BGH, Urteil vom 14.07.1983 – I ZR 128/81
Unter dem dem Vorsatz gleichstehenden Verschulden in CMR Art 29 ist grobe Fahrlässigkeit zu verstehen.
(Leitsatz des Gerichts)
Tatbestand
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Die Klägerin verlangt als Transportversicherer der Firma Y von der Beklagten aus übergegangenem Recht der Firmen Y Eu GmbH in H, und B GmbH & Co. KG in W, weiteren Schadensersatz für den Verlust von Ladegut.
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Die Beklagte sollte im Auftrage der Firma B Fotoartikel der Firma Y als Sammelladungsgut von W nach T befördern. In der Nacht vom 11./12. Juni 1979 hielt der Fahrer Hö, der mit dem Lkw der Beklagten ohne Beifahrer unterwegs war, in der Kabine des Lkw auf der Parkspur der Autobahn bei Br/Italien Nachtruhe. Währenddessen wurden, von ihm unbemerkt, die Planen des Lastzuges aufgeschnitten und Teile des Frachtgutes entwendet. Durch den Diebstahl entstand ein Schaden von 131.076,58 DM, von dem die Versicherung der Beklagten 10.102,04 DM ersetzte.
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Mit der Klage verlangt die Klägerin Ersatz des restlichen von ihr als Transportversicherer ausgeglichenen Schadens von 120.974,54 DM nebst Zinsen und Zinsen aus dem geleisteten Ersatzbetrag. Sie hat die Ansicht vertreten, die Beklagte hafte nach Art. 17, 29 CMR in unbeschränkter Höhe und hat hierzu vorgetragen: Die Beklagte und ihr Fahrer hätten die ihnen in ihrem Wert bekannte Ladung nicht ausreichend gesichert und bewacht und deshalb einen Diebstahl „billigend“ in Kauf genommen, zumindest aber grob fahrlässig verursacht. Es sei ein grober Verstoß gegen ihre Sorgfaltspflichten gewesen, daß die Beklagte einen Planenzug mit nur einem Fahrer benutzt und ihn nicht angewiesen habe, nur einen bewachten Parkplatz anzufahren. Wegen der besonderen Diebstahlsgefahren in Oberitalien hätte über die Schweiz gefahren und dort übernachtet werden müssen. Der Fahrer habe den Diebstahl nicht sofort der Polizei angezeigt und dadurch die Wiedererlangung des Gutes verhindert.
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Die Beklagte hat eigene Pflichtwidrigkeiten und solche ihres Fahrers von sich gewiesen. Sie hat bestritten, den Wert der Ware gekannt zu haben. Der Einsatz eines Planenzuges mit einem Kraftfahrer sei bei der kostengünstigen Beförderung als Sammelladung branchenüblich. Wegen des Gewichts des Lastzuges habe man nur die Route über den Brenner-Paß nehmen können. Der Autobahnrastplatz sei, weil die Strecke stark befahren werde und häufige Polizeistreifen eingesetzt seien, sicherer als bewachte Parkplätze. Ihr Fahrer habe den Diebstahl sofort nach Entdeckung bei der Polizei und dem Zollamt T gemeldet.
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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist, bis auf 353,57 DM als Zinsen auf den geleisteten Ersatzbetrag, erfolglos geblieben. Mit der Revision verfolgt die Klägerin den noch offenen Schadensbetrag weiter. Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
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I. Das Berufungsgericht hat – anders als das Landgericht, das diese Frage offen gelassen hatte – entschieden, daß als Voraussetzung einer über Art. 23 Abs. 3 CMR hinausgehenden unbeschränkten Haftung des CMR-Frachtführers nach Art. 29 CMR die grobe Fahrlässigkeit nicht ausreiche. Als Verschulden im Sinne dieser Bestimmung, das nach dem Recht des angerufenen Gerichts dem Vorsatz gleichstehe, könne nach deutschem Recht nur bedingter Vorsatz, nicht aber grobe Fahrlässigkeit angesehen werden. Vorsätzliches Handeln der Beklagten oder ihres Fahrers habe die Klägerin jedoch selbst nicht behauptet. Den noch vor dem Landgericht erhobenen Vorwurf bedingt vorsätzlichen Handelns habe sie in der Berufungsinstanz nicht aufrechterhalten, nachdem das Landgericht ihn verneint hatte. Im übrigen sei er aber auch nicht begründet. Das Verhalten der Beklagten und ihres Fahrers rechtfertige schließlich aus den bereits vom Landgericht ausgeführten Gründen auch nicht den Vorwurf grober Fahrlässigkeit. Selbst wenn aber dieser Verschuldensgrad angenommen werden müsse, reiche dies für Art. 29 CMR nicht aus.
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II. Diese Ausführungen des Berufungsgerichts sind nicht frei von Rechtsfehlern; die Revision der Klägerin führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits.
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1. Die Vorinstanzen sind zutreffend davon ausgegangen, daß das Rechtsverhältnis der Parteien den Vorschriften der CMR vom 19. Mai 1956 (BGBl 1961 II S. 1119; 1962 II S. 12) unterliegt und die Beklagte danach weiteren Schadensersatz für den Verlust des Gutes gem. Art. 17 Abs. 1 CMR über die Beschränkung des Art. 23 Abs. 3 CMR hinaus nur dann schuldet, wenn die Voraussetzungen des Art. 29 CMR eingreifen.
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2. Nach Art. 29 CMR kann sich der Frachtführer nicht auf Haftungsbeschränkungen berufen, wenn er den Schaden vorsätzlich oder durch ein ihm zur Last fallendes Verschulden verursacht hat, das nach dem Recht des angerufenen Gerichts dem Vorsatz gleichsteht; entsprechendes gilt, wenn der Schaden durch seine Bediensteten oder Verrichtungsgehilfen verursacht worden ist.
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a) Das Berufungsgericht hat im Ergebnis zu Recht eine unbeschränkte Haftung der Beklagten wegen (bedingten) Vorsatzes verneint.
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Zwar ist das Berufungsgericht – wie die Revision zu Recht rügt – unzutreffend davon ausgegangen, die Klägerin habe den Vorwurf des bedingten Vorsatzes in der Berufungsinstanz fallen gelassen. Denn die Klägerin hat diesen in der Klageschrift aufgestellten Vorwurf durch die in ihrer Berufungsbegründung vom 19. Februar 1981 enthaltene Bezugnahme aufrechterhalten. Das Berufungsgericht hat jedoch in Übereinstimmung mit dem Landgericht in seiner Hilfsbegründung die Voraussetzungen des bedingten Vorsatzes rechtsfehlerfrei verneint. Dabei konnte es sich angesichts des nur pauschalen Vorbringens der Klägerin auf die knappe Feststellung beschränken, die Beweisaufnahme habe keine konkreten Anhaltspunkte dafür ergeben, daß die Beklagte oder ihr Fahrer einen Diebstahl billigend in Kauf genommen habe. Die Revision zeigt nicht auf, welchen weiteren Vortrag die Klägerin auf einen entsprechenden Hinweis des Berufungsgerichts vorgebracht hätte.
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b) Entfällt damit eine vorsätzliche Schadensverursachung, so haftet die Beklagte nur dann unbeschränkt, wenn ihr oder ihrem Fahrer ein dem Vorsatz gleichstehendes Verschulden zur Last fällt. Dabei kommt es auf die Streitfrage, ob als ein solches Verschulden der bedingte Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit anzusehen ist, nur dann nicht an, wenn sich vorliegend auch ein grob fahrlässiges Verhalten der Beklagten und ihres Fahrers ausschließen läßt. Dies ist entgegen der Annahme des Berufungsgerichts nicht der Fall.
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Das Berufungsgericht hat insoweit auf das landgerichtliche Urteil Bezug genommen. Das Landgericht hat zur Ablehnung der groben Fahrlässigkeit ausgeführt: Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei nicht festzustellen, daß die Beklagte und ihr Fahrer Hö die verkehrserforderliche Sorgfalt in einem besonders schweren Maße verletzt und nicht beachtet hätten, was jedem einleuchten mußte. Ihr Verhalten sei branchenüblich und keine außergewöhnliche Nachlässigkeit. Trotz der in Oberitalien bestehenden erhöhten Diebstahlsgefahr entspreche es auch bei hochwertigen Waren der Branchenübung, den Sammelladungsverkehr mit Planen-Lkws auszuführen. Eine grobe Fahrlässigkeit liege auch nicht darin, daß die Beklagte ihrem Fahrer keine Instruktionen über die Fahrtroute und die Wahl des Parkplatzes gegeben habe, da dies aus verkehrsbedingten, tatsächlichen Gründen nicht im voraus festgelegt werden könne. Das Gewicht des Lkw habe eine Fahrt durch die Schweiz unter Umgehung des Brenner-Passes nicht zugelassen. Auch die Besetzung des Lastzuges mit nur einem Fahrer sei kein schwerer Sorgfaltsverstoß; sie sei beim Sammelladungsverkehr aus Kostengründen branchenüblich. Selbst wenn nicht alle Maßnahmen ergriffen würden, die eine optimale Sicherung vor Diebstählen gewährleisteten, rechtfertige dies noch nicht den Vorwurf grober Fahrlässigkeit. Schließlich bedeute auch die Rast auf der unbewachten Parkspur keinen groben Verstoß des Fahrers gegen bestehende Sorgfaltspflichten. Er habe das für die Sicherheit des Lastzuges Naheliegende dadurch eingehalten, daß er den ihm bekannten, stark frequentierten und relativ sichersten Parkplatz ausgewählt und den Lkw nicht verlassen habe. Ein bewachter Parkplatz habe nur über einen ungünstigen Umweg aufgesucht werden können. Dem Fahrer sei auch nicht vorzuwerfen, er habe den Diebstahl nach seiner Entdeckung verspätet angezeigt.
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Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
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Die Frage, ob die Beklagte oder ihr Fahrer sich einer groben Fahrlässigkeit schuldig gemacht haben, ist zwar im wesentlichen eine Tatfrage, die einer Nachprüfung in der Revisionsinstanz nur beschränkt unterliegt, und zwar nur insoweit, als Verstöße gegen § 286 ZPO, gegen die Denkgesetze oder Erfahrungssätze vorliegen (BGHZ 10, 14, 16). Die Revision rügt jedoch zu Recht, daß das Berufungsgericht wesentlichen Tatsachenvortrag übergangen habe. Das Landgericht hat eine grobe Fahrlässigkeit vor allem deshalb verneint, weil das Verhalten der Beklagten branchenüblich sei. Diese auf die Angaben der vernommenen Zeugen gestützte Feststellung hatte die Klägerin mit ihrer Berufung angegriffen und Beweis dafür angetreten, daß sowohl was die Organisation des Transportes durch die Beklagte (mangelnde Instruktion an den Fahrer) anbetraf als auch bei der Durchführung des Transportes durch den Fahrer Hö die von den Berufsverbänden insbesondere für Italien-Transporte zum Schutz gegen Diebstähle aufgestellten Verhaltensregeln in grobem Maße außer acht gelassen worden seien und daß es die vom Landgericht angenommene Branchenüblichkeit nicht gebe. Angesichts dieses Tatsachenvortrags der Klägerin in der Berufungsinstanz durfte das Berufungsgericht nicht ohne eigene, auf das Berufungsvorbringen eingehende Begründung (BGH LM ZPO § 543 Nr. 2) auf die Ausführungen des Landgerichts Bezug nehmen. Das Berufungsgericht wird auch zu prüfen haben, ob das Landgericht nicht zu hohe Anforderungen an den Begriff der groben Fahrlässigkeit gestellt hat. Zu einer solchen Prüfung besteht deshalb Veranlassung, weil das Landgericht eine Vielzahl von Nachlässigkeiten und Unvorsichtigkeiten festgestellt hat, von denen jede für sich die Gefahr eines Diebstahls schon erhöht hat. Dazu gehören folgende Umstände: Das Wissen um die erhöhte Diebstahlsgefahr in Oberitalien; fehlende Instruktionen an den Fahrer; Transport wertvoller Ware im Planenzug ohne Alarmanlage; die Besetzung des Lastzuges nur mit einem Fahrer; das nächtliche Parken und Übernachten auf einer unbewachten Parkspur. Es wird zu prüfen sein, ob diese Umstände in Verbindung mit den weiter zu treffenden Feststellungen bei der gebotenen Gesamtbetrachtung den Vorwurf grober Fahrlässigkeit rechtfertigen.
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c) Weitere tatrichterliche Feststellungen zur groben Fahrlässigkeit sind auch nicht deshalb entbehrlich, weil – wie das Berufungsgericht meint – diese Verschuldensform ohnehin nicht zu einer unbeschränkten Haftung des Frachtführers führe. Denn die Auffassung des Berufungsgerichts, grobe Fahrlässigkeit sei kein dem Vorsatz gleichstehendes Verschulden im Sinne des Art. 29 CMR, begegnet rechtlichen Bedenken.
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Der Wortlaut des Abkommens, auf den das Berufungsgericht entscheidend abstellt, ist nicht eindeutig. Er würde in der deutschen Übersetzung etwas Überflüssiges besagen, wenn unter einem dem Vorsatz gleichzustellenden Verschulden nur der bedingte Vorsatz zu verstehen wäre. Auch der bei der Auslegung heranzuziehende Urtext in englischer und französischer Sprache (vgl. Art. 51 Abs. 3 CMR) ist nicht einheitlich. So ist der im englischen Text enthaltene Begriff des „willful misconduct“ nicht mit Vorsatz gleichzusetzen, sondern erfaßt auch einen darunterliegenden Verschuldensgrad (vgl. Schleicher-Reymann-Abraham, Das Recht der Luftfahrt, 3. Auflage, Band I, WA Art. 25 Anm. 3 und 6; Helm, Großkomm. HGB, 3. Auflage 1982, § 452 Anh. III, CMR Art. 29 Anm. 2). Demgegenüber spricht der französische Originaltext von einer “ faute … qui … est consideree comme equivalente au dol “ und besagt damit eher dasselbe wie die deutsche Übersetzung (vgl. auch Helm a.a.O. CMR Art. 29 Anm. 2). Bedenken gegen eine ausschließlich am Wortlaut orientierte Auslegung ergeben sich aber auch aus einem Vergleich des Art. 29 CMR mit Art. 25 WA 1929. Während Art. 25 WA 1929 in seinem französischen Urtext mit Art. 29 CMR des vorstehend zitierten französischen Originaltextes übereinstimmt, spricht Art. 25 WA 1929 in der deutschen Übersetzung nicht von einem dem Vorsatz gleichstehenden Verschulden, sondern von einer gleichstehenden Fahrlässigkeit.
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So besteht denn auch im In- und Ausland kein einheitliches Sprachverständnis zu Art. 29 CMR. Die Rechtsprechung der inländischen Instanzgerichte ist uneinheitlich (für eine Gleichstellung von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit: OLG München ETR 1971, 115, 126 f; OLG Stuttgart VersR 1980, 979, 980; dagegen: OLG Hamm VersR 1974, 28, 30 li. Sp.; LG Hamburg VersR 1973, 28; LG Frankfurt TranspR 1982, 79). Die Rechtsprechung der ausländischen Gerichte kann angesichts der unterschiedlichen Schuldbegriffe für eine vergleichende Betrachtung nur mit Einschränkungen herangezogen werden. Für eine Gleichstellung von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit hat sich die österreichische (vgl. OGHZ 47 – 1974 -, Nr. 106, S. 472 ff) und die Schweizer (vgl. Aisslinger a.a.O. S. 108 m.w.N.), aber wohl auch die französische Praxis (vgl. Cour de Cassation ETR 1974, 314, 318; Libouton ETR 1973, 59 f m.w.N. und Rodire ETR 1971, 578) ausgesprochen, während die belgische Praxis davon abweicht (vgl. Nachweise bei Libouton ETR 1973, 59, 60 insbesondere Anm. 153 und 153 b). Die Auffassungen im Schrifttum sind ebenfalls geteilt (für eine Gleichstellung von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit: Aisslinger a.a.O. S. 107 f; Groth, Übersicht über die internationale Rechtsprechung zur CMR, 1981, S. 80; Heim DB 1957, 229, 230 r.Sp.; Helm a.a.O. CMR Art. 29 Anm. 2; Modjaz, Die unbeschränkte Haftung des Beförderers bei schwerem Verschulden im internationalen Luft- und Straßentransport, Diss. Frankfurt, 1967, S. 39, 42, 111 und Wesemann AWD 1961, 189, 192; dagegen: Heuer, Die Haftung des Frachtführers nach der CMR, 1975, S. 74 ff; Marsilius, Die Gleichstellung von Vorsatz und Fahrlässigkeit und die Haftungsbeschränkungen im Verkehrsrecht, Zeitschrift für den internationalen Eisenbahnverkehr 1967, 295 ff zumindest de lege ferenda; Muth DGV 1961, 181, 188; Muth-Glöckner, Leitfaden zur CMR, 5. Auflage 1983, Art. 29 Rdn. 2, Art. 32 Rdn. 1; dieselben in Hein-Eickhoff-Pukall-Krien, Güterkraftverkehrsrecht, Band II, T 111, Anm. zu Art. 29 CMR S. 89; Precht-Endrigkeit, CMR-Handbuch, 3. Auflage 1972, Art. 29 Anm. 1; Schulze DGV 1958, 36, 38; Züchner DB 1965, 59, 61). Angesichts der bestehenden Unklarheit kann der Wortlaut nicht allein maßgebend sein, wenn er auch bei der Auslegung internationaler Abkommen im Interesse einer einheitlichen Anwendung durch die beteiligten Vertragsstaaten eine erhöhte Bedeutung besitzt. Daneben sind auch die Entstehungsgeschichte und der Sinn und Zweck zu berücksichtigen; innerstaatliche Rechtsbegriffe dürfen dabei nicht unbesehen übernommen werden, weil sonst das Ziel der Rechtsvereinheitlichung gefährdet würde (vgl. BGHZ 84, 339, 343 m.w.N.). Im Streitfall muß die Auslegung unter Einbeziehung dieser Auslegungskriterien zu dem Ergebnis führen, daß die grobe Fahrlässigkeit dem Vorsatz im Sinne des Art. 29 CMR gleichzustellen ist.
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Aus der Entstehungsgeschichte des Abkommens lassen sich hinreichende Anhaltspunkte dafür gewinnen, welche Vorstellungen die beteiligten Vertragsstaaten bei der Fassung des Art. 29 CMR über den Regelungsgehalt dieser Bestimmung hatten. Bei Schaffung der CMR im Jahre 1956 waren Art. 37 CIM 1952, wo von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit gesprochen wird, der bereits erwähnte Art. 25 WA 1929 und Art. 25 WA 1955 bekannt, der in seiner geänderten Fassung neben dem Vorsatz auch die Leichtfertigkeit nennt, bei der das Bewußtsein hinzutreten muß, daß ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten werde. Mag auch die Entstehungsgeschichte in mancher Hinsicht unklar sein (vgl. Helm a.a.O. CMR Art. 29 Anm. 2), so kann doch als gesichert angesehen werden, daß Art. 29 CMR der Bestimmung des Art. 25 WA 1929 nachgebildet worden ist (vgl. Denkschrift zum Übereinkommen vom 19.5. 1956 – CMR – und zu dem dazugehörigen Unterzeichnungsprotokoll in BT-Drucks. III/1144 S. 44; Erläuternde Begründung zur österreichischen Regierungsvorlage der CMR, BGBl. 138/1961, 166 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates, IX. GP; Schulze DGV 1958, 36, 38; Heuer a.a.O. S. 76). Wie schon ausgeführt, stimmen aber Art. 25 Abs. 1 WA 1929 und Art. 29 Abs. 1 CMR in ihrem französischen Urtext wörtlich überein. Dann ist aber auch der Schluß gerechtfertigt, daß die beteiligten Vertragsstaaten Art. 29 CMR auch den Inhalt beimessen wollten, der sich in der Praxis aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung in der Anwendung des Art. 25 WA 1929 herausgebildet hatte. Zu Art. 25 WA 1929 bestand bereits eine gesicherte Rechtsprechung, nach der die grobe Fahrlässigkeit dem Vorsatz gleichsteht (vgl. Urteil BGH v. 17.4.1958 – VII ZR 96/57 – BGHZ 27, 101, 106; an dieser Rechtsprechung ist in der Folgezeit festgehalten worden, vgl. u.a. Urteil BGH v. 10.5.1974 – I ZR 61/73 – LM WA Nr. 9). Aufgrund dieser Entstehungsgeschichte wird auch in der Denkschrift der Bundesregierung zur CMR von 1956 kein Zweifel daran gelassen, daß dem Vorsatz ein ähnlich schwerwiegender Grad von Fahrlässigkeit, nämlich grobe Fahrlässigkeit gleichzustellen sei (BT-Drucks. III/ 1144 S. 43 f). Der Senat sieht keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung zu Art. 25 WA 1929 wieder abzurücken; zumal diese Regelung im Verhältnis zu den der Neufassung von 1955 nicht beigetretenen Vertragsstaaten auch heute noch anzuwenden ist.
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Hätten die Vertragsstaaten bei Schaffung der CMR Art. 25 WA 1929 nicht mit dem sachlichen Inhalt übernehmen wollen, den die Bestimmung nach der Rechtsprechung der jeweiligen nationalen Gerichte hatte, so hätte es nahegelegen, z.B. auf Art. 25 WA 1955 oder Art. 37 CIM 1952 zurückzugreifen. Welche Gründe die Vertragsstaaten veranlaßt haben, die Fassung des Art. 25 WA 1929 vorzuziehen, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit ermitteln. Selbst wenn mit ihr die französische Rechtslage berücksichtigt werden sollte, nach der der bedingte Vorsatz nicht ohne weiteres als Vorsatz gelte, sondern nur als diesem gleichgestellt angesehen werde (so vor allem Heuer a.a.O. S. 76; Precht-Endrigkeit a.a.O. Art. 29 Anm. 1; Muth DGV 1961, 181, 188; Muth- Glöckner a.a.O. Art. 29 Rdn. 2 und Art. 32 Rdn. 1), so ist damit noch nicht gesagt, daß bei Übernahme der Gleichstellung aus Art. 25 WA 1929 eine sachliche Änderung der jeweiligen nationalen Rechtslage beabsichtigt war. Demgegenüber wird im übrigen die Fassung der Gleichstellung in Art. 25 WA 1929 damit erklärt, daß mit der dem deutschen Rechtsdenken fremdartigen Formulierung Rücksicht auf das anglo-amerikanische Recht genommen worden sei, das den Begriff der groben Fahrlässigkeit im kontinentalen Sinne nicht kenne (so Schleicher-Reymann-Abraham a.a.O. WA Art. 25 Anm. 3 ff). Zum Teil wird auch der eigentliche Grund für die Formulierung „dem Vorsatz gleichstehendes Verschulden“ in Art. 29 CMR darin gesehen, daß bestimmte Vertreter in der Arbeitsgruppe erklärt hätten, ihren Rechten sei eine Unterteilung in leichte und grobe Fahrlässigkeit unbekannt; die Fassung des Art. 37 CIM 1952, die den Begriff der groben Fahrlässigkeit erwähne, würde daher auf Annahmeschwierigkeiten stoßen (vgl. Loewe ETR 1976, 575). Auch eine solche Vorstellung würde dafür sprechen, daß die auf jahrzehntelanger praktischer Erfahrung beruhende Auslegung zu Art. 25 WA 1929 übernommen werden sollte und daß eine sachliche Änderung nicht bezweckt war.
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Der mit Art. 29 CMR verfolgte Zweck, die Haftung des Frachtführers bei schwerem Verschulden möglichst einheitlich zu verschärfen, ließ sich angesichts der in den einzelnen Vertragsstaaten bestehenden unterschiedlichen Schuldbegriffe nur dadurch erreichen, daß den nach ihrem rechtshistorischen Herkommen unterschiedlichen Haftungskategorien der nationalen Rechte weitgehend Rechnung getragen wurde. Die CMR hat sich deshalb bewußt einer Definition des gleichstehenden Verschuldens enthalten und diese Frage „dem Recht des angerufenen Gerichts“ überlassen (ebenso Helm a.a.O. CMR Art. 29 Anm. 2). Die Gerichte sind jedoch nicht genötigt, die im deutschen Rechtsbereich grundsätzlich bestehenden strukturellen Unterschiede zwischen Vorsatz und (grober) Fahrlässigkeit, wie sie z.B. in § 276 Abs. 1 BGB zum Ausdruck kommen und in zahlreichen Gesetzesstellen unterschiedliche Rechtsfolgen auslösen, bei der Auslegung der CMR zu berücksichtigen (ebenso Helm a.a.O. CMR Art. 29 Anm. 2; a.A. vor allem Heuer a.a.O. S. 75 f). Entscheidend ist vielmehr, wie das deutsche Recht die unterschiedlichen Verschuldensformen hinsichtlich der Aufhebung von Haftungsbeschränkungen behandelt. Für den Bereich des Frachtrechts zeigt sich, daß alle dem Art. 29 CMR funktionell ähnlichen Bestimmungen die grobe Fahrlässigkeit dem Vorsatz im Hinblick auf die Durchbrechung von Haftungsbeschränkungen gleichstellen (Helm a.a.O. CMR Art. 29 Anm. 2); vgl. § 430 Abs. 3 HGB, § 48 Abs. 1 Satz 2 LuftVG, § 51 b ADSp, § 11 Abs. 5 BefBMö und § 91 EVO, aber auch § 11 Nr. 7 AGBG). Ohne Einbeziehung auch der groben Fahrlässigkeit wäre danach der CMR-Haftung eine gegenüber vergleichbaren nationalen Frachtrechtsregelungen nicht gerechtfertigte Sonderstellung eingeräumt, die auch in dem besonderen Haftungssystem der CMR keine tragende Begründung findet.