OLG Düsseldorf, Urteil vom 14. Mai 2014 – 19 U 32/13
Eltern, die ihre sechs- bis siebenjährigen Kinder mehrere Stunden unbeaufsichtigt lassen, verletzen ihre Aufsichtspflicht und haften für von den Kindern verursachte Schäden.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 07.11.2013 verkündete Urteil der 17. Zivilkammer – Einzelrichter – des Landgerichts Wuppertal- 17 O 169/12 – teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neugefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin € 5.916,70 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.12.2011 zu zahlen.
Der Beklagte wird ferner verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von € 459,40 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 13.07.2012 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
Die Klägerin nimmt den Beklagten wegen der Beschädigung eines PKW auf Zahlung von Schadensersatz unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Aufsichtspflicht des Beklagten über seinen minderjährigen Sohn in Anspruch.
Am 13.11.2011 besuchte der zum Zeitpunkt des Schadensereignisses 6 Jahre und 7 Monate alte Sohn des Beklagten die K… in der L… in S…, an deren Unterricht er seit August 2011 immer samstags und sonntags teilnimmt und wohin er von seinen Eltern gebracht und nach Unterrichtsschluss wieder abgeholt wird. Am 13.11.2011 fand in der K… eine Mitgliederversammlung, jedoch kein Unterricht statt. Eine Aufsicht über die Kinder durch den die K… tragenden Verein erfolgte nicht. Zum Schadenszeitpunkt befand sich der Sohn des Beklagten gemeinsam mit anderen Schülern auf dem Schulhof der K… Er warf – wie auch andere Kinder – Holzstücke über den Zaun auf das unmittelbar angrenzende Nachbargrundstück. Auf diesem befand sich das klägerische Fahrzeug, an dem Schäden entstanden sind.
Der Beklagte hat behauptet, sein Sohn habe das Fahrzeug nicht wahrgenommen; dieses sei auf Grund der Lage der Grundstücke zueinander und dem gewählten Abstellplatz für seinen Sohn nicht zu sehen gewesen. Ferner hat der Beklagte mit Nichtwissen bestritten, dass sämtliche geltend gemachten Beschädigungen an dem Fahrzeug durch seinen Sohn verursacht worden sind.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil Bezug genommen.
Mit Urteil vom 07.11.2013 hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, eine Haftung des Beklagten gemäß § 832 Abs. 1 BGB scheide aus. Der Beklagte habe seiner Aufsichtspflicht genügt. Ihm sei der Entlastungsbeweis gemäß § 832 Abs. 1 S. 2 BGB gelungen. Auf den weiteren Inhalt des Urteils wird gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 ZPO verwiesen.
Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr erstinstanzliches Klagebegehren weiter. Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Auf die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze wird Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache weit überwiegend Erfolg.
Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Schadensersatz wegen der Beschädigung des in Streit stehenden Fahrzeugs. Dieser Anspruch folgt aus dem Gesichtspunkt der Verletzung der Aufsichtspflicht über ein minderjähriges Kind gemäß §§ 832 Abs. 1 S. 1, 823 Abs. 1, 830 Abs. 1 S. 2 BGB.
1.
Der Beklagte hat seine Aufsichtspflicht verletzt, indem er seinen Sohn am 13.11.2011 über mehrere Stunden auf dem Gelände der K… unbeaufsichtigt belassen hat.
Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustandes der Beaufsichtigung bedarf, ist gemäß § 832 Abs. 1 BGB zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn sie ihrer Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.
a)
Die Tatsache, dass der Sohn des Beklagten im Alter von 6 Jahren und 7 Monaten mit Holzstücken über den Zaun der K… in Richtung des unmittelbar angrenzenden Grundstücks geworfen hat und dadurch Beschädigungen an dem klägerischen Fahrzeug (mit-) entstanden sind, ist zwischen den Parteien unstreitig.
Soweit der Beklagte vorträgt, nicht sämtliche Schäden an dem Fahrzeug seien durch seinen Sohn verursacht worden, und mithin nicht festgestellt werden kann, welche Schäden durch welches Kind konkret verursacht worden sind, ist dies gemäß § 830 Abs. 1 S. 2 BGB unschädlich.
Nach dieser Vorschrift ist jeder für einen Schaden verantwortlich, wenn sich nicht ermitteln lässt, wer von mehreren Beteiligten den Schaden durch seine Handlung verursacht hat. Die Vorschrift des § 830 BGB gilt auch für die Haftung des Aufsichtspflichtigen, wenn – wie hier – der Aufsichtsbedürftige nur aus § 830 Abs. 1 S. 2 BGB in Anspruch genommen werden könnte (vgl. Haag, in Geigel, Haftpflichtprozess, 26. Aufl. 2011, 16 Kap. 4. Rn. 38; Belling, in: Staudinger, BGB, § 832 [Neubearb. 2012] Rn. 61; Wagner, in: Münchener Kommentar, BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 830 Rn. 39).
Unerheblich ist das Vorbringen des Beklagten, sein Sohn habe das in Streit stehende Fahrzeug nicht wahrgenommen und das Fahrzeug sei auf Grund der Lage der Grundstücke zueinander und dem gewählten Abstellplatz für seinen Sohn nicht zu sehen gewesen. Denn eine Haftung gemäß § 832 BGB setzt (lediglich) eine – hier gegebene – rechtswidrige Schädigung eines Dritten durch den Aufsichtsbedürftigen voraus, ohne dass es auf dessen Verschulden ankäme (BGH, NJW 1990, 2553, 2554; Katzenmeier, in: Dauner-Lieb u. a., BGB, Bd. 2/2, 2. Aufl. 2012, § 832 Rn. 9).
Ein anderes Ergebnis ist auch dann nicht gerechtfertigt, wenn eine teleologische Reduktion des § 832 BGB insoweit vorzunehmen wäre, als die Schädigung als schuldhaft anzusehen sein müsste, wenn sie durch einen Nicht-Aufsichtsbedürftigen begangenen worden wäre (vgl. dazu Wagner, in: Münchener Kommentar, BGB, Bd. 5, 6. Aufl. 2013, § 832 Rn. 22; Katzenmeier, in: Dauner-Lieb u. a., BGB, Bd. 2/2, 2. Aufl. 2012, § 832 Rn. 9, jeweils m. w. Nachw.). Denn ein erwachsener, in seiner Schuldfähigkeit nicht eingeschränkter Durchschnittsmensch ließe die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht und handelte mithin fahrlässig, wenn er Holzstücke über eine Grundstücksgrenze hinweg auf ein anderes Grundstück in einen Bereich würfe, den er nicht einsehen könnte. Er müsste damit rechnen, dass sich in dem von ihm nicht einsehbaren Bereich Menschen aufhalten oder Gegenstände befinden, die durch die geworfenen Holzstücke zu Schaden kommen könnten.
b)
Dem Beklagten ist der Entlastungsbeweis nach § 832 Abs. 1 S. 2 BGB nicht gelungen.
Das Maß der gebotenen Aufsicht bestimmt sich nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie danach, was den Eltern in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihr Kind zu verhindern. Dabei kommt es für die Haftung nach § 832 BGB stets darauf an, ob der Aufsichtspflicht nach den besonderen Gegebenheiten des konkreten Falls genügt worden ist; – entscheidend ist also nicht, ob der Erziehungsberechtigte allgemein seiner Aufsichtspflicht genügt hat, sondern vielmehr, ob dies im konkreten Fall und in Bezug auf die zur widerrechtlichen Schadenszufügung führenden Umstände geschehen ist (BGH, NJW 2009, 1952, 1953, m. w. Nachw.).
Normal entwickelte Kinder im Alter des Sohnes des Beklagten können zwar eine gewisse Zeit ohne unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit und Aufsicht gelassen werden; eine ständige Beobachtung kann nicht verlangt werden (vgl. BGH, NJW 2009, 1952, 1953; BGH, NJW 1984, 2574, 2575, jeweils m. w. Nachw.). Danach war der Beklagte nicht verpflichtet, seinen Sohn in ganz kurzen Zeitabständen zu kontrollieren oder sogar auf Schritt und Tritt zu beaufsichtigen. Insoweit zu Recht hat das Landgericht darauf abgestellt, dass der Sohn des Beklagten die K… zum Schadenszeitpunkt bereits seit mehr als drei Monaten zweimal wöchentlich, jeweils am Wochenende, besuchte und ihm die Umgebung und das Spielen außer Haus auf dem Gelände der K… vertraut waren. Von Verhaltensauffälligkeiten, die insoweit bereits eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, ist nicht auszugehen. Es ist insbesondere nicht ersichtlich, dass der Sohn des Beklagten schon einmal vergleichbare Schäden angerichtet hat oder zu üblen Streichen neigte. Eine schwere Erziehbarkeit steht nicht im Raum.
Allerdings durfte der Sohn des Beklagten nicht – wie geschehen – über mehrere Stunden unbeaufsichtigt auf dem Gelände der K… bleiben; eine Aufsicht durch Mitglieder des die K… tragenden Vereins oder andere Erwachsene fand nicht statt.
Das Risiko, das von Kindern für unbeteiligte Dritte ausgeht, soll nach dem Grundgedanken des § 832 BGB von den Eltern getragen werden, denen es eher zuzurechnen ist als dem unbeteiligten Dritten (BGH, NJW 2009, 1952, 1953, m. w. Nachw.). Damit ist es nicht zu vereinbaren, dass ein rund sechseinhalbjähriger Junge über einen so langen Zeitraum gemeinsam mit anderen Kindern ohne irgendeine Aufsicht auf einem Schulgelände verbleibt.
Auch wenn der Beklagte nicht voraussehen musste, dass sein Sohn Holzstücke über die Grundstücksgrenze hinweg auf das Nachbargrundstück werfen und dabei ein fremdes Kraftfahrzeuge beschädigen würde, ist bei einem sechseinhalbjährigen Kind jedenfalls nicht auszuschließen, dass es sich bei einer so langen, mehrstündigen Verweildauer ohne Aufsicht von anderen Kindern verleiten lässt oder selbst auf den Gedanken kommt, Streiche zu begehen, durch die Dritte geschädigt werden können. Dies muss ein Aufsichtspflichtiger in Betracht ziehen und deswegen dafür sorgen, dass ein Kind im Grundschulalter in regelmäßigen Abständen kontrolliert wird. Es bedarf keiner Entscheidung darüber, wie lange die Kontrollabstände im konkreten Fall hätten sein müssen. Jedenfalls durfte der Sohn des Beklagten bei Berücksichtigung des kindlichen Spieltriebs und Übermuts sowie des Bewegungs- und Aktionsradius eines jungen Grundschulkindes nicht über mehrere Stunden unbeaufsichtigt bleiben.
Angesichts vorstehender Erwägungen kommt es nicht (mehr) darauf an, ob der Beklagte auch seiner ihm obliegenden Belehrungspflicht hinreichend nachgekommen ist, seinen Sohn dazu anzuhalten, fremdes Eigentum zu achten und nicht zu beschädigen.
c)
Selbst wenn der Vortrag des Beklagten in seinem Schriftsatz vom 01.07.2013 so zu verstehen sein sollte, dass ihm zunächst nicht bekannt gewesen sei und er erst im Nachhinein erfahren habe, dass am Schadenstag in der K… kein Unterricht und deshalb auch keine – wie sonst – Aufsicht über die Kinder stattfindet, so rechtfertigt dies kein anderes Ergebnis. Jedenfalls träfe den Beklagten der Vorwurf des fahrlässigen Verhaltens. Er hätte die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen, indem er nicht sicherstellte, dass ihn die – wie ihm berichtet worden ist – ausdrückliche Mitteilung des Vereins an die Eltern, dass keine Aufsicht über die Kinder geführt würde, auch erreicht. Zudem hätte der Beklagte erkennen müssen, dass sein Sohn am Schadenstag auch keine Bücher oder sonstiges Lehrmaterial mitgenommen hat.
2.
Begründet ist der Schadensersatzanspruch in folgender Höhe:
Die Klägerin hat – wie begehrt – einen Anspruch auf Ersatz der Reparaturkosten ohne Mehrwertsteuer auf der Grundlage des vorgelegten Gutachtens des Sachverständigen X vom 16.11.2011 in Höhe von € 5.017,46. Soweit der Beklagte die Anspruchsberechtigung bestritten hat, geht dies ins Leere, nachdem die Klägerin ein Schreiben der Leasinggeberin vom 22.11.2012 vorgelegt hat, aus dem sich ergibt, dass sie – die Klägerin – berechtigt ist, alle fahrzeugbezogenen Ansprüche aus einem Schadenfall im eigenen Namen und auf eigene Rechnung geltend zu machen.
Die Klägerin hat ferner einen Anspruch auf Ersatz des von dem Sachverständigen ermittelten merkantilen Minderwerts in Höhe von € 400,- sowie auf Erstattung der Kosten des Sachverständigengutachtens ohne Mehrwertsteuer in Höhe von € 499,24.
Die von der Klägerin begehrte Kostenpauschale in Höhe von € 25,- ist nicht ersatzfähig, da die Klägerin – trotz des ausdrücklichen Hinweises des Beklagten in der Klageerwiderung – keinerlei Anknüpfungstatsachen vorgetragen hat, die es dem Senat ermöglichten, etwaige Aufwendungen gemäß § 287 ZPO zu schätzen.
Soweit hinsichtlich solcher Aufwendungen bei der Abwicklung von Verkehrsunfallschäden regelmäßig von näherem Vortrag abgesehen wird und die Rechtsprechung dem Geschädigten eine Auslagenpauschale zuerkennt, auch wenn Anknüpfungstatsachen hierfür im konkreten Einzelfall nicht dargetan sind, ist dies dem Umstand geschuldet, dass es sich bei der Regulierung von Verkehrsunfällen um ein Massengeschäft handelt, bei dem dem Gesichtspunkt der Praktikabilität besonderes Gewicht zukommt (BGH, NJW 2012, 2267, 2268, m. w. Nachw.). Eine generelle Anerkennung einer solchen Pauschale für sämtliche Schadensfälle ohne nähere Darlegung der getätigten Aufwendungen gibt es in der Rechtsprechung nicht und ist angesichts der unterschiedlichen Abläufe bei der jeweiligen Schadensabwicklung auch nicht gerechtfertigt (BGH, NJW 2012, 2267, 2268).
3.
Die Klägerin hat schließlich gegen den Beklagten einen materiellen Schadensersatzanspruch auf Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von – wie begehrt – insgesamt € 459,40 (1,3 Gebühr gem. Nr. 2300 VV RVG zzgl. Auslagen gem. Nr. 7002 VV RVG, jeweils i. d. vormaligen Fassung des RVG). Soweit der zu berücksichtigende Gegenstandswert nicht – wie von der Klägerin zugrunde gelegt – € 5.941,70, sondern wegen der nicht zuzuerkennenden Auslagenpauschale nur € 5.916,70 beträgt, ist dies angesichts der bei € 5.000,- bzw. bei € 6.000,- liegenden Gegenstandswertgrenzen unerheblich. Ausweislich des von der Klägerin vorgelegten Schreibens der Rechtsschutzversicherung vom 15.10.2012 ist sie – die Klägerin – berechtigt die erstatteten Rechtsanwaltskosten im eigenen Namen geltend zu machen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Zuvielforderung in Höhe von € 25,- (Auslagenpauschale) ist geringfügig und hat – da keine Gebührenstufe überschritten wird – keine höheren Kosten verursacht. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO besteht kein Anlass.
Streitwert des Berufungsverfahrens: € 5.941,70.