichtschwimmerbeckens untergetaucht gewesen sein, weil der zur Aufsicht bestellte Schwimmeister (ohne zusätzliche Maßnahmen) von dem ihm zugewiesenen Standort das Becken nicht habe einsehen können, und sollte dadurch die Schädigung des Kindes entstanden sein, würde die Haftung des Beklagten aus Rechtsgründen keinen Bedenken begegnen.
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Der Beklagte hat, wenn er eine öffentliche Freizeiteinrichtung – wie hier das Freibad – der Allgemeinheit zur Verfügung stellt, die Benutzer vor den Gefahren zu schützen, die über das übliche Risiko bei der Anlagenbenutzung hinausgehen, vom Benutzer nicht vorhersehbar und nicht ohne weiteres erkennbar sind (vgl. Senatsurteil vom 29. Januar 1980 – VI ZR 11/79 – VersR 1980, 863, 864 m.w.N.). Dem Betreiber eines Freibades obliegt neben seiner Verpflichtung zur Erfüllung der von den Besuchern abgeschlossenen Benutzungsverträge auch die deliktische (Garanten-) Pflicht dafür zu sorgen, daß keiner der Besucher beim Badebetrieb durch solche Risiken zu Schaden kommt. Zu diesem Zweck hat er die einzelnen Schwimmbecken darauf überwachen zu lassen, ob dort Gefahrensituationen für die Badegäste auftreten (vgl. Senatsurteil vom 12. Juni 1990 – VI ZR 273/89 – VersR 1990, 989, 990). Die hierfür erforderlichen Maßnahmen hängen – soweit gesetzliche oder andere Vorschriften (vgl. § 2 Abs. 2 der Richtlinien zur Verhütung von Badeunfällen, Abschnitt 42 Badeanstalten, abgedr. bei Bohm, Recht und Verwaltung im Badewesen, 2. Aufl. 1978, S. 529 ff.) keine näheren Anforderungen enthalten – von den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles, wie etwa Größe und Lage des Freibades, Anzahl der Besucher und hierdurch bedingten „Spitzenbelastungen“ (vgl. für den Badebetrieb im Hallenbad Senatsurteil vom 2. Oktober 1979 – VI ZR 106/78 – VersR 1980, 67 f.), Einsatz technischer Hilfsmittel (z.B. Videokameras) und vor allem auch davon ab, innerhalb welcher Zeit aus medizinischer Sicht Maßnahmen getroffen werden müssen, um bleibende Schädigungen zu verhindern. Allerdings kann und muß nicht jeder abstrakten Gefahr durch vorbeugende Maßnahmen begegnet werden, da eine Verkehrssicherheit, die jeden Gefährdungsfall ausschließt, nicht erreichbar ist. Vielmehr bedarf es gerade auch im Hinblick auf die Zeitdauer, innerhalb der ein Eingreifen einer Aufsichtsperson gewährleistet werden muß, stets nur solcher Sicherheitsmaßnahmen, die ein verständiger und umsichtiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren, und die ihm den Umständen nach zumutbar sind (vgl. Senatsurteil vom 12. Juni 1990 aaO). So muß der Betreiber unter anderem der Aufsichtsperson einen geeigneten Standort zuweisen, von dem aus sie das gesamte Freibad überblicken und Sicht in die Schwimmbecken haben kann; erforderlichenfalls muß er die Aufsicht anweisen, den Standort öfter zu wechseln, um das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln verfolgen und nötigenfalls frühzeitig eingreifen zu können. Gegen diese ihm obliegende Pflicht zur Organisation der Aufsicht im Freibad hätte der Beklagte auf der Grundlage der Feststellungen des Berufungsgerichts verstoßen.
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2. Die tatsächliche Feststellung des Berufungsgerichts, daß die Untertauchzeit des Kindes mindestens vier Minuten betragen habe, ist jedoch verfahrensfehlerhaft (§ 286 ZPO) und vermag die Entscheidung nicht zu tragen. Die Revision rügt mit Erfolg, daß das Berufungsgericht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat, ohne diese hinreichend darzulegen (§ 286 ZPO).
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a) Das Berufungsgericht nimmt ausdrücklich eigene Sachkunde in Anspruch und folgert aus der aufgetretenen Zyanose und der Lungenschädigung einerseits sowie der fehlenden Unterkühlung und dem Ausbleiben von gesundheitlichen Schwerstschädigungen andererseits, daß das Kind mindestens vier Minuten untergetaucht war.
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Die Meinung des Berufungsgerichts, es könne aufgrund seiner Erfahrung in anderen, von ihm nicht näher dargelegten Fällen den hier zugrundeliegenden maßgeblichen medizinischen Sachverhalt ohne Hilfe eines Sachverständigen selbst feststellen, auswerten und seine Entscheidung darauf stützen, überschreitet jedoch den Rahmen des dem Tatrichter eingeräumten Ermessens und entbehrt der erforderlichen Darlegung der eigenen Sachkunde. Es ist zwar grundsätzlich dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts überlassen, ob es die eigene Sachkunde für ausreichend erachtet (vgl. Senatsurteil vom 13. Oktober 1970 – VI ZR 34/69 – VersR 1971, 129, 130). Die Würdigung eines nicht einfachen medizinischen Sachverhalts, wie ihn die Folgen eines Badeunfalls darstellen, erfordert aber regelmäßig eine spezielle Sachkunde und wird nicht schon durch die Kenntnis allgemeiner Erfahrungssätze ermöglicht, die sich das Gericht in anderen Verfahren oder aus vorgelegten schriftlichen Gutachten angeeignet haben mag. Sie setzt stets die sachkundige Berücksichtigung der aus medizinischer Sicht maßgeblichen Umstände des konkreten Einzelfalles voraus und übersteigt damit das gemeinhin zuzumutende Laienwissen. Die medizinischen Kenntnisse, die ein Gericht aus anderen von ihm zu entscheidenden Fällen und in diesen möglicherweise erstatteten Gutachten zu gewinnen vermag, sind dagegen notwendig bruchstückhaft, auf den jeweils zur Entscheidung gestellten Einzelfall ausgerichtet und nicht verallgemeinerungsfähig. Sie sind in aller Regel nicht geeignet, die erforderliche Sachkunde des Gerichts in einem anderen Fall zu begründen. Solche Kenntnisse sind erwünscht und in der Regel auch erforderlich, um dem Gericht die Möglichkeit zu verschaffen, in zur Entscheidung anstehenden Rechtsstreitigkeiten erforderliche und zweckdienliche Fragen an Parteien und Sachverständige richten zu können (vgl. § 139 Abs. 1 ZPO). Sie vermögen jedoch wegen der in jedem Einzelfall möglichen Besonderheiten die Entscheidung medizinischer Fragen aus eigenem Wissen nicht zu tragen.
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Das Berufungsgericht legt seine Kenntnisse zudem nicht – wie erforderlich – im Einzelnen dar, sondern verweist lediglich darauf, daß die Lunge des Kindes mit Verdichtungen bis in die Peripherie und erheblichen interstitiellen Strukturveränderungen geschädigt worden sei und daß die Zyanose auf eine Sauerstoffunterversorgung des gesamten Organismus schließen lasse. Es zeigt nicht auf, daß und welche allgemeingültigen medizinischen Erkenntnisse seine Schlußfolgerung auf die Untertauchzeit tragen könnten (vgl. Senatsurteil vom 11. Mai 1993 – VI ZR 243/92 – VersR 1993, 899, 900; BGH, Urteile vom 20. Juli 1999 – X ZR 121/96, NJW-RR 2000, 44, 46; vom 20. Februar 1997 – VII ZR 231/95, NJW-RR 1997, 1108).
12
b) Das angefochtene Urteil beruht auf diesem Verfahrensfehler. Es ist nicht auszuschließen, daß die Befragung eines Sachverständigen eine kürzere Untertauchzeit ergeben hätte, die auch bei ordnungsgemäßer Organisation der Aufsicht nicht mit zumutbarem Aufwand hätte vermieden werden können.