OLG Celle, Urteil vom 10. November 2021 – 14 U 96/21
1. Das Vorrecht gem. § 20 Abs. 5 StVO besteht nur unter den Voraussetzungen einer rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Anzeige gegenüber dem ansonsten fortbestehenden Vorrang des fließenden Verkehrs.
2. Die Beweislast für die Inanspruchnahme eines Vorrechts der Straßenverkehrsordnung trägt derjenige, der sich auf es beruft. Erst wenn der Fahrer eines an einer Haltestelle haltenden Linienbusses bewiesen hat, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme seines Vorrechts vorgelegen haben, entfällt der Vorrang des fließenden Verkehrs und mit ihm der Anscheinsbeweis, der auf einen Verstoß gegen die in § 10 StVO normierten Sorgfaltsanforderungen schließen lässt (entgegen KG, Beschluss vom 24. Juli 2008 – 12 U 142/07 und Beschluss vom 1. November 2018 – 22 U 128/17, juris sowie LG Saarbrücken, Urteil vom 5. April 2012 – 13 S 209/11, Rn. 13, juris).
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das am 12. Mai 2021 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Verden – 1 O 13/20 – teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 4.448,88 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.02.2020 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits der ersten Instanz tragen der Kläger zu 41%, die Beklagte zu 59%. Die Kosten des Rechtsstreits der zweiten Instanz tragen der Kläger zu 39%, die Beklagte zu 61%.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Beide Parteien dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 6.982,80 € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Der Kläger verlangt von der Beklagten Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls vom 8.11.2019. Der Kläger befuhr mit seinem Fahrzeug VW Tiguan die G. Straße in V. Der Zeuge R. hielt mit dem von ihm gefahrenen Fahrzeug der Beklagten, einem Linienbus Mercedes Citaro, am rechten Fahrbahnrand an der dortigen Haltestelle mit rechtsseitigem eingeschalteten Fahrtrichtungsanzeiger. Als der Kläger mit seinem Fahrzeug an dem Bus linksseitig vorbeifahren wollte, fuhr der Zeuge R. schräg nach links in die G. Straße ein. Der Zeuge beabsichtigte, von der G. Straße nach links in die Straße P. abzubiegen. Noch beim Anfahren des Linienbusses kam es zu einer Kollision zwischen beiden Fahrzeugen.
2
Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Zeuge R. vor dem Anfahren den linksseitigen Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hat, um sein Einfahren auf die Fahrbahn anzuzeigen.
3
Dem Kläger ist durch den Unfall ein unstreitiger Schaden in Höhe von 10.016,20 € entstanden (Reparaturkosten: 8.094,30 €, Wertminderung: 350,00 €, Sachverständigenkosten: 1.015,90 €, Kostenpauschale: 25,00 €, Nutzungsentschädigung: 531,00 € (9 Tage à 59,00 €)). Von diesem Schaden hat die Beklagte bereits einen Betrag in Höhe von 2.767,90 € gezahlt, was abzüglich eines Aufrechnungsbetrages für eigene Schäden in Höhe von 50% (1.974,70 €) einer hälftigen Regulierung entspricht.
4
Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen im Übrigen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
5
Das Landgericht hat nach einer Beweisaufnahme mit Zeugenvernehmung und der Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Unfallhergang eine hälftige Schadensteilung zwischen den Parteien ausgeurteilt. Da nicht feststehe, ob der Zeuge R. geblinkt habe oder nicht, habe keine Partei beweisen können, dass der Unfall für sie unabwendbar gewesen sei. Der Sachverständige habe in seinem Gutachten ausgeführt, dass für den Zeugen R. der Unfall vermeidbar gewesen wäre, wenn er den Kläger mit seinem Fahrzeug hätte passieren lassen. Für den Kläger wäre der Unfall vermeidbar gewesen, wenn der Zeuge R. vor Anfahrbeginn den linken Fahrtrichtungsanzeiger erkennbar gesetzt hätte. Der Kläger hätte in diesem Fall sein Fahrzeug noch vor Erreichen des Kollisionsortes zum Stillstand bringen können.
6
In Bezug auf das gegenseitig zu beweisende Verschulden habe keine Partei der anderen einen Verkehrsverstoß beweisen können. Das Gericht habe keine Gewissheit erlangen können, ob der Blinker gesetzt worden sei oder nicht. Daher habe weder ein Verstoß des Klägers gegen § 20 Abs. 5 StVO noch ein Verstoß des Zeugen R. gegen § 10 StVO angenommen werden können. Von dem Anspruch des Klägers in Höhe von 50%, 5.008,10 €, habe das Landgericht die bereits gezahlten 2.767,90 € und einen Aufrechnungsbetrag der Beklagten in Höhe von 50 % (1.974,70 €) für eigene Schäden abgezogen, so dass dem Kläger noch ein Betrag in Höhe von 265,50 € verbleibe.
7
Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung. Er ist der Auffassung, das Landgericht habe nicht beachtet, dass gem. § 10 StVO bei einem Anfahren aus dem ruhenden Verkehr eine Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen werden müsse. Ferner habe der Zeuge R. auch gegen § 9 Abs. 1 StVO verstoßen, als er sogleich nach dem Anfahren nach links in die Straße P. habe abbiegen wollen und nicht auf den Kläger geachtet habe.
8
Er beantragt,
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die Beklagte über das Urteil des Landgerichts Verden zum Az. 1 O 13/20 hinaus zu verurteilen, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 6.982,80 € nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14.02.2020 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
12
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil und führt aus, der Kläger müsse der Beklagten einen Verstoß gegen eine Norm und somit Verschulden beweisen. Dies sei dem Kläger nicht gelungen. Der Kläger habe nicht beweisen können, dass der Zeuge R. angefahren sei, ohne zuvor den Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt zu haben.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf den vorgetragenen Inhalt der zur Akte gelangten Schriftsätze samt Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 12. Oktober 2021.
II.
14
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers hat in der Sache teilweise Erfolg.
15
1. Die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche folgen dem Grunde nach aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 2 StVG. Sie bestehen jedoch nur auf Grundlage einer Haftungsquote in Höhe von 75 %. Im Einzelnen:
16
a) Der Verkehrsunfall hat sich sowohl bei dem Betrieb des Fahrzeugs des Klägers als auch beim Betrieb des Fahrzeugs der Beklagten ereignet (§ 7 Abs. 1 StVG). Ein unabwendbares Ereignis gem. § 17 Abs. 3 StVG hat nach den erstinstanzlich festgestellten Tatsachen für keinen der beiden Fahrer vorgelegen. Keine Partei, die jeweils für die Unabwendbarkeit des Unfallgeschehens darlegungs- und beweisbelastet ist, hat konkrete Tatsachen vorgetragen, deren Berücksichtigung eine andere Bewertung erfordern. Die Unaufklärbarkeit tatsächlicher Umstände geht zu Lasten des Beweispflichtigen (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 17 StVG Rn. 23). Die hierzu erfolgten Feststellungen des Landgerichts sind zutreffend und mit der Berufung nicht angegriffen.
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b) Im Rahmen der deshalb nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmenden Haftungsabwägung hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Zunächst ist das Gewicht des jeweiligen Verursachungsbeitrages der Kfz-Halter bzw. -Führer zu bestimmen, wobei zum Nachteil der einen oder anderen Seite nur feststehende, d. h. unstreitige oder bewiesene Umstände berücksichtigt werden dürfen, die sich auch nachweislich auf den Unfall ausgewirkt haben (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 26. Aufl. 2020, StVG § 17 Rn. 12). In einem zweiten Schritt sind die beiden Verursachungsanteile gegeneinander abzuwägen (Senat, Urteil vom 22. Januar 2020 – 14 U 150/19 –, Rn. 66 m.w.N., juris).
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aa) Der Fahrer des Linienomnibusses hat gegen § 10 Abs. 1 StVO verstoßen, dessen Verschulden sich die Beklagte zurechnen lassen muss. Halter und Fahrer bilden insoweit eine Zurechnungseinheit (Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 26. Aufl. 2020, StVG § 17 Rn. 5). Den gegen sie sprechenden Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung konnte die Beklagte nicht erschüttern.
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(1) Gem. § 10 Satz 1 StVO muss sich der Einfahrende vom Fahrbahnrand auf eine Fahrbahn so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Der Vorrang des fließenden Verkehrs gilt grundsätzlich auch gegenüber dem Fahrer eines Omnibusses des Linienverkehrs.
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Um derartigen Fahrzeugen, die an feste Fahrpläne und an die Einhaltung bestimmter Fahrzeiten gebunden sind, aber das Anfahren und Einordnen in den fließenden Verkehr zur Sicherstellung der zeitlichen Vorgaben zu erleichtern, bestimmt § 20 Abs. 5 StVO, dass diesen das Abfahren von gekennzeichneten Haltestellen zu ermöglichen ist und andere Fahrzeuge, wenn nötig, warten müssen.
21
Diese dem fließenden Verkehr auferlegte Verpflichtung schränkt den sich aus § 10 StVO ergebenden Vorrang des fließenden Verkehrs insoweit ein, als dieser eine durch das Anfahren der Linienfahrzeuge entstehende Behinderung hinzunehmen hat (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 20 StVO Rn. 12 m.w.N.).
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Diese Einschränkung des Vorrangs des fließenden Verkehrs gilt aber erst dann, wenn der Fahrer eines Omnibusses des Linienverkehrs sein Vorhaben ordnungsgemäß und rechtzeitig angezeigt hat (§ 10 Satz 2 StVO). In diesem Fall muss sich der fließende Verkehr auf das Einfahren des Busses einstellen, eine Behinderung hinnehmen und nötigenfalls auch mit einer mittelstarken Bremsung anhalten (vgl. König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 20 StVO Rn. 12 a.E.; BayObLG, Beschluss vom 22.2.1990 – 2 Ob OWi 519/89 – NZV 1990, 402, 403).
23
Bis zu der Ankündigung, die die Absicht in den fließenden Verkehr einzufahren mittels Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig anzeigt, bleibt auch in Bezug auf einen Linienbus das Vorrecht des fließenden Verkehrs bestehen. Dies hat zur Folge, dass der Anscheinsbeweis, der auf einen Verstoß gegen die in § 10 StVO normierten Sorgfaltsanforderungen schließen lässt, bis zur Betätigung eines Fahrtrichtungsanzeigers durch den Fahrer eines Linienomnibusses, auch gegenüber diesem gilt, wenn sich in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren eine Kollision mit dem fließenden Verkehr ereignet (a.A. KG Berlin in den Entscheidungen vom 24. Juli 2008 – 12 U 142/07 – und vom 1.11.2018 – 22 U 128/17, juris; sowie LG Saarbrücken, Urteil vom 05. April 2012 – 13 S 209/11, Rn. 13, juris, wonach keinem der Fahrer ein Verstoß nachgewiesen werden könne, was eine hälftige Schadensteilung nach sich ziehe).
24
Erst wenn der Fahrer des Linienbusses sichergestellt hat, dass den Anforderungen des § 10 Satz 2 StVO Genüge getan ist, also der Fahrtrichtungsanzeiger rechtzeitig zuvor gesetzt war und nach Rückschau nicht anzunehmen ist, dass andere Verkehrsteilnehmer mehr als nur mittelstark bremsen müssten, entsteht sein Vorrecht gem. § 20 Abs. 5 StVO (vgl. BGH, Beschluss vom 06. Dezember 1978 – 4 StR 130/78 –, BGHSt 28, 218-224, Rn. 10, juris: in der Entscheidung stand allerdings fest, dass der Fahrzeuglenker des Linienomnibusses geblinkt hatte), was in der Folge den Anscheinsbeweis gegen den Einfahrenden entfallen lässt (vgl. Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 20 StVO (Stand: 27.04.2017), Rn. 39 m.w.N.).
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Ist – wie hier – streitig, ob der Fahrer des Linienomnibusses den Fahrtrichtungsanzeiger überhaupt gesetzt hat, um seine Absicht, in den fließenden Verkehr einzufahren, anzukündigen, dann trifft ihn auch die Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme seines Vorrechts tatsächlich vorliegen.
26
Denn § 20 Abs. 5 StVO erlaubt es nur unter der Voraussetzung einer rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Anzeige, das ansonsten bestehende Vorrecht anderer Verkehrsteilnehmer im fließenden Verkehr zu „missachten“. Wenn das Vorrecht des Fahrers eines Linienomnibusses aber erst ab der Anzeige gilt, muss er auch beweisen, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Vorrechts, einer Ausnahmeregelung in der Straßenverkehrsordnung, vorgelegen haben.
27
Eine andere Beweislastverteilung sieht die Straßenverkehrsordnung auch nicht bei anderen Ausnahmeregelungen vor, die ein Vorrecht zu Lasten des eigentlich bevorrechtigten Verkehrs begründen. Auch im Rahmen der Inanspruchnahme des § 38 Abs. 1 StVO trifft den Halter des Einsatzfahrzeuges die Darlegungs- und Beweislast für die Umstände, aus denen er die Berechtigung herleitet, das sonst bestehende Vorrecht anderer Verkehrsteilnehmer zu „missachten“ (BGH, Urteil vom 09. Juli 1962 – III ZR 85/61 –, BGHZ 37, 336-341; Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. Juli 2011 – 4 U 23/11 –, Rn. 30; OLG Düsseldorf, Urteil vom 11. November 1991 – 1 U 129/90 –, Senat, Urteil vom 29. September 2010 – 14 U 27/10 –, Rn. 15, juris). Gem. § 38 StVO hat der Halter die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass Blaulicht und Horn rechtzeitig eingeschaltet waren und der Sonderrechtsfahrer seine verkehrsrechtlichen Sorgfaltspflichten erfüllt hat (König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 38 StVO Rn. 9 m.w.N.; KG Berlin, Urteil vom 14. Juli 1997 – 12 U 1541/96 –, juris). Erst dann ist der Fahrer unter Beachtung größtmöglicher Sorgfalt berechtigt, sein Vorrecht wahrzunehmen. Kann er sein Vorrecht nicht beweisen, kann dies zur Alleinhaftung des Rettungswagenhalters führen (Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 21. Juli 2011 – 4 U 23/11 –, juris).
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Die gleiche Beweislastverteilung ist auch im Rahmen des § 20 Abs. 5 StVO anzusetzen. Denn denjenigen, der sich auf ein Vorrecht beruft, trifft nach den allgemeinen Darlegungs- und Beweislastregeln auch die Obliegenheit, dessen Voraussetzungen darzulegen und ggf. zu beweisen (vgl. zu § 38 StVO: Wern, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 38 StVO (Stand: 12.06.2020), Rn. 23).
29
Dies ist der Beklagten nach den vorgenannten Maßgaben nicht gelungen. Nach dem nicht zu beanstandenden Ergebnis der Beweisaufnahme des Landgerichts konnte nicht geklärt werden, ob der Zeuge R. als Fahrer des Linienomnibusses seine Absicht, nach links in den fließenden Verkehr einzufahren, durch einen Fahrtrichtungsanzeiger angekündigt hat, bevor er in diesen eingefahren ist.
30
Die Beklagte konnte insoweit nicht beweisen, dass ihr das Vorrecht aus § 20 Abs. 5 StVO zugestanden hat. Der Anscheinsbeweis, der im Rahmen des § 10 StVO grundsätzlich für das Verschulden des Ein- oder Ausfahrenden spricht, wenn es in einem unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Ein- oder Anfahren zu einem Unfall gekommen ist, bleibt daher bestehen.
31
(2) Der Beklagten ist indes kein Verstoß gegen § 9 Abs. 1 StVO anzulasten, wonach beim Abbiegen eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs auszuschließen ist. Der Begriff erfasst jede Fahrtrichtungsänderung im Längsverkehr, bei der der Fahrzeugführer seine Fahrbahn nach der Seite verlässt oder auf ihr in einem Bogen die Gegenrichtung oder den gegenüberliegenden Straßenrand zu erreichen versucht (Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 9 StVO (Stand: 07.08.2018), Rn. 8). Ausweislich der Feststellungen des Sachverständigen (Gutachten vom 9.2.2021, Seite 8) war der Linienomnibus bei der Kollision noch nicht in den Längsverkehr eingeordnet gewesen, sondern dabei, von der Haltestelle anzufahren.
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bb) Seitens des Klägers kann kein Verschulden an dem Verkehrsunfall festgestellt werden.
33
(1) Der Kläger hat nicht gegen § 20 Abs. 5 StVO verstoßen. Die Inanspruchnahme ihres Vorrechts ist durch die Beklagte nicht bewiesen worden (s.o.).
34
(2) Dem Kläger kann darüber hinaus auch kein Verstoß gegen § 20 Abs. 1 StVO angelastet werden. Danach ist an haltenden Omnibussen des Linienverkehrs nur vorsichtig vorbeizufahren. Vorsichtiges Vorbeifahren setzt in der Regel eine mäßige Geschwindigkeit voraus, die im Einzelfall, etwa wenn mit dem Heraustreten von Kindern zu rechnen ist, auch Schrittgeschwindigkeit bedeuten kann (Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 17. Juli 2007 – 4 U 338/06 – 108 –, Rn. 41, juris). Wenn es keine weiteren Anhaltspunkte gibt, die eine deutliche Geschwindigkeitsreduzierung bis zum Anhalten gebieten, kann unter einer vorsichtigen Fahrweise eine Geschwindigkeit von jedenfalls nicht mehr als 30 km/h verstanden werden (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 13. April 2010 – 9 U 62/08 –, Rn. 26, juris; KG Hinweisbeschluss v. 1.11.2018 – 22 U 128/17, BeckRS 2018, 33246 Rn. 17, beck-online; Spelz, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 20 StVO (Stand: 27.04.2017), Rn. 20).
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Nach diesen Maßgaben ist ein Verschulden des Klägers nicht bewiesen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen ist der Kläger eine Ausgangsgeschwindigkeit von etwa 30 km/h gefahren (Gutachten vom 9.2.2021, Seite 12). Die Beklagte hat im Rahmen ihrer Berufungserwiderung ohnehin keinen Angriff geführt, der zu einer Quotenverschiebung zu Lasten des Klägers hätte führen können.
36
c) Bei einer vorzunehmenden Abwägung verbleibt auf Seiten des Klägers eine erhöhte Betriebsgefahr seines Kraftfahrzeuges, die mit 25% zu bemessen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann die allgemeine Betriebsgefahr durch besondere Umstände erhöht sein, was bei der Schadensteilung mit zu berücksichtigen ist (BGH, Urteil vom 27. Juni 2000 – VI ZR 126/99 –, Rn. 23, juris m.w.N.; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 17 StVG Rn. 11 m.w.N.). Erhöht ist die Betriebsgefahr, wenn die Gefahren, die regelmäßig und notwendigerweise mit dem Betrieb des Kraftfahrzeuges verbunden sind, durch das Hinzutreten besonderer unfallursächlicher Umstände vergrößert werden (Scholten, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 17 StVG (Stand: 28.03.2018), Rn. 21).
37
Dies war vorliegend der Fall. Bereits aus dem Wortlaut des § 20 Abs. 1 StVO folgt, dass an haltenden Linienomnibussen nur vorsichtig vorbeizufahren ist. Dies intendiert die gesetzgeberische Wertung, welche beinhaltet, dass es sich dabei um ein Fahrmanöver handelt, aus welchem eine abstrakt erhöhte Gefährlichkeit erwächst. Zu der dem Kraftfahrzeug ohnehin innewohnenden Betriebsgefahr von 20 % (st. Rspr. u.a. des Senats, vgl. etwa Urteil vom 15.05.2018 – 14 U 175/17 – juris, Urteil vom 27.09.2001 – 14 U 296/00 – juris) kommt insoweit ein weiterer gefahrträchtiger Umstand hinzu.
38
Dieser Umstand war auch erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden, ansonsten hätte er außer Ansatz bleiben müssen (vgl. BGH, Urteile vom 10. Januar 1995 – VI ZR 247/94, VersR 1995, 357 f.; vom 21. November 2006 – VI ZR 115/05, VersR 2007, 263 Rn. 15 m.w.N.; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 17 StVG Rn. 5 f. m.w.N.), was eine erhöhte Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs in dieser konkreten Unfallsituation rechtfertigt.
39
Ausgehend von der gesetzgeberischen Wertung einer abstrakten Gefährdungssituation hat sich diese ausgewirkt, indem es zu einer Kollision zwischen dem vorbeifahrenden klägerischen Fahrzeug und dem Linienbus gekommen ist, der in den fließenden Verkehr einfahren wollte. Der Kläger ist insoweit mit den gutachterlich festgestellten 30 km/h zwar noch „vorsichtig“ im Sinne des § 20 Abs. 1 StVO gefahren, so dass ihm kein Verschulden zur Last gelegt werden kann. Er hatte mit dieser Geschwindigkeit aber dennoch die Obergrenze der vom Gesetzgeber geforderten vorsichtigen Fahrweise erreicht, was sich in der konkreten Situation gefahrerhöhend niedergeschlagen hat. Denn er konnte mit der gefahrenen Geschwindigkeit nicht mehr unfallvermeidend reagieren, als der Linienbus zum Einfahren in den fließenden Verkehr angesetzt hat, und ist seitlich in den Linienomnibus hineingefahren.
40
2. Der Kläger hat gem. § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB einen Anspruch auf Zahlung von 75% seines Schadens, was einem Betrag in Höhe von 5.436,23 € entspricht. Von diesem Betrag ist der seitens der Beklagten erklärte begründete Aufrechnungsbetrag in Höhe von 25%, 987,35 €, in Abzug zu bringen, so dass dem Kläger ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 4.448,88 € verbleibt.
41
Der Zinsanspruch ergibt sich aus § 286 Abs. 1, § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
III.
42
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
43
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
IV.
44
Die Revision ist zuzulassen. Dies ist gem. § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO der Fall, wenn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert. Eine solche Entscheidung ist dann erforderlich, wenn in der angefochtenen Entscheidung ein abstrakter Rechtssatz aufgestellt wird, der von einem in anderen Entscheidungen eines höheren oder eines gleichgeordneten Gerichts aufgestellten abstrakten Rechtssatz abweicht (BGH, Beschluss vom 01. Oktober 2002 – XI ZR 71/02 –, BGHZ 152, 182-194, Rn. 12 m.w.N.). Ferner ist die Revision zuzulassen, wenn aufgrund der Publizitätswirkung zu erwarten ist, dass ein Nachahmungseffekt gegeben ist, so dass eine höchstrichterliche Leitentscheidung notwendig ist (BGH, Beschluss vom 04. Juli 2002 – V ZR 75/02 –, Rn. 8, juris). Dies ist vorliegend der Fall.
45
Das Kammergericht Berlin hat in dem Beschluss vom 1.11.2018 – 22 U 128/17, Rn. 19, juris, die Ansicht vertreten, die Klägerin habe zu widerlegen, dass rechtzeitig der Fahrtrichtungsanzeiger des Linienomnibusses gesetzt worden sei. Die gleiche Beweislastverteilung hat das Kammergericht bereits in der Entscheidung vom 24. Juli 2008 – 12 U 142/07 –, Rn. 9, juris, vorgenommen. Diese Ansicht wird auch in der Entscheidung des Landgerichts Saarbrücken vertreten (Urteil vom 05. April 2012 – 13 S 209/11, Rn. 13, juris), das zwar kein gleichgeordnetes Gericht ist, dessen Entscheidung aber einen hohen Verbreitungsgrad erfahren hat.
46
Eine obergerichtliche Entscheidung ist notwendig, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern. Alle vorgenannten Entscheidungen wurden publiziert und von der Kommentarliteratur aufgegriffen, so dass zu erwarten ist, dass es den o.g. Nachahmungseffekt gibt (vgl. exemplarisch zur Publikation der vorgenannten Entscheidungen: Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, Rn. 522; Spelz, in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 20 StVO (Stand: 27.04.2017), Rn. 39; König, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 45. Aufl. 2019, § 20 StVO Rn. 16; Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Heß, 26. Aufl. 2020, StVO § 20 Rn. 9).
V.
47
Die Festsetzung des Streitwertes für das Berufungsverfahren folgt aus § 3 ZPO, § 47 Abs. 1 GKG.