Arbeitsbedingtes Durchsuchen des unverschlossenen Spindes eines Kollegen nach Arbeitsmaterialien rechtfertigt keine Kündigung

LAG Düsseldorf, Urteil vom 07.02.2018 – 4 Sa 773/17

Arbeitsbedingtes Durchsuchen des unverschlossenen Spindes eines Kollegen nach Arbeitsmaterialien rechtfertigt keine Kündigung

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 01.08.2017 – 6 Ca 2396/17 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlich fristlosen, sowie einer hilfsweisen ordentlichen Kündigung.

Der 1968 geborene und mit einem Grad der Behinderung von 50 schwerbehinderte Kläger ist bei der Beklagten, die mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt, seit dem 01.06.1994 beschäftigt, zuletzt als Maschinenarbeiter mit einem Gehalt von monatlich durchschnittlich 2.895,86 € brutto. Auf das Arbeitsverhältnis findet nach § 6 des Arbeitsvertrages unter anderem der Manteltarifvertrag für die Feuerfest-/Säureschutzindustrie Anwendung. Hinsichtlich der Einzelheiten des Arbeitsvertrages wird auf diesen ergänzend Bezug genommen (Anlage K1, Bl. 18 ff. GA).

Mit Datum vom 16.11.2015 wurde der Kläger von der Beklagten dafür abgemahnt, aus einem persönlichen Notizbuch eines Kollegen mehrere Seiten entfernt und in den Papierkorb geworfen zu haben. Wegen der Einzelheiten der Abmahnung wird auf die Anlage B2 Bezug genommen (Bl. 170 GA).

Bei der Beklagten bestehen zwei unterschiedliche Arten von persönlich den Mitarbeitern zugeordneten Spinden, nämlich solche im Umkleidebereich, in welche die Arbeitnehmer Kleidung und andere persönliche Sachen einlegen, und solche unmittelbar in der Produktion, in welchen typischerweise Werkzeug verwahrt wird, in die aber auch Handys oder Frühstücksbrote eingelegt werden dürfen. Am 06.04.2017 entnahm der Kläger dem Spind eines Arbeitskollegen in der Produktion ein Cuttermesser sowie Verbrauchsmaterialien für die Arbeit (eine Filz- und eine Blechunterlage). Das Messer beließ er nach der Schicht an der Maschine, die Unterlagen verbrauchte er für den Maschinenbetrieb.

Am nächsten Tag beschwerte sich der Kollege bei der Beklagten darüber, dass sein Spind durchwühlt worden sei. Er könne aber nicht sagen, ob etwas fehle. Sein am Spind angebrachtes Vorhängeschloss war nicht beschädigt.

Nach Sichtung von Videoaufzeichnungen aus der Produktion befragte die Beklagte den Kläger zu den Vorfällen am 11.04.2017. In diesem Rahmen erklärte der Kläger, ein bestimmtes Teil gesucht zu haben. Nachdem die Beklagte dem Kläger vorgeworfen hatte, ausweislich der Videoaufzeichnung nach Auffinden und Entnehmen eines Teils aus dem Spind noch zehn Minuten vor dem Schrank verweilt zu haben, entgegnete der Kläger, dass dies eine große Dummheit von ihm gewesen sei.

Mit Schreiben vom 24.04.2017 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Klägers. Mit Schreiben vom 10.05.2017 teilte das Integrationsamt den Eintritt der Zustimmungsfiktion nach § 91 Abs. 3 S. 2 SGB IX mit Ablauf des 09.05.2017 mit.

Mit Schreiben vom 10.05.2017 erklärte die Beklagte die außerordentliche fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers. Weiterhin erklärt die Beklagte nach Zustimmung des Integrationsamtes (Anlage BB1, Bl. 257 f. GA) mit Schreiben vom 12.07.2017 die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.09.2017.

Mit seiner am 26.04.2017 beim Arbeitsgericht eingegangenen und mit Schriftsatz vom 12.07.2017 hinsichtlich der hilfsweisen ordentlichen Kündigung erweiterten Klage wendet sich der Kläger gegen die Kündigungen. Er hat geltend gemacht, dem Kollegen keine persönlichen Gegenstände entwendet zu haben. In dem aufgrund seines Standortes in der Produktion stark verdreckten Spind hätte er persönliche Gegenstände weder vermutet noch vorgefunden. Die Spinde in der Produktion würden von den Beschäftigten ausschließlich als Ablage für Arbeitsmittel genutzt. Der Kläger behauptet, er habe den Spind geöffnet, um nach dem Arbeitsmaterial und dem Cuttermesser zu suchen. Letztere befänden sich normalerweise an der Maschine und seien nicht persönlich zugeordnet. Der Spind sei unverschlossen gewesen, das Vorhängeschloss sei nicht verschlossen gewesen, anderenfalls hätte er es auch nicht ohne Substanzbeeinträchtigung öffnen können.

Der Kläger hat beantragt,

1.festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 10.05.2017 nicht zum 10.05.2015 aufgelöst worden ist,

2.festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers auch nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 12.07.2017 zum 30.09.2017 aufgelöst worden ist,

3.die Beklagte zu verurteilen, den Kläger als Maschinenarbeiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Kündigungen seien aus verhaltensbedingten Gründen als Tat-, jedenfalls aber als Verdachtskündigungen wirksam. Der Spind sei Teil der Privatsphäre des Kollegen und die Suche nach dort befindlichen Arbeitsmitteln kein Grund, in diese einzudringen. Die Spinde seien den Mitarbeitern für individuell zugeordnetes Werkzeug zur Verfügung gestellt, würden aber von den Mitarbeitern auch für Handy oder Frühstücksbrote genutzt, auch der betroffene Kollege tue dies. Auf der Videoaufzeichnung sei der Kläger mit einem Gegenstand in der Hand zu sehen, möglicherweise einem Schlüssel, wie er zu dem Spind des Kollegen gehe, und erst nach mehreren Minuten zurückkehre. Es sei nicht aufklärbar, ob der Kläger auch private Gegenstände aus dem Spind entnommen habe. Es sei auch nicht erklärlich, wieso er das Suchen nach allgemein verwendbaren Arbeitsmitteln in der Anhörung als „große Dummheit“ bezeichnet hat.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 01.08.2017, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird, der Klage stattgegeben und im Wesentlichen ausgeführt, sowohl für die außerordentliche als auch für die ordentliche Kündigung fehlten hinreichende Kündigungsgründe. Der bestimmungsgemäße Gebrauch von Arbeitsmitteln und Arbeitsmaterial verletze keine Vertragspflichten. Die Entnahme dieser Gegenstände aus einem dem Kollegen persönlich zugeordneten „Arbeits“-Spind berühre zwar dessen Privatsphäre. Der Kläger habe den Spind jedoch nicht gewaltsam geöffnet. Auch seien den Arbeitnehmern zur Aufbewahrung von persönlichen Gegenständen und Wertsachen weitere „Privat“-Spinde zugeordnet gewesen. Unter diesen Umständen sei das Öffnen des Spinds und die Entnahme von nicht persönlich zugeordnetem Arbeitsmaterial durch den Kläger jedenfalls gerechtfertigt. Auch bestehe nicht der Verdacht einer Straftat. Der Kollege vermisse keinerlei Privatgegenstände. Die verbleibenden Umstände begründeten keinen hinreichenden Tatverdacht. Selbst wenn die Videoaufzeichnung verwertbar und ein Aufenthalt des Klägers vor dem geöffneten Spind des Kollegen von ca. zehn Minuten Dauer festgestellt werden könnte, rechtfertige dies nicht den Verdacht eines versuchten Diebstahls. Auch würde jedenfalls eine Interessenabwägung zugunsten des Klägers ausfallen. Ein etwaiger Pflichtverstoß sei nicht besonders erheblich. Auch angesichts der vorausgegangenen Abmahnung sei der aktuelle Vorwurf nicht von solcher Art, dass den Kläger hätte klargewesen sein müssen, seinen Arbeitsplatz aufs Spiel zu setzen.

Gegen das ihr am 23.08.2017 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 14.09.2017 Berufung eingelegt und diese – innerhalb der verlängerten Frist – am 23.11.2017 begründet. Die Beklagte verweist insbesondere auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 20.06.2013 (2 AZR 546/12) zum Schutze der Privatsphäre eines Arbeitnehmers. Diese sei hier durch das Ausspähen und durch Wühlen des Spindes vom Kläger in besonderer Weise verletzt worden. Auch bestehe der dringende Verdacht eines versuchten Diebstahls durch den Kläger. Dieser habe offenbar lediglich nichts Brauchbares gefunden. Hierfür spreche das Durchwühlen des Spindes, der zehnminütige Aufenthalt vor dem Spind und die nachfolgende Äußerung des Klägers, in der er sein Verhalten als „große Dummheit“ bezeichnete. Weiter hält die Beklagte daran fest, das Arbeitsmaterial den Mitarbeitern persönlich zugeordnet sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 01.08.2017 – 6 Ca 2396/17 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens nach Maßgabe seiner (undatierten) Berufungserwiderung sowie seines Schriftsatzes vom 18.01.2018.

Wegen des weiteren Berufungsvorbringens der Parteien wird auf den Inhalt ihrer zweitinstanzlichen Schriftsätze nebst Anlagen sowie ihrer Protokollerklärungen Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Zurecht hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben. Weder die außerordentliche noch die ordentliche Kündigung der Beklagten haben das Arbeitsverhältnis beendet. Beide Kündigungen sind in Ermangelung eines ausreichenden Kündigungsgrundes unwirksam. Demgemäß war auch dem Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers stattzugegeben.

I.

Sowohl die außerordentliche Kündigung vom 10.05.2017, als auch die außerordentliche Kündigung vom 12.07.2017 sind in Ermangelung eines wichtigen Grundes (§ 626 BGB) bzw. einer sozialen Rechtfertigung (§ 1 KSchG) unwirksam. Auf die Darstellung der Voraussetzungen für den wichtigen Grund i.S.v. § 626 BGB in arbeitsgerichtlichen Urteilen, denen das Berufungsgericht folgt, wird Bezug genommen (§ 69 Abs. 2 ArbGG).

1.Die Verwendung der Arbeitsmittel durch den Kläger (Cuttermesser sowie Filz- und Blechunterlagen) stellt keine Vertragspflichtverletzung dar, sondern erfolgte bestimmungsgemäß. Die Beklagte hat in der letzten mündlichen Verhandlung ausdrücklich klargestellt, dass neben dem Verbrauchsmaterial auch die Cuttermesser den Mitarbeitern grundsätzlich nicht persönlich zugeordnet seien.

2.Der Kläger hatte mit dem Öffnen und Durchsuchen des Spindes seines Kollegen auch nicht dessen Privatsphäre in einer Weise verletzt, die bei Abwägung aller Umstände und der beiderseitigen Interessen der Parteien eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung rechtfertigt.

a)Es handelt sich bei dem von dem Kläger durchsuchten Spind um einen solchen, der seinem Kollegen zwar persönlich zugeordnet war, jedoch als „Arbeits-Spind“ vornehmlich der Unterbringung von Arbeitsmaterial bzw. Arbeitsmitteln diente. Für die privaten Gegenstände, insbesondere Kleidung oder Wertsachen, stand jedem Mitarbeiter ein weiterer persönlicher und abschließbarer Spind zur Verfügung. Dieser wurde von den Mitarbeitern auch unstreitig benutzt.

b)Der vom Kläger geöffnete Spind war jedenfalls nicht in der Weise verschlossen, dass der Kläger ihn gewaltsam öffnen musste.

c)Der Kläger suchte nach Arbeitsmaterial und Arbeitsmitteln, die sich unstreitig in dem Spind im Produktionsbereich befanden.

d)Bei diesem Bild ist auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass Mitarbeiter gelegentlich auch Privatgegenstände wie Handy oder Pausenbrot in den persönlichen Arbeitsspind ablegten, der Vorwurf des Eindringens in einen geschützten Privatbereich des Kollegen nicht von solchem Gewicht, dass er die Kündigung zurechtfertigen vermag. Das Verhalten des Klägers war dienstlich veranlasst, da er Arbeitsmaterial und Arbeitsmittel suchte. Der Spind war für ihn ohne weiteres zugänglich. Er diente neben der Unterbringung von Arbeitsmitteln und Arbeitsmaterial lediglich gelegentlich zur Ablage persönlicher Gegenstände, wobei ein weiterer Spind für persönliche Wertsachen und Kleidung jeweils zur Verfügung stand und auch benutzt wurde. Auch in Ansehung der vorausgegangenen Abmahnung musste dem Kläger nicht klar vor Augen gestanden haben, dass die Suche nach Arbeitsmitteln und Arbeitsmaterial im Spind seines Kollegen die angedrohten arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis hin zur Kündigung zur Folge haben wird. Die Berufungskammer teilt insoweit die Einschätzung des Arbeitsgerichts.

3.Dem Kläger kann auch kein Diebstahl zur Last gelegt werden. Bereits oben ist dargelegt worden, dass die von ihm dem Spind des Kollegen entnommenen Gegenstände einer vertragsgemäßen Verwendung zugeführt wurden. Etwaige andere in Diebstahlsabsicht entwendete Gegenstände hat die Beklagte nicht dargelegt.

Mit dem Arbeitsgericht sieht die Berufungskammer auch keinen hinreichenden Tatverdacht für einen versuchten Diebstahl. Allein die Umstände, dass der Kläger – die Zulässigkeit der Verwertung der Videoaufnahmen unterstellt – ca. zehn Minuten vor dem Spind des Kollegen zugebracht und diesen möglicherweise „durchwühlt“ hat und dass der Kläger nachfolgend zur Rede gestellt von einer „großen Dummheit“ gesprochen hat, die er begangen habe, begründen keinen hinreichend dringlichen Tatverdacht eines versuchten Diebstahls. Insbesondere kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger längere Zeit nach den von ihm unstreitig dem Spind entnommenen Arbeitsmitteln und Arbeitsmaterialien gesucht hat. Seine Äußerung, eine große Dummheit begangen zu haben, belegt ebenfalls keine Diebstahlsabsicht, sondern kann ohne weiteres auch darauf bezogen werden, dass er sich mit seinem Verhalten verdächtigt gemacht habe. Selbst wenn der Kläger unabhängig von der Suche nach Arbeitsmaterialien und -mitteln längere Zeit den Spind durchsucht haben sollte, wäre auch damit noch nicht hinreichend dringlich der Verdacht einer Diebstahlsabsicht begründet. Auf die Ausführungen des Arbeitsgerichts insoweit wird Bezug genommen (§§ 69 Abs. 2 ArbGG).

II.

Der Anspruch des Klägers auf Weiterbeschäftigung ist im vorliegenden Fall aufgrund der Feststellung, dass die Kündigung unwirksam ist, bereits vor deren Rechtskraft begründet (BAG (GS) 27.02.1985 – GS 1/84, NZA 1985, 702, 709). Das Berufungsgericht sah keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass eine Weiterbeschäftigung des Klägers wegen eines bestehenden „Klimas des Misstrauens unter den Kollegen“ unzumutbar wäre. Hierzu hat die Beklagte keine näheren Tatsachen vorgetragen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG bestanden nicht.

 

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