OLG Hamm, Urteil vom 14.09.2007 – 9 U 38/07
Ein gewisser Anfahrruck des Linienbusses im Straßenfahrbetrieb ist ein normaler Vorgang, mit dem jeder Fahrgast rechnen muss (Rn.9).
Ein Busfahrer darf darauf vertrauen, dass die Fahrgäste ihrer Verpflichtung, sich stets einen festen Halt zu verschaffen nachkommen (Rn.10).
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das am 03. Januar 2007 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsmittels werden dem Kläger auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Dem Kläger wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger seinerseits vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Gründe
I.
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Der Kläger hat von der Beklagten aus abgetretenem Recht seiner Ehefrau Zahlung eines Schmerzensgeldes (Vorstellung: 4.500,– Euro) sowie Feststellung ihrer Einstandspflicht für Zukunftsschäden begehrt und außerdem die Beklagte aus eigenem Recht auf materiellen Schadensersatz (17,01 Euro) in Anspruch genommen.
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Die 1945 geborene Ehefrau des Klägers – die Zeugin H – stieg am 20.03.2006 gegen 16.00 Uhr an der I-Straße in I3 in den Linienbus S 4 der Beklagten, der von dem Zeugen I gefahren wurde.
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Der Kläger behauptet, der Zeuge G habe durch ein ruckartiges und schnelles Anfahren einen Sturz seiner Ehefrau zu einem Zeitpunkt verursacht, als diese sich auf dem Weg zur hinteren Rückbank befunden habe. Außerdem sei der Zeuge G nach dem Sturz seiner Ehefrau so rasant weiter gefahren, dass diese mit ihrer linken Körperhälfte gegen eine Sitzbank gestoßen sei und sich dabei weiter verletzt habe. Seine Ehefrau habe sich bei dem Vorfall mehrere Rippenbrüche sowie zahlreiche Prellungen zugezogen.
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Die Beklagte hat Klageabweisung mit der Begründung beantragt, der Zeuge I2 sei normal angefahren und die Ehefrau des Klägers habe ihren Sturz allein verschuldet, weil sie sich pflichtwidrig während des Anfahrvorgangs keinen festen Halt verschafft habe.
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Das Landgericht hat die Klage nach Vernehmung der Zeugen H und I abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger ein ruckartiges Anfahren durch den Zeugen G nicht habe nachweisen können.
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Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung, mit der er seine erstinstanzlichen Ansprüche unverändert weiter verfolgt. Er rügt das Übergehen seines Antrags auf Vorlage der Diagrammscheibe durch die Beklagte zum Beweis für die – nach seiner Darstellung überhöhte – Geschwindigkeit des Busses während der Fahrt.
II.
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Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Das Landgericht hat im Ergebnis zu Recht eine Haftung der Beklagten für den Unfall der Zeugin H abgelehnt.
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1. Eine Haftung der Beklagten für den Sturz der Zeugin H aus § 280 BGB scheitert daran, dass der Kläger eine Verletzung der vertraglich begründeten Beförderungspflichten durch die Beklagte nicht nachzuweisen vermochte.
9
Der Kläger hat zunächst ein pflichtwidriges „Überziehen“ des Zeugen G beim Anfahren nicht bewiesen. Insoweit hat die Zeugin H lediglich bekundet, der Busfahrer sei „ruckartig“ losgefahren. Diese Aussage allein lässt noch keinen Rückschluss auf ein „Überziehen“ beim Anfahren zu, weil ein gewisser Anfahrruck des Linienbusses im Straßenfahrbetrieb ein normaler Vorgang ist, mit dem jeder Fahrgast rechnen muss. Dass der Bus mit dem bei Fahrzeugen dieser Größe unvermeidbaren Ruck angefahren ist, hat im Übrigen der Zeuge I bekundet und Gegenteiliges kann der Kläger auch nicht anhand der nunmehr in zweiter Instanz vorgelegten Diagrammscheibe nachweisen. Denn dieser Diagrammscheibe lassen sich lediglich die gefahrenen Spitzengeschwindigkeiten entnehmen, nicht aber ein etwaiges „Überziehen“ beim Anfahren von einer Haltestelle.
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Dem Zeugen G kann darüber hinaus nicht angelastet werden, dass er sich vor dem Anfahren nicht vergewissert hat, dass die Ehefrau des Klägers Platz oder Halt im Bus gefunden hatte. Denn er durfte darauf vertrauen, dass diese ihrer Verpflichtung, sich stets einen festen Halt zu verschaffen – wie sie auch in § 4 Abs. 3 der Beförderungsbedingungen der Beklagten festgelegt ist -, nachkommen werde. Besondere Umstände – wie eine erkennbare schwere Behinderung des Fahrgastes – lagen nicht vor und können insbesondere nicht aus der Aufsichtspflicht der Zeugin H gegenüber ihrem Enkelsohn hergeleitet werden. Derartige Rechtspflichten sind anders als eine körperliche Hilfsbedürftigkeit aufgrund Amputationen, Krücken oder Blindheit nicht nach außen hin erkennbar und begründen deshalb auch keine Beobachtungspflicht des Busfahrers.
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Der Kläger hat schließlich auch nicht nachweisen können, dass der Busfahrer zu schnell gefahren oder ungeachtet des Sturzes der Zeugin H weitergefahren ist. Dass der Zeuge G ihren Sturz gesehen hat, hat die Zeugin H nicht bestätigt und der Zeuge G von sich gewiesen. Auch dass der Zeuge G zu schnell gefahren ist, vermochte die Zeugin H nicht überzeugend zu begründen. Vielmehr hat sie bei ihrer Vernehmung von einer „rasanten“ Fahrweise gesprochen, die nicht zwingend eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit beinhalten muss. Auch der Diagrammscheibe lässt sich eine überhöhte Geschwindigkeit des Zeugen G nach Verlassen der Haltestelle I-Straße nicht entnehmen. Wie ausgeführt lassen sich dieser Diagrammscheibe lediglich die gefahrenen Spitzengeschwindigkeiten entnehmen ohne dass die Zuordnung einer Geschwindigkeit zu einem konkreten Haltepunkt, wie etwa der I-Straße, möglich wäre.
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2. Darüber hinaus scheidet auch eine Haftung der Beklagten für den Sturz der Zeugin H aus § 831 BGB aus.
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Zwar ist die Zeugin H während eines Fahrvorgangs des Zeugen G zu Fall gekommen und hat sich dabei verletzt, so dass die Voraussetzungen für eine Haftung der Beklagten § 831 Abs. 1 S. 1 BGB dargetan sind. Jedoch hat die Beklagte den Entlastungsbeweis gemäß § 831 Abs. 1 S. 2 BGB geführt. Denn sie hat bereits erstinstanzlich unwidersprochen vorgetragen, dass sie den Zeugen I2 nicht nur umfangreich geschult, sondern darüber hinaus auch regelmäßig kontrolliert hat und damit ihren aus dem Einsatz von Hilfspersonen folgenden Pflichten genügt hat.
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Unabhängig von einer Entlastung der Beklagten scheitert eine Haftung aus § 831 BGB aber auch an einem anspruchsausschließenden Mitverschulden der Zeugin H. Obwohl der Bus nahezu unbesetzt war und insbesondere im Einstiegsbereich ausreichend Sitzplätze zur Verfügung standen, hat die Zeugin H es verabsäumt, sich direkt nach dem Einsteigen festen Halt zu verschaffen. Damit hat sie die ihr obliegende Eigensorgfalt in einem so gröblichen Maße außer Acht gelassen, dass ein etwaiges haftungsbegründendes Verschulden der Beklagten, das hier ohnehin nur über ein vermutetes Fehlverhalten begründet werden könnte, dahinter zurücktritt.
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3. Schließlich scheidet auch eine Gefährdungshaftung der Beklagten gem. §§ 7, 8a StVG aus. Denn auch die Betriebsgefahr des Busses tritt hinter dem gröblichen Eigenverschulden der Zeugin H zurück.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 543 Abs. 2 ZPO.