Völlige Ungewissheit über Genesung von Arbeitnehmer und Fehlen anderer Beschäftigungsmöglichkeiten kann Kündigung rechtfertigen

Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 30.11.2010 – 12 Sa 318/09

Bei Fehlen jeglicher anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten sowie der völligen Ungewissheit der Wiederherstellung der Arbeitskraft des erkrankten Arbeitnehmers überwiegen die Interessen der Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch ohne konkret festzustellende erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen gegenüber dem Interesse an seiner Fortsetzung (Rn. 19).

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kassel vom 03. September 2008 – 5/10/2 Ca 132/06 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

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Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten.
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Die Beklagte ist ein Autoreifenhersteller. Der am xxx xxx geborene, verheiratete und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 1.12. 1997 im Werk B der Beklagten in der Abteilung Radialreifen-Vorbereitung als Apexbediener beschäftigt. Er verdiente zuletzt € 2.847,– brutto monatlich. Dem Arbeitsverhältnis liegt der Arbeitsvertrag vom 7.12.1998 zugrunde (Bl. 63 d.A.). Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der westdeutschen Chemischen Industrie in der Fassung vom 16.06.2005 (MTV) Anwendung.

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Der Kläger erkrankte in der Vergangenheit wiederholt wegen eines Rückenleidens. Ab dem 24.02.2005 bis zum 27.06.2006 war er dann fast durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Zwischendurch war er lediglich in der Zeit vom 19.03 – 10.04., 13. – 19.05 und am 6.09.2005 arbeitsfähig. Der Kläger war zunächst mit einem Grad von 20 behindert. Mit Bescheid vom 10.01.2007 stellte das Landesamt für Versorgung rückwirkend zum 27.11.2006 einen Grad der Behinderung von 30 fest.

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Am 6.09.2005 fand eine werksärztliche Untersuchung des Klägers statt. Der Werksarzt Dr. C kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger aufgrund seines Rückenleidens dauerhaft nicht mehr für seine bisherige Tätigkeit als Apexbediener geeignet sei, sondern nur noch Arbeit unter erleichterten Bedingungen verrichten könne. (Bl. 70 d.A.). Am 9.06.2006 fand auf Einladung der Beklagten (Bl. 71 d.A.) ein Gespräch über seine weitere gesundheitliche Entwicklung und die Möglichkeiten zur Wiederaufnahme der Arbeit statt. Daran nahmen neben dem Kläger die Schwerbehindertenvertrauensfrau und gleichzeitiges Betriebsratsmitglied, Frau D, ferner die Leiterin der Personalbetreuung und –entwicklung sowie der Abteilungsleiter des Klägers teil. Der Kläger äußerte sich dahingehend, dass sich an seinem Gesundheitszustand nichts geändert habe, er weiterhin arbeitsunfähig erkrankt sei und seine bisherige Tätigkeit in Zukunft nicht mehr verrichten könne. Eine Operation komme wegen der Schwere seines Leidens nicht in Betracht. Diesem Gespräch waren Gesundheitsgespräche in jedem Jahr seit 2001 vorangegangen.

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Nach dem Ergebnis des Gesprächs hörte die Beklagte mit Schreiben vom 14.06.2006 (Bl. 74, 75 d.A.) den Betriebsrat zu einer beabsichtigten ordentlichen Kündigung aus krankheitsbedingten Gründen an. Der Betriebsrat erhielt die Anhörung am 23.06.2006 und teilte nach einer Betriebsratssitzung am 23.06.2006 am 26.06.2006 der Personalverwaltung mit, dass er die beabsichtigte Kündigung zur Kenntnis genommen habe und keine weitere Stellungnahme abgeben werde (Bl. 73 d.A.). Die Beklagte kündigte darauf mit Schreiben vom 26.06.2006, das dem Kläger am 27.06.2006 zuging, das Arbeitsverhältnis der Parteien aus krankheitsbedingten Gründen ordentlich zum 30.09.2006. Der Kläger hat am 5.07.2006 beim Arbeitsgericht Kassel Kündigungsschutzklage gegen diese Kündigung eingereicht.

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Wegen des weiteren erstinstanzlichen Parteivorbringens und der Anträge der Parteien wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Kassel vom 3.09.2008, Az. 5/10/2 Ca 132/06, Bezug genommen (Bl. 304 – 310 d.A.). Das Arbeitsgericht ist nach Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens (E, Facharzt für Arbeitsmedizin und für Allgemeinmedizin, Bl. 258 – 272 d. A.) zum Ergebnis gelangt, dass die Kündigung wirksam sei und hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass von einer negativen Prognose auszugehen sei, da der Kläger auch künftig dauerhaft nicht mehr auf seinem bisherigen Arbeitsplatz einsetzbar sein wird. Nach den gutachterlichen Feststellungen sei zudem die Möglichkeit einer anderweitigen leidensgerechten Beschäftigung im Betrieb nicht gegeben. Der Kläger sei aufgrund eines chronischen Wirbelerkrankungssyndroms weder als Staplerfahrer noch – auch mit Hebehilfe – an den teilautomatischen Maschinen in der Reifenfabrik 2 einsetzbar. Auch weitere Ersatzarbeitsplätze in der „Kernaufbereitung“, der „Kernaufarbeitung“, an den EST-Maschinen, an einer Aufbaumaschine für Karkassen innerhalb der Reifenfabrik 2, im Materialtransport mit sog. Mulis oder eine Beschäftigungsmöglichkeit bei der F kämen im Ergebnis nicht in Betracht. Letztendlich führe auch das Unterlassen eines betrieblichen Eingliederungsmanagements nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, weil es im konkreten Fall mangels fehlender anderweitiger leidensgerechter Beschäftigungsmöglichkeiten die Kündigung des Klägers nicht hätte verhindern können. Schließlich sei auch der Betriebsrat ordnungsgemäß angehört worden. Für die weiteren Einzelheiten der Urteilsbegründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen (Bl. 311 – 320 d. A).

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Der Kläger hat gegen dieses Urteil, das ihm am 26.01.2009 zugestellt worden ist, am 18.02.2009 Berufung eingelegt und diese – nach rechtzeitig beantragter Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 26.04.2009 – am 23.04. 2009 begründet.

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Der Kläger wiederholt und vertieft seinen Vortrag aus dem ersten Rechtszug. Er ist der Ansicht, dass das Sachverständigengutachten die negative Prognose nicht bestätigen konnte. Schon der Umstand, dass seine Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt sei und dass er mittlerweile als Staplerfahrer und vom 7.04. – 11.07.2008 als Praktikant in einem Baumarkt gearbeitet habe, widerlege die negative Prognose des Gutachtens. Das Gutachten sei überhaupt insgesamt unbrauchbar, weil es ohne die vollständigen Unterlagen des Hausarztes des Klägers erstellt worden sei und der Sachverständige die ihm übersandten Unterlagen mit Anschreiben ohne Datum wieder an den Hausarzt zurückgeschickt habe. So seien womöglich wichtige Informationen bei der Gutachtenerstellung unberücksichtigt geblieben. Außerdem sei es nach der Feststellung des Gutachtens, es gebe keine objektivierbaren Befunde für ein Rückenleiden des Klägers denkbar, dass den Krankschreibungen zum Teil objektiv keine Arbeitsunfähigkeit zugrunde lag, sondern sie auf subjektiven Fehleinschätzungen der behandelnden Ärzte beruhten.

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Zu den Möglichkeiten anderweitiger Beschäftigung behauptet der Kläger, dass der Mitarbeiter G erst nach dem Ausspruch der Kündigung im Jahre 2006 im Bereich Kernaufbereitung eingesetzt worden sei. Er selbst hätte dort dauerhaft eingesetzt werden können. Der Mitarbeiter H aus der „Kernaufbereitung“ sei lang andauernd krank gewesen und im Jahre 2008 in den Vorruhestand ausgeschieden. Statt einen Studenten zur Vertretung zu beschäftigen, hätte die Beklagte ihm die Stelle übertragen können. Auch in der Reifenfabrik 2 bestehe weiterhin eine Beschäftigungsmöglichkeit an der Aufbaumaschine für Karkassen. Dort werde mit leichteren Gewichten von 5-6 kg hantiert und Arbeitsplätze seien bislang nicht abgebaut worden. Auch bei der Fa. F müssten freie Leichtarbeitsplätze zur Verfügung stehen. Er ist der Ansicht, auch die Beschäftigung auf einem nicht wesentlich höherwertigen Arbeitsplatz – wie an den EST-Maschinen – müsse in der Situation des Klägers erwogen werden. Zudem hätte die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements die Kündigung verhindern können. Nach dem Kennenlernen sämtlicher 3000 Arbeitsplätze bei der Beklagten wäre er sicher in der Lage gewesen, substantiierter zu Einsatzmöglichkeiten auf anderen Leichtarbeitsplätzen vorzutragen.

10

Für das weitere Berufungsvorbringen des Klägers wird auf die Berufungsbegründung vom 23.04.2009 sowie die Schriftsätze vom 23.09.2009, 8.10.2010 und vom 3.11.2010 Bezug genommen (Bl. 350 – 357, 415, 438 u. 441 d.A.)

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Der Kläger beantragt,

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unter Aufhebung des Urteils des Arbeitsgerichts Kassel vom 3.09.2008, Az. 5/10/2 Ca 132/06

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 26.06.2006 aufgelöst worden ist;

2. für den Fall des Obsiegens mit dem Antrag 1) die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Maschinenführer weiter zu beschäftigen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Sie behauptet weiterhin, zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung habe es keinen freien leidensgerechten Arbeitsplatz für den Kläger gegeben. In der Kernaufbereitung habe es immer nur einen Arbeitsplatz gegeben, der mit der schwerbehinderten Frau J besetzt gewesen sei. Herr G, langjährig tätig als Wickler in der Konfektion, sei für die Zeitdauer von 18 Monaten bis zum Beginn der Passivphase seiner Altersteilzeit dorthin versetzt worden, weil er aufgrund eines Augenleidens nicht mehr an laufenden Maschinen eingesetzt werden konnte. Für die Dauer von 18 Monaten hätten sich die beiden die Aufgaben am Arbeitsplatz Kernaufbereitung geteilt. Herr H sei zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs nicht arbeitsunfähig erkrankt gewesen, sondern vorher vom 20.03. – 14.04.2006 und dann erst wieder ab 2.10.2006. Die weiteren Tätigkeiten an den EST-Maschinen, als Staplerfahrer, an der Aufbaumaschine Karkassen und bei der Fa. F seien aus denselben Gründen wie seine bisherige Tätigkeit, Gewicht und Torsionsbewegungen des Oberkörpers – für den Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht geeignet. Zudem stünden bei einigen Alternativen zur bisherigen Beschäftigung rechtliche Erwägungen dagegen. So falle die Staplerfahrertätigkeit als Sekundärtätigkeit (Transporttätigkeit) in den Anwendungsbereich der BV vom 24.02.2004, die den Umbau von Sekundärarbeitsplätzen zu Leiharbeit vorsehe. Zur Beschäftigung auf einem höherwertigen Arbeitsplatz (EST-Maschine) sowie bei einem anderen Unternehmen (F) sei sie nicht verpflichtet. Die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements hätte die Kündigung mangels eines leidensgerechten freien Arbeitsplatzes im Unternehmen nicht verhindert.

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Wegen des weiteren Berufungsvorbringens der Beklagten wird auf die Berufungserwiderung vom 19.06.2009 sowie die Schriftsätze vom 4.09.2009, 17.09.2010 und vom 22.10.2010 (Bl. 382 – 394, 409 – 411, 432 – 435 u. 439 – 440 d. A.) Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

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Die Berufung des Klägers ist gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 c ArbGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt und ordnungsgemäß begründet worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 Abs. 1 und 3 ZPO).

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Die Berufung hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Sie ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat mit zutreffenden Erwägungen die Kündigungsschutzklage als unbegründet angesehen. Die von der Beklagten ausgesprochene krankheitsbedingte ordentliche Kündigung vom 26.06.2006 ist weder mangels ihrer sozialen Rechtfertigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG noch wegen eines unterbliebenen Eingliederungsmanagements gemäß § 84 Abs. 2 SGB IX unwirksam und hat deshalb das Arbeitsverhältnis der Parteien unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist des § 11 Abs. 3 MTV zum 30.9.2006 beendet. Das Gericht folgt in vollem Umfang den ausführlichen und überzeugenden Gründen der angefochtenen Entscheidung und macht sie sich zu Eigen. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG auf die Begründung des Arbeitsgerichts Bezug genommen.

19

Eine negative Prognose der Gesundheitsentwicklung des Klägers steht hier aufgrund des unstreitigen Umstands fest, dass der Kläger seine bisherige Tätigkeit an der Apex-Maschine aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen künftig nicht mehr ausüben kann und dass, teils aus rechtlichen Erwägungen, teils aus medizinischen Gründen, ausgeführt im Gutachten des Facharztes für Arbeits- und Allgemeinmedizin E, im Kündigungszeitpunkt kein vertragsgerechter und leidensgerechter freier Arbeitsplatz für den Kläger zur Verfügung stand oder freigemacht werden konnte. So war die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs hinsichtlich der bisher ausgeübten Tätigkeit ausgeschlossen und hinsichtlich anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten auf nicht absehbare Zeit ungewiss. Das führt in der Folge auch zur Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen. Wegen des Fehlens jeglicher anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten erweist sich die Kündigung zudem als verhältnismäßig. Die völlige Ungewissheit der Wiederherstellung der Arbeitskraft des Klägers führt im letzten Prüfungsschritt dazu, dass die Interessen der Beklagten an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch ohne konkret festzustellende erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen gegenüber dem Interesse an seiner Fortsetzung überwiegen (zu allen Voraussetzungen BAG 12.07.2007 – 2 AZR 716/06). Der Betriebsrat ist gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG ordnungsgemäß angehört worden, weil aufgrund der weiteren ihm mitgeteilten persönlichen Daten des Klägers seine Individualisierung trotz des Vertauschens von Vor- und Nachnamen ohne weiteres möglich war.

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Die Berufungsbegründung gibt darüber hinaus Anlass zu folgenden ergänzenden Ausführungen:

21

1. Die gutachterlichen Feststellungen im Gutachten vom 17.07.2008 behalten uneingeschränkt ihren Bestand und ihre Aussagekraft. Die vom Kläger mit der Berufung erhobenen Einwände sind nicht stichhaltig. Der Kläger hat dem Gericht eine Mappe mit den kompletten Krankenunterlagen seines Hausarztes vorgelegt. Aus dieser ergibt sich im Abgleich mit den im Gutachten aufgelisteten Unterlagen, dass dem Gutachter bis auf einen Entlassungsbericht der K (Orthopädische Abteilung) vom 25.05.2005 sämtliche im Besitz des Hausarztes befindlichen Unterlagen vorlagen und im Gutachten berücksichtigt wurden. Das Schreiben des Sachverständigen an den Hausarzt, mit dem er Unterlagen zurückgeschickt hat, ist nach den erkennbaren Umständen so zu verstehen, dass er die Unterlagen kopiert und danach die Originale zurückgeschickt hat. Die Mappe macht ebenfalls deutlich, dass der Hausarzt keine weiteren objektiven Befunde zur Verfügung hatte, die dem Gutachter nicht bekannt geworden sind und vielleicht ein anderes Gesamtbild hätten ergeben können. Der Entlassungsbericht der Klinik K vom 25.05.2005 enthält ebenfalls keine Umstände, die Anlass zu einer anderen medizinischen Bewertung der klägerischen Leiden führen könnte. Er enthält und bestätigt die auch vom Gutachter erörterten Befunde – LWS Syndrom, Schulter-Arm-Syndrom und Belastungsgonalgie linkes Kniegelenk bei Verdacht auf Außenmeniskusläsion – und empfiehlt als Therapie Kraft- und Ausdauertraining für die Rücken- und Bauchmuskulatur, das auch in Eigenregie in den Alltag zu integrieren sei. Die dortigen Ausführungen stützen zudem die negative Prognose, zu der das Gutachten gelangt ist. Der Klinikaufenthalt diente nämlich dem Ziel der Rehabilitation, d.h. der Besserung derselben Leiden, aufgrund derer der Kläger auch bei Ausspruch der Kündigung mehr als ein Jahr später noch arbeitsunfähig erkrankt war. Zur Erreichung der beschriebenen Rehabilitationsziele wurde ein Kraft- und Ausdauertraining durchgeführt und dem Kläger ein gymnastisches Übungsprogramm (stabilisierende Funktionsgymmnastik) vermittelt, das er in Eigenregie in seinen Alltag integrieren sollte. Wie der weitere Verlauf gezeigt hat, hat dieses jedoch offensichtlich keine nachhaltige Wirkung gezeigt. Insgesamt beruhen die gutachterlichen Feststellungen jedenfalls auf der Basis des kompletten Beschwerde- und Krankheitsbildes des Klägers. Das Gutachten ist weder unbrauchbar noch bedarf es aus einem anderen Grund der Einholung eines Obergutachtens. Vielmehr ist mit dem Gutachten, wie das Arbeitsgericht bereits ausgeführt hat, sowohl der Nachweis einer negativen Prognose als auch der Ausschluss bestimmter anderweitiger Tätigkeiten als leidensgerechter Einsatzmöglichkeiten des Klägers zur Vermeidung des Ausspruchs einer Kündigung erbracht.

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2. Eine leidensgerechte Anpassung des Arbeitsplatzes (Ausstattung mit Hebehilfe) kommt aus wirtschaftlichen und medizinischen Gründen nicht in Betracht, ein anderweitiger leidensgerechter Arbeitsplatz, auf dem der Kläger zur Vermeidung weiterer Arbeitsunfähigkeitszeiten hätte beschäftigt werden können, stand aus unterschiedlichen Gründen nicht zur Verfügung. Im Einzelnen:

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– Nach den gutachterlichen Feststellungen hätte auch der Einbau einer Hebehilfe nicht zu einer Reduktion der Fehlzeiten des Klägers an seinem bisherigen Arbeitsplatz geführt; denn an den Torsionsbewegungen des Oberkörpers, die die Wirbelsäule belasten, würde sich dadurch nichts ändern. Zudem kann nach der Einlassung des Klägers, mit einer Hebehilfe würde zuviel Abfall produziert, auch davon ausgegangen werden, dass die leidensgerechte Anpassung des Arbeitsplatzes der Beklagten aus wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar ist.

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– Weiter ist der Kläger aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen weder für die Tätigkeit an den teilautomatischen Maschinen noch der Aufbaumaschine für Karkassen in der Reifenfabrik 2 oder als Staplerfahrer geeignet. Hierzu, insbesondere zu den Belastungen am jeweiligen Arbeitsplatz und ihrer Unverträglichkeit mit dem Beschwerdebild des Klägers hat der Gutachter sich ausführlich und überzeugend geäußert. Den Feststellungen steht nicht entgegen, dass der Kläger nach seinen Angaben – ohne dabei allerdings einen Zeitraum zu nennen – in der Zwischenzeit als Staplerfahrer gearbeitet haben will. Zum einen kommt es für die Beurteilung auf den Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs an. Zum anderen wäre allein mit der Tatsache der Ausübung dieser Tätigkeit nicht der Schluss zu ziehen, dass sie dem Kläger gesundheitlich zuträglich ist. Die vom Kläger überreichten Krankenunterlagen, die bis ins Jahr 2010 reichen, belegen eher, dass in der Zwischenzeit an der Symptomatik im WS-Bereich keine Änderung zum Guten eingetreten ist.

25

– Eine Beschäftigung in der „Kernaufbereitung“ kommt mangels eines freien Arbeitsplatzes nicht in Betracht. Nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Beklagten besteht dort nur ein von der schwerbehinderten Frau J besetzter Dauerarbeitsplatz. Herr G wird dort mangels einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit vorübergehend für 18 Monate, nämlich bis zur Erreichung der Passsivphase seiner Altersteilzeit, eingesetzt. Wegen eines Augenleidens kann er nicht mehr zur Arbeit an laufenden Maschinen und damit auch nicht mehr an seinem langjährigen Arbeitsplatz als Wickler in der Abteilung Konfektion eingesetzt werden. Daher sollte er sich bis zur Beendigung seines aktiven Arbeitseinsatzes die Tätigkeit in der Kernaufbereitung mit Frau J teilen. Ein zweiter Arbeitsplatz wird dort nicht eingerichtet. Selbst wenn hier zwei Arbeitsplätze existierten, wären sie beide besetzt und eine Umsetzung käme aufgrund der Umstände in der Person der Arbeitsplatzinhaber nicht in Betracht; denn beide sind auf einen Leichtarbeitsplatz angewiesen.

26

– Eine Beschäftigung in der „Kernreparatur“ kommt ebenfalls nicht in Betracht. Daran wäre nur zu denken gewesen, wenn der Arbeitsplatzinhaber Herr H zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs bereits arbeitsunfähig gefehlt und die Beklagte gewusst hätte, dass er auf absehbare Zeit nicht wiederkommen bzw. in die Erwerbsunfähigkeit übergehen werde. Das war nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Beklagten jedoch nicht der Fall. Herr H war nämlich nur in der Zeit vom 30.3. – 14.04. und dann erst wieder nach Ausspruch der Kündigung und dem Ablauf der Kündigungsfrist arbeitsunfähig. Ein Arbeitsplatz stand dort also zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs nicht zur Verfügung. Da beide Arbeitsplatzinhaber (neben Herrn Y. noch Herr L) schwerbehindert sind, war auch keine Umsetzung zu erwägen.

27

– Zu einer Beschäftigung an den EST-Maschinen, die tariflich höher eingestuft und vergütet wird als die bisherige Tätigkeit des Klägers, war die Beklagte aus Rechtsgründen nicht verpflichtet. Die Verpflichtung des Arbeitgebers, die Kündigung durch Beschäftigung auf anderen Arbeitsplätzen zu vermeiden, beschränkt sich auf alle gleichwertigen Arbeitsplätze, auf denen der betroffene Arbeitnehmer unter Wahrnehmung des Direktionsrechts einsetzbar wäre (BAG 12.07.2007 – 2 AZR 716/06 Rn. 29). Der Arbeitsplatz an den EST-Maschinen ist wegen der besseren Bezahlung nicht gleich-, sondern höherwertig und könnte deshalb auch nicht in Ausübung des Direktionsrechts zugewiesen werden.

28

– Auf die Beschäftigung bei der F, einem anderen rechtlich selbständigen Unternehmen, hat der Kläger keinen Rechtsanspruch. Die Verpflichtung zur anderweitigen Beschäftigung aus dem Kündigungsschutzgesetz ist auf das Unternehmen des Arbeitgebers beschränkt. Für einen darüber hinausgehenden Anspruch bedarf es zusätzlicher Absprachen und Umstände. Ein weitergehender Beschäftigungsanspruch ergibt sich jedenfalls nicht aus dem Arbeitsvertrag des Klägers. Er konnte auf entsprechenden Hinweis in der mündlichen Verhandlung nicht ergänzend darlegen, woraus ein solcher Anspruch abgeleitet werden könnte.

29

3. Die Kündigung ist auch nicht unwirksam, weil die Beklagte – wie das Arbeitsgericht bereits ausgeführt hat – kein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) nach § 84 Abs. 2 SGB IX durchgeführt hat.

30

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG v. 12.07.2007 – 2 AZR 716706), der die Kammer folgt, besteht das Erfordernis zur Durchführung eines BEM nach § 84 Abs. 2 SGB IX für alle Arbeitnehmer und nicht nur für behinderte Menschen. Seine Durchführung ist allerdings keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung. Ein fehlendes BEM führt nicht per se zur Unwirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung. Die Regelung des § 84 Abs. 2 SGB IX stellt jedoch eine Konkretisierung des dem gesamten Kündigungsschutz innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar. In seinem Rahmen können anderweitige Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten zur Vermeidung einer Kündigung entwickelt werden. Die Unterlassung eines BEM kann daher nur dann zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen, wenn bei seiner Durchführung überhaupt Möglichkeiten einer alternativen (Weiter-)Beschäftigung bestanden haben, die eine Kündigung vermieden hätten. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass ein unterlassenes BEM einer Kündigung dann nicht entgegensteht, wen sie auch durch das BEM nicht hätte verhindert werden können. Letzteres ist der Fall. Die Durchführung eines BEM hätte die ausgesprochene Kündigung nicht vermieden; denn zum Zeitpunkt der Kündigung bestand, wie bereits ausgeführt, keine Möglichkeit, den Kläger leidensgerecht weiter zu beschäftigen. Die Beklagte ist hier auch ihrer gesteigerten Darlegungspflicht hinreichend nachgekommen. Zur weiteren Begründung zu beiden Punkten wird auf die Ausführungen im arbeitsgerichtlichen Urteil Bezug genommen.

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Der Kläger hat gem. §§ 64 Abs.6 ArbGG, 97 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Berufung zu tragen.

32

Ein gesetzlich begründeter Anlass für die Zulassung der Revision gem. § 72 Abs. 2 ArbGG war nicht ersichtlich.

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