OLG Koblenz, Urteil vom 24. August 2020 – 12 U 1962/19
Zur Haftungsverteilung bei Kollision zweier Motorräder innerhalb eines Motorradkonvois
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das am 14.10.2019 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Koblenz abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Klage ist hinsichtlich des Klageantrages zu 1. dem Grunde nach unter Berücksichtigung eines klägerseitigen Mitverschuldens von 80 % gerechtfertigt.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger die weiteren materiellen Schäden, die ihm aus dem Verkehrsunfallereignis vom 07.08.2017 (…) erwachsen, zu 20 % sowie die weiteren immateriellen Schäden aus dem genannten Unfallereignis unter Berücksichtigung eines klägerseitigen Mitverschuldens von 80 % zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Umfang der Klageabweisung wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Die Entscheidung über die Kosten, auch hinsichtlich der Kosten des Berufungsverfahrens, bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
IV. Zur Verhandlung und Entscheidung über die Höhe der Ansprüche und über die Kosten, einschließlich der Kosten der Berufung, wird die Sache an das Landgericht Koblenz zurückverwiesen.
V. Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I.
1
Der Kläger begehrt Ersatz des ihm entstandenen materiellen und immateriellen Schadens im Zusammenhang mit einem Unfallereignis, das sich am 07.08.2017 im Kreuzungsbereich der L … und der B… ereignet hat. Bei einem gemeinsamen Motorradausflug kam es in Annäherung an die Einmündung zur B … zu einer seitlichen Berührung beider Fahrzeuge, so dass der Kläger mit seinem Motorrad nach rechts kippte und mit dem Körper gegen einen Standpfosten der Leitplanke prallte, wodurch er sich schwerste körperliche Verletzungen mit irreparablen Schäden zuzog.
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Auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil wird zur weiteren Sachdarstellung Bezug genommen.
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Der Kläger hat in erster Instanz beantragt,
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1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn für alle bisher eingetretenen Verletzungsfolgen aus dem Verkehrsunfallereignis vom 07.08.2017 (…) ein angemessenes Schmerzensgeld unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 50 % zu zahlen, dessen Höhe ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit,
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hilfsweise,
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die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn aus dem Verkehrsunfallereignis vom 07.08.2017(…) ein angemessenes Schmerzensgeld unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 50 % zu zahlen, dessen Höhe ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit;
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2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm jedweden weiteren materiellen und immateriellen Schaden aus dem in Ziffer 1. genannten Ereignis unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 50 % zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden;
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3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, ihn von der Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.509,19 € freizustellen.
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Die Beklagten haben beantragt.
10
die Klage abzuweisen.
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Mit am 14.10.2019 verkündetem Urteil hat das Landgericht die Klage im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, der Kläger habe das Unfallgeschehen unter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 StVO allein schuldhaft herbeigeführt; hinter diesem Verkehrsverstoß müsse die von dem Motorrad des Beklagten zu 2. ausgehende Betriebsgefahr zurücktreten.
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Wegen der weiteren Erwägungen des Landgerichts wird auf die Ausführungen in den Gründen des angefochtenen Urteils verwiesen.
13
Unter Wiederholung, Ergänzung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens greift der Kläger das landgerichtliche Urteil mit der Berufung an und verfolgt sein erstinstanzliches Klagebegehren weiter.
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Der Kläger beantragt, unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Koblenz
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1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn für alle bisher eingetretenen Verletzungsfolgen aus dem Verkehrsunfallereignis vom 07.08.2017 (…) ein angemessenes Schmerzensgeld unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 50 % zu zahlen, dessen Höhe ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit,
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hilfsweise,
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die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn aus dem Verkehrsunfallereignis vom 07.08.2017(…) ein angemessenes Schmerzensgeld unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 50 % zu zahlen, dessen Höhe ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit;
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2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm jedweden weiteren materiellen und immateriellen Schaden aus dem in Ziffer 1. genannten Ereignis unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 50 % zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden;
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3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, ihn von der Zahlung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.509,19 € freizustellen.
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Die Beklagten beantragen,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die wechselseitig zu den Akten gereichten Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.
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Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung des unfallaufnehmenden, protokollführenden Polizeibeamten Polizeikommissar …[A] sowie durch informatorische Anhörung des Klägers und des Beklagten zu 2.. Wegen des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 22.06.2020 (Bl. 58 – 65 der elektronischen Akte) Bezug genommen.
II.
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Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache teilweise Erfolg.
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Dem Kläger steht dem Grunde nach ein Anspruch auf Ersatz des ihm aufgrund des streitgegenständlichen Unfallereignisses entstandenen materiellen und immateriellen Schadens nach §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 und 2, 18 StVG, 823 BGB, 115 VVG zu 20 % bzw. unter Berücksichtigung eines eigenen Mitverschuldens von 80 % zu.
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Mit dem Landgericht geht auch der Senat im Ergebnis davon aus, dass allein das Fahrverhalten des Klägers in ursächlicher Weise zu dem Unfallereignis geführt hat, während dem Beklagten zu 2. ein den Unfall verursachendes schuldhaftes Verhalten nicht nachgewiesen werden kann.
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Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass das Unfallgeschehen seinen Ausgang in der Überlegung des Klägers genommen hat, es sei bei entsprechend „zügiger Fahrweise“ gefahrlos möglich, vor dem auf der B … herannahenden Pkw den Kreuzungsbereich zu passieren; er war der Meinung, auch der Beklagte zu 2. trage sich mit dieser Absicht. Vor diesem Hintergrund sah der Kläger keine Veranlassung, sein Fahrzeug derart abzubremsen und den Abstand zu dem vorausfahrenden Beklagten zu 2. zu vergrößern, dass es ihm möglich gewesen wäre, sein Motorrad gefahrlos im Einmündungsbereich zu der B … zum Stillstand zu bringen. Diese Situation wurde noch dadurch verschärft, dass der Kläger in Annäherung an die Bundesstraße seinen Blick zunächst seitlich richtete, um durch den Baumbewuchs hindurch den dort von der B … herannahenden Verkehr zu beobachten und sein Augenmerk dabei nicht auf das Fahrverhalten des vorausfahrenden Beklagten zu 2. lenkte. Als der Kläger anschließend wieder nach vorne schaute, musste er feststellen, dass der Beklagte zu 2. die Geschwindigkeit seines Motorrads verzögert hatte und die Gefahr bestand, dass es zu einem Aufprall auf das Beklagtenfahrzeug kommen würde, wenn er, der Kläger, nicht zu der rechten oder linken Seite ausweichen würde. In dieser Situation fasste der Kläger den Entschluss, sich mit seinem Motorrad nach rechts neben den Beklagten zu 2. „zu setzen“.
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Dieser Sachverhalt steht zur Überzeugung des Senats fest aufgrund der eigenen Angaben des Klägers im Termin der mündlichen Verhandlung vom 22.06.2020 sowie aufgrund der Aussage des Zeugen PK …[A].
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Der Kläger hat in diesem Zusammenhang ausgeführt: „Ob ich hinter dem Beklagten auch noch zum Stehen hätte kommen können, konnte ich damals nicht so richtig einordnen. Ich habe mich aus diesem Grund entschieden, rechts neben ihn zu fahren. Das erschien mir als der sicherste Weg. … Ich selbst hätte in diesem Moment keine Schwierigkeiten gehabt, bis zur Haltelinie zum Stillstand zu kommen. Ich war mir nur nicht ganz sicher, ob ich hinter ihm auch noch anhalten kann. Auch das war einer der Gründe, warum ich mich entschieden hatte, neben ihn zu fahren.“. Weiter erklärte der Kläger: „Diese rechte Fahrspur hat auch den Vorteil, dass wegen der spitzen Einmündung man dort noch etwas weiter bis zu Haltelinie fahren kann.“. Diese Ausführungen stehen auch in Einklang mit den Angaben im Unfallaufnahmebericht des Zeugen …[A], der, die Richtigkeit seiner damaligen Niederschrift in der mündlichen Verhandlung bestätigend, nach einer getrennten Befragung beider Parteien an der Unfallstelle im Protokoll festgehalten hat: „… Hierbei muss ON 02 verkehrsbedingt abbremsen. Dies wird durch ON 01 zu spät bemerkt. Dieser versucht rechtsseitig auszuweichen, kollidiert jedoch leicht mit der rechten Heckseite von ON 02. ON 01 kratzt rechtsseitig an ON 02 vorbei. Er verliert die Kontrolle über sein Fahrzeug. …“.
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Auf der Grundlage dieses Sachverhalts steht fest, dass der Kläger, bevor es zu dem unfallursächlichen Fahrmanöver kam, entweder den erforderlichen Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug des Beklagten zu 2. (§ 4 Abs. 1 StVO) und/oder die nach § 3 Abs. 1 StVO der konkreten Verkehrssituation angepasste Geschwindigkeit nicht eingehalten hat, die es ihm ermöglicht hätten, sein Fahrzeug jederzeit sicher zu beherrschen, und/oder nicht die gebotene Aufmerksamkeit hat walten lassen (Wahlfeststellung). Durch dieses Verhalten hat der Kläger das Unfallgeschehen in erheblichem Maße selbst verschuldet.
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Demgegenüber ist ein schuldhaftes, unfallursächliches Verhalten des Beklagten zu 2. nicht nachweisbar. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Rahmen der Haftungsabwägung nach § 17 StVG nur unstreitige, zugestandene oder erwiesene Tatsachen haftungsbegründend zu berücksichtigen sind (BGH NZV 05, 407).
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Soweit ein unfallursächliches Fahrverhalten des Beklagten zu 2. hier darin bestehen könnte, dass er nach den Angaben des Klägers die Geschwindigkeit seines Motorrades in der Anfahrt auf den Kreuzungsbereich der B … „stark“ verzögerte, kann hierin ein verkehrswidriges Verhalten nicht gesehen werden. Unabhängig von der Frage, ob es entsprechend der Einschätzung des Klägers gefahrlos möglich gewesen wäre, vor dem herannahenden Pkw auf die Bundesstraße abzubiegen, war es dem Beklagten zu 2. nicht vorwerfbar, dass er unter Beachtung der Grundsätze des § 8 Abs. 2 StVO seine Geschwindigkeit verlangsamte, um diesem Fahrzeug die Vorfahrt zu gewähren. Insoweit darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass es sich hier um einen Kreuzungsbereich handelt, der aus Sicht der von der L … herannahenden Verkehrsteilnehmer nur sehr schwer einsehbar ist und eine extreme Gefahrenstelle darstellt, die es geboten erscheinen lässt, äußerste Vorsicht walten zu lassen. Der Senat geht hier davon aus, dass es, entgegen den Ausführungen des Klägers, jedenfalls aufgrund der vorhandenen Vegetation nicht möglich war, zum Unfallzeitpunkt einen verlässlichen und hinreichend sicheren Überblick über die Verkehrslage auf der B … zu erlangen. So hat der Zeuge …[A] anschaulich und nachvollziehbar dargelegt: „Die Möglichkeit aus der L … in die B … einzusehen, ist äußerst schlecht. Im Winter mag man schon von etwas weiter eine gewisse Sicht auf die B … haben. Im Sommer, wenn die Vegetation Blätter trägt, hat man in der Annäherung an die Einmündung eigentlich überhaupt keine Sicht auf die B …. Es mag zwischendurch kleine Lücken geben, durch die man kurz durchschauen kann. Eine zuverlässige Sicht hat man aber erst, wenn man ganz vorne an der Einmündung steht und sich nach links wendet.“.
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Bei dieser Sachlage, von der auch der Senat angesichts der glaubhaften Darstellung des Zeugen …[A] ausgeht und die sich auch anhand der bei der Gerichtsakte befindlichen Lichtbilder erschließt, war es aus Sicht des Beklagten zu 2. dringend geboten, um Einblick in den linksseitigen Verkehrsraum der B … zu gewinnen, im Einmündungsbereich anzuhalten oder sich diesem jedenfalls mit einer Geschwindigkeit anzunähern, die ein jederzeitiges Anhalten erlaubte.
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Auch kann der Kläger nicht mit Erfolg einwenden, der Beklagte zu 2. habe sein Motorrad stark verzögert. Zum einen war der Beklagte zu 2., wie ausgeführt, gehalten, seine Geschwindigkeit so rechtzeitig zu drosseln, dass er in der Lage war, sein Fahrzeug vor der Einmündung auf die B … rechtzeitig zum Stillstand zu bringen. Darüber hinaus wäre der Kläger dem Rechtsfahrgebot des § 4 StVO nur dann gerecht geworden, wenn er zu dem Beklagten zu 2. einen Abstand eingehalten hätte, der es ihm erlaubt hätte, selbst auf eine Notbremsung angemessen zu reagieren (BGH NJW 87, 1075). Diesen Sorgfaltsanforderungen trägt das Fahrverhalten des Klägers in keiner Weise Rechnung.
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Schließlich hat der Kläger auch nicht den Nachweis für seine Behauptung erbringen können, der Beklagte zu 2. habe, als er, der Kläger, sich bereits mit dem Motorrad rechts neben dem Fahrzeug des Beklagten zu 2. befunden habe, plötzlich nach rechts herübergelenkt, so dass es zu einer impulsartigen Berührung beider Fahrzeuge gekommen sei mit der Folge, dass er, der Kläger, mit seinem Motorrad nach rechts gekippt sei. Der Beklagte zu 2. ist dieser Darstellung entgegengetreten und hat insoweit ausgeführt, er habe in Annäherung an den Einmündungstrichter lediglich seine Fahrlinie beibehalten und sei etwa mittig der Fahrbahn auf den Kreuzungsbereich zugefahren. Einen Schlenker habe er nicht gemacht.
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Auch der Zeuge …[A], der – ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, im Vorfeld seiner Vernehmung Einblick in schriftliche Unterlagen zu nehmen – die Situation am Unfallort noch sehr genau in Erinnerung hatte und sich auch an Details der Unfallschilderung beider Parteien erinnern konnte, hat bekundet, die einzige Diskrepanz zwischen den Darstellungen beider Parteien habe darin bestanden, dass diese jeweils von unterschiedlichen Einschätzungen hinsichtlich der Frage ausgegangen seien, ob ein gefahrloses Einbiegen auf die B … vor dem dort herannahenden PKW möglich gewesen wäre. Der Zeuge …[A] konnte sich entsprechend seiner Darlegungen im Unfallaufnahmeprotokoll auch noch daran erinnern, dass als Unfallursache die Tatsache im Raum gestanden hatte, dass der Kläger die Situation anders eingeschätzt gehabt hatte als der vorausfahrende Beklagte zu 2. und davon überrascht worden war, dass der Beklagte zu 2. den Pkw auf der B … passieren lassen wollte und zu diesem Zweck die Geschwindigkeit seines Motorrades verzögerte.
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Schließlich kann zu Lasten des Beklagten zu 2. ein Schuldvorwurf auch nicht daraus hergeleitet werden, dass er entgegen den sich aus § 9 Abs. 1 StVO ergebenden Sorgfaltsanforderungen seiner Rückschaupflicht nicht im erforderlichen Maße nachgekommen sei. Zwar wird in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten (BayObLG NZV 1991, 162 unter Hinweis auf OLG Düsseldorf DAR 1980, 157), dass der Rechtsabbieger nicht ohne weiteres darauf vertrauen kann, nicht von einem Zweiradfahrer – wenn auch in verkehrswidriger Weise – rechts überholt zu werden. Ein solches Vertrauen ist hiernach allenfalls dann gerechtfertigt, wenn er einen so geringeren Abstand zum rechten Fahrbahnrand einhält, dass schon in räumlicher Hinsicht ein solches Überholmanöver ausgeschlossen erscheint. Andernfalls ist der Rechtsabbieger grundsätzlich gehalten, auch den nachfolgenden Verkehr in den Blick zu nehmen und durch Rückschau darauf zu achten, dass es nicht zu einer Gefahrensituation im Hinblick auf rechtsseitig herannahende Verkehrsteilnehmer kommt. Über die Frage, ob der Seitenabstand des Beklagten zu 2. vom rechten Fahrbahnrand im vorliegenden Fall ein solches Maß erreichte, dass er darauf vertrauen durfte, der Kläger werde sich mit seinem Motorrad nicht rechts „neben ihn setzen“, hatte der Senat angesichts der besonderen Umstände des hier zu beurteilenden Sachverhalts nicht zu befinden. Dem Kläger war im vorliegenden Fall – und dies hat er anlässlich seiner Anhörung im Termin der mündlichen Verhandlung vom 22.06.2020 nochmals klar und unmissverständlich bekundet -, bewusst, dass der Beklagte zu 2. beabsichtigte, an der Kreuzung rechts abzubiegen. Dies war zwischen dem Kläger und dem Beklagten zu 2., die sich auf dem Heimweg befanden, so abgesprochen. Es bedurfte somit weder äußerer Zeichen des Beklagten zu 2., um dem Kläger zu signalisieren, er, der Beklagte zu 2., werde sogleich nach rechts abbiegen, noch musste der Beklagte zu 2. davon ausgehen, der Kläger werde in Unkenntnis seiner Abbiegeabsicht rechts an ihm vorbeifahren. Vielmehr durfte der Beklagte zu 2. in dieser Situation darauf vertrauen, dass sich der Kläger verkehrsgerecht verhalten werde.
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Unabhängig von den vorstehenden Überlegungen hat sich in dem vorliegenden Unfallereignis auch nicht eine Gefahr realisiert, die typischerweise durch eine – vermeintlich gebotene – Rückschau seitens des Beklagten zu 2. hätte abgewendet werden können. Die zu dem Unfallereignis führende Gefahrenlage war vielmehr der Tatsache geschuldet, dass der Kläger nach seiner Einschätzung davon ausgegangen war, man werde vor dem auf der B … herannahenden Pkw einbiegen können und/oder dabei nicht das notwendige Augenmerk auf den vorausfahrenden Beklagten zu 2. richtete. Die Gefahrensituation war mithin aus einer Notlage entstanden, eine Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug durch ein Ausweichmanöver nach rechts zu vermeiden.
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Von einem dem Beklagten zu 2. vorwerfbaren „fahrtechnischen“ Fehlverhalten ist daher nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme unter keinem in Betracht kommenden Gesichtspunkt auszugehen. Nach allem sind feststehende Anhaltspunkte für eine schuldhafte (Mit-)Verursachung des Unfallgeschehens durch den Beklagten zu 2. nicht gegeben.
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Ein Schadensersatzanspruch des Klägers gegen den Beklagten zu 2., für den die Beklagte zu 1. nach § 115 VVG einzustehen hat, ergibt sich vorliegend jedoch gänzlich unabhängig von einem fehlenden Verschulden des Beklagten zu 2. aus der Betriebsgefahr seines Motorrads. Diese Halterhaftung begründet dabei nicht den Ausgleich für begangenes Verhaltensunrecht, sondern für Schäden, die aus den durch den zulässigen Betrieb eines Kfz entstehenden Gefahren resultieren. Die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG ist der Preis dafür, dass durch die Verwendung eines Kfz – in erlaubter Weise – eine Gefahrenquelle eröffnet wird. Sie soll daher alle durch den Kfz-Verkehr beeinflussten Schadensabläufe erfassen. Grundsätzlich ist ein Schaden demgemäß bereits dann bei dem Betrieb eines Kfz entstanden, wenn sich von einem Kfz ausgehende Gefahren ausgewirkt haben. Die Betriebsgefahr eines Kfz besteht letztlich in der Gesamtheit der Umstände, die – durch die Eigenart als Kfz begründet – Gefahren in den Verkehr tragen. Sie wird durch die Schäden bestimmt, die dadurch Dritten drohen.
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Vorliegend hat sich die von dem Motorrad des Beklagten zu 2. ausgehende Betriebsgefahr in dem Unfallereignis ursächlich ausgewirkt. Die Kollision beider Fahrzeuge ereignete sich, als sich der Beklagte zu 2. mit seinem Motorrad in der Anfahrt auf den Einmündungstrichter zur B … befand.
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In einer Gesamtabwägung der Haftungsverantwortlichkeiten nach § 17 Abs. 1 StVG bemisst der Senat den auf die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs entfallenden Haftungsanteil hier mit 20 %.
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Demgegenüber können sich die Beklagten nicht darauf berufen, eine Haftung sei gänzlich ausgeschlossen, weil es sich vorliegend um ein für den Beklagten zu 2. unabwendbares Ereignis i. S. d. § 17 Abs. 3 StVG handele. Unabwendbar ist ein Ereignis, das durch äußerste mögliche Sorgfalt nicht abgewendet werden kann (BGH VI ZR 62/91, Urteil vom 17.03.1992, juris). Erforderlich ist ein sachgemäßes geistesgegenwärtiges Handeln, das erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinne von § 276 BGB hinausgeht (BGH VI ZR 136/85, Urteil vom 23.09.186, juris), wozu auch gehört, dass der Fahrzeugführer naheliegende Gefahrenlagen erkennt und in seine Gefahrenprognose zugleich erhebliche fremde Fahrfehler einstellt, auf die er mit der gebotenen Vorausschau und Umsicht unfallverhütend reagiert. Der Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfalles geltend machen will, muss sich wie ein Idealfahrer verhalten haben (BGH VI ZR 258/83, Urteil vom 28.05.1985, juris; BGH VI ZR 75/86, Urteil vom 17.02.1987, juris). Dieser, den Beklagten obliegende Entlastungsbeweis aus § 17 Abs. 3 StVG ist vorliegend nicht geführt. Der Beklagte zu 2. hat bei seiner Anhörung ausgeführt, er habe in Annäherung an den eigentlichen Einmündungsbereich gesehen, dass sich auf der B … ein Fahrzeug näherte. Die Geschwindigkeit dieses Fahrzeugs sei für ihn im ersten Moment etwas kritisch einzuschätzen gewesen. Vor dem Fahrzeug auf die B … aufzufahren, wäre nur gegangen, wenn er beschleunigt hätte. Ein Idealfahrer in dieser Lage hätte aus Sicht des Beklagten zu 2. auch den ihm nachfolgenden Verkehr, und damit den Kläger im Blick gehabt und darauf geachtet, ob dieser die Situation ebenso einschätzte wie er, der Beklagte zu 2., und seine Geschwindigkeit auf ein Maß reduziert, das ihm erlaubte sein Motorrad vor der Einmündung anzuhalten oder jedenfalls soweit zu verlangsamen, dass der herannahende Pkw gefahrlos passieren konnte. Ein Idealfahrer in der Position des Beklagten zu 2. hätte das von dem Kläger an den Tag gelegte Fahrverhalten in seine Gefahrenprognose eingestellt. Da der Entlastungsbeweis aus § 17 Abs. 3 StVG den Beklagten obliegt, muss in diesem Zusammenhang auch zu Lasten des Beklagten zu 2. gehen, dass er die Behauptung des Klägers, er habe sich auf der L … linksorientiert dem Einmündungsbereich genähert, nicht zweifelsfrei widerlegen konnte (auch wenn dieser Umstand – als nicht bewiesen – die Annahme eines (Mit-)Verschuldens auf Klägerseite nicht begründen konnte). Die Beklagten haben nach allem die Unabwendbarkeit des Unfallereignisses durch den Beklagten zu 2. nicht beweisen können.
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Ebenso wenig ist dem Kläger ein derart gravierendes (Mit-)Verschulden an dem Unfallereignis anzulasten, dass die auf Seiten der Beklagten bestehende Betriebsgefahr dahinter vollständig zurücktreten würde. Wegen der einem durchschnittlichen Pkw deutlich überlegenen Beschleunigungsfähigkeit von Motorrädern ist es unter Motorradfahrern nicht unüblich, aus einer grundsätzlich wartepflichtigen Straße kommend noch knapp vor einem auf der vorfahrtsberechtigten Straße herannahenden Pkw einzubiegen. Die Fehleinschätzung des Klägers hinsichtlich des bevorstehenden Fahrverhaltens des Beklagten zu 2., die dazu geführt hat, dass er, der Kläger, entweder den erforderlichen Abstand zu dem vorausfahrenden Fahrzeug des Beklagten zu 2. (§ 4 Abs. 1 StVO) und/oder die nach § 3 Abs. 1 StVO der konkreten Verkehrssituation angepasste Geschwindigkeit nicht eingehalten hat, ist daher nur dem Bereich einer eher leichten Fahrlässigkeit zuzuordnen, die zu keiner Verdrängung der beklagtenseitigen Betriebsgefahr führt.
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Die Beklagten haften daher mit der von dem Beklagtenfahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr für die unfallbedingt erlittenen materiellen Schäden des Klägers dem Grunde nach in einem Haftungsumfang von 20 % bzw. hinsichtlich der immateriellen Schäden unter Berücksichtigung eines eigenen Mitverschuldens des Klägers von 80 %. Dies gilt nicht nur für den als Zahlungsanspruch geltend gemachten Schmerzensgeldbetrag, sondern auch hinsichtlich des darüber hinaus geltend gemachten Feststellungsanspruchs. Ein umfassendes Feststellungsinteresse des Klägers ergibt sich bereits aus den erlittenen Verletzungen. So werden die Folgen der eingetretenen Querschnittslähmung nach derzeitigem medizinischen Stand dauerhaft bestehen bleiben, ohne dass bereits jetzt abschließend beurteilt werden könnte, welche materiellen Schäden diese Verletzung für den Kläger noch nach sich ziehen wird und inwieweit möglicherweise im Laufe der Jahre unfallbedingte medizinische Komplikationen auftreten, die derzeit noch nicht absehbar sind.
III.
46
Die Kostenentscheidung, einschließlich der Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens, bleibt dem Schlussurteil vorbehalten (Einheit der Kostenentscheidung); eine Entscheidung über die Vollstreckbarkeit dieses Berufungsurteils nach § 708 Nr. 10 ZPO ist nur zur Aufhebung der Vollstreckbarkeit aus dem aufgehobenen erstinstanzlichen Urteil veranlasst (vgl. Zöller/Heßler, ZPO, § 538 Rn. 59).
47
Beschluss
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Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 235.000,00 € festgesetzt.