Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteil vom 29. Oktober 1998 – 11 U 92/97
Zur Amtshaftung einer Gemeinde wegen Verletzung eines Kindes durch ein abstürzendes Modellflugzeug
Tatbestand
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(Übernommen aus OLGR Schleswig)
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Die seinerzeit 8jährige Klägerin hatte am 4.8.1995 gemeinsam mit ihren Eltern einen kurtaxenpflichtigen Strand in Westerland auf Sylt aufgesucht. Als sie mit ihren Eltern gegen 18.30 Uhr oder 19.15 Uhr den Strand verlassen wollte und hierbei den Strandübergang „Himmelsleiter” benutzte, wurde sie durch ein abstürzendes, ferngelenktes Segelflugmodell schwer verletzt. Das Segelflugmodell gehörte einem Kurmusiker, der das Segelflugmodell bereits einige Zeit über dem Strandabschnitt in Höhe des Zugangs „Himmelsleiter” hatte fliegen lassen.
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Die Verletzungen der Klägerin aufgrund des abgestürzten Segelflugmodells bestanden in einem offenen Unterschenkelbruch dritten Grades am linken Bein, einem kurzen Schrägbruch des Schienbeins und einem Stückbruch des Wadenbeins mit grober Dislokation. Die Klägerin wurde zunächst in Westerland, anschließend in ihrer Heimatstadt stationär behandelt. Sie begehrt von der Beklagten den Ersatz der Transportkosten, die Zahlung eines Schmerzensgelds und die Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten.
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Das LG hat der Klage nur teilweise stattgegeben und insbesondere Ansprüche aus unerlaubter Handlung abgewiesen.
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Die Berufung der Klägerin hatte Erfolg.
Entscheidungsgründe
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1. Die Klägerin ist berechtigt, von der Beklagten die Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Schadensersatzpflicht in dem vom LG ausgeurteilten und durch dieses Urteil zuerkannten Umfang zu verlangen.
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a) … Zum Zeitpunkt des Unfalls befand sich die Klägerin auf öffentlichem Verkehrsgelände, zu dem auch selbständige Gehwege gehören. In Schleswig-Holstein ist die Verkehrssicherungspflicht nach § 10 Abs. 4 StrWG als hoheitliche Tätigkeit und somit als Amtspflicht geregelt. Dies hat zur Folge, daß bei einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht Ansprüche wegen Amtspflichtverletzung gemäß § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG dem Geschädigten gegen den Träger der Straßenbaulast, in diesem Fall gegen die Beklagte, zur Verfügung stehen. Der Schadensersatzanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG wegen Verletzung der öffentlich-rechtlichen Verkehrssicherungspflicht ist inhaltlich mit der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht deckungsgleich, insbesondere steht dem Träger der Straßenbaulast nicht das Verweisungsprivileg gemäß § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB zu (BGH, v. 11.6.1992 – III ZR 134/91, MDR 1992, 1032 = NJW 1992, 2476, 2477; BGH, v. 1.7.1993 – III ZR 167/92, MDR 1994, 256 = NJW 1993, 2612, 2613). Dies bedeutet, daß die Frage der Durchsetzbarkeit von Schadensersatzansprüchen gegen den eigentlichen Schädiger für die Entscheidung dieses Rechtsstreits unerheblich ist.
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Die Anspruchsgrundlage des § 839 BGB gewinnt in diesem Fall seine besondere Bedeutung dadurch, daß die Klägerin Schmerzensgeld gemäß § 847 BGB verlangt und hierfür eine Haftung nach §§ 823 ff BGB erforderlich ist. Bejaht man die Haftungsvoraussetzungen für eine Amtspflichtverletzung, führt dies bei Körperverletzungen im Regelfall auch zur Begründetheit eines Schmerzensgeldanspruchs. …
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Der materielle Schadensersatzanspruch, der sich in beziffertem Umfang nur auf die Erstattung der Transportkosten in Höhe von 1.314 DM bezieht und im übrigen Gegenstand des Feststellungsanspruchs ist, steht der Klägerin aus eigenem Recht zu. (Wird ausgeführt.)
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2. Die Staatshaftung setzt voraus, daß die Amtspflichtverletzung durch einen Beamten in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes begangen wird. Als Beamte im haftungsrechtlichen Sinne waren in diesem Fall die von der Beklagten eingestellten Saisonkräfte tätig, denen nicht nur die Einziehung der Kurtaxe übertragen wurde, sondern sie hatten auch die erforderlichen Kontrollen durchzuführen und insbesondere auf die Einhaltungen der Bestimmungen gemäß Ziff. 21 Nr. 3 bis 6 der Dienstanweisung zu achten. Die Kontrolleure hatten auch der Grundregel in § 1 der Stadtverordnung vom 18.8.1992 und der Strand- und Badeordnung, die als Anlagen Bestandteil der Dienstanweisung waren, Geltung zu verschaffen, wonach sich jeder so zu verhalten hatte, daß kein anderer mehr als unvermeidbar beeinträchtigt wurde. Aufgrund dieser Grundregel kommt es auf Bestimmungen über das Steigenlassen von Lenkdrachen nicht mehr an, weil diese Bestimmungen allenfalls im Wege einer Analogie auch auf funkgesteuerte Segelflugmodelle anzuwenden wären.
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Amtsträger im Sinne des Amtshaftungsrechts ist jeder, der in Erfüllung öffentlich-rechtlicher Pflichten für den Hoheitsträger Dritten gegenüber tätig wird (MünchKomm./Papier, BGB, 3. Aufl., § 839 Rn. 136; Palandt/Thomas, BGB, 57. Aufl., § 839 Rn. 29). Saisonkräfte eines Eigenbetriebs, der lediglich organisatorisch verselbständigt ist, aber Bestandteil der öffentlich-rechtlichen Körperschaft bleibt, können haftungsrechtliche Beamte sein, wenn ihnen, wie hier geschehen, u.a. auch die Wahrnehmung der öffentlich-rechtlich geregelten Verkehrssicherungspflicht obliegt. Dies ist hier dadurch geschehen, daß öffentlich-rechtliche Bestimmungen gemäß Ziffer 21 der Dienstanweisung des städtischen Kurbetriebs Bestandteil der Dienstanweisung wurden und der Zweck wie folgt erläutert wurde:
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„Bereits an den Strandübergängen sollten dem Kurgast entsprechende Hinweise gegeben werden können, um somit ein evtl. Fehlverhalten am Strand von vornherein auszuschließen.”
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Da die Beachtung der Verkehrssicherungspflicht den Interessen derjenigen dient, die öffentliche Straßen und Wege benutzen und den abgabepflichtigen Bereich betreten, ist Dritter i.S.d. § 839 Abs. 1 BGB jeder, der durch die unzureichende Beachtung der Verkehrssicherungspflicht geschädigt wird. Die Klägerin ist demnach geschützte Dritte im Sinne des Amtshaftungsrechts.
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3. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH hat derjenige, der den Verkehr eröffnet und eine Gefahrenquelle schafft oder unterhält, die nach Lage der Verhältnisse erforderlichen Vorkehrungen zum Schutz der Personen zu treffen, auf die sich die Gefahrenquelle auswirkt. Diese Sicherungspflicht wird nicht durch jede theoretisch denkbare Gefährdung ausgelöst, sondern die Verkehrssicherungspflicht beschränkt sich auf das Ergreifen solcher Maßnahmen, die nach den Gesamtumständen zumutbar sind und die ein verständiger und umsichtiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schaden zu bewahren. Im Rahmen des wirtschaftlich Zumutbaren müssen Gefahren von Dritten abgewendet werden, die ihnen bei bestimmungsgemäßer oder nicht ganz fernliegender bestimmungswidriger Benutzung drohen. Haftungsbegründend wird die Nichtabwendung einer Gefahr erst dann, wenn sich vorausschauend für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Möglichkeit ergibt, daß Rechtsgüter anderer Personen verletzt werden können (Palandt/Thomas, BGB, 57. Aufl., § 823 Rn. 58 m.w.N.).
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Die Beklagte hatte in diesem Fall nicht nur die Verkehrssicherungspflicht für Straßen und Wege, insbesondere für Zuwegungen zum kurtaxenpflichtigen Bereich zu beobachten, sondern auch auf den Strand und die anschließenden Bereiche zumindest insoweit zu achten, als sie Nutzern, die die Kontrollstation passierten, Zugang gewährte. Hierbei war zu berücksichtigen, daß diese Bereiche für alle erdenklichen Freizeitaktivitäten genutzt werden würden. Dies ist insbesondere durch § 3 Abs. 2 der Stadtverordnung vom 18.8.1992 zum Ausdruck gebracht worden, wonach derjenige eine Sondernutzung vornimmt, der „durch Lagern, Übernachten, Musizieren, extensiven Freizeitsport oder andere Handlungen die Nutzung der Flächen durch andere verhindert oder erschwert.” Darüber hinaus enthält die Strand- und Badeordnung weitere einschränkende Verhaltensmaßregeln, ohne daß dort allerdings ausdrücklich ein Verbot des Betriebs von Modellflugzeugen enthalten ist. Die dort enthaltenen Einschränkungen befassen sich lediglich mit Lenkdrachen.
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Die Verkehrssicherungspflicht der Beklagten ist auch darauf zu erstrecken, daß sie im kurtaxenpflichtigen Bereich das Aufsteigenlassen von funkgesteuerten Modellflugzeugen untersagt und das Verbot auch tatsächlich zumindest dadurch überwacht, daß sie an den Kontrollstellen Kurgäste mit Modellflugzeugen nicht passieren läßt, weil das Aufsteigenlassen von funkgesteuerten Modellflugzeugen in einem an der Nordsee gelegenen, windgünstigen Freizeitbereich keine fernliegende Freizeitaktivität darstellt und im Fall eines einzukalkulierenden Absturzes eines Modellflugzeugs für Benutzer des Freizeitbereichs und der angrenzenden Gebiete eine erhebliche Verletzungsgefahr besteht, wobei die Gefahr einer Verletzung dadurch erhöht wird, daß bei gutem Wetter der Strandbereich durch zahlreiche Gäste bevölkert ist. Da auch von einem Modellflugzeug erhebliche Gefahren für Menschen ausgehen können und dies auch dadurch zum Ausdruck kommt, daß Flugmodelle gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 9 LuftVG zu den Luftfahrzeugen gehören, für die die Gefährdungshaftung eingreift, ist von einem Kurbetrieb zu verlangen, daß er im allgemein zugänglichen Strandbereich keine ferngesteuerten Modellflugzeuge zuläßt und bei den Einlaßkontrollen darauf achtet, daß niemand Flugmodelle in den allgemeinen Strandbereich mitnimmt.
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Zur Verkehrssicherungspflicht gehört auch die Vorbeugung mißbräuchlichen Verhaltens anderer, und zwar auch Erwachsener (BGH NJW 1978, 1629). Dies bedeutet, daß die Beklagte nicht darauf vertrauen konnte, daß der Eigentümer eines ferngesteuerten Segelflugmodells von sich aus das Verbot einhalten würde, im Strandbereich keine Modellflugzeuge aufsteigen zu lassen. Daß auch die Beklagte die Mitnahme ferngesteuerter Modellflugzeuge in den allgemeinen Strandbereich nicht für zulässig hält, ergibt sich bereits daraus, daß sie das durch Plakat bekanntgemachte Verbot des Steigenlassens von Lenkdrachen auch auf Modellflugzeuge ausgedehnt wissen will und nach den übereinstimmenden Aussagen der Zeugen Z., B. und G. niemand mit einem Modellflugzeug durchgelassen worden wäre. Diese Aussagen sind aufgrund der von der Beklagten erlassenen Dienstanweisung erklärlich. Dementsprechend gehörte auch die Durchsetzung des Verbots, keine größeren Flugobjekte im allgemeinen Strandbereich aufsteigen zu lassen, zur Verkehrssicherungspflicht; die Beklagte konnte sich nicht auf die Anbringung eines Verbotsschilds für die Benutzung von Lenkdrachen, dem darüber hinaus die Eindeutigkeit auch als Verbot für sämtliche Flugobjekte fehlte, beschränken. Ferner durfte die Beklagte nicht darauf vertrauen, daß Inhaber von zulassungspflichtigen Modellflugzeugen von sich aus den Strandbereich meiden würden, weil aufgrund der günstigen Windverhältnisse und der Lage in einem ausgedehnten Freizeitgebiet auch damit zu rechnen war, daß Benutzer des Kur- und Strandgebiets sich über ihnen bekannte Sicherheitserwägungen hinwegsetzten und Modellflugzeuge aufsteigen ließen.
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4. Die vom LG durchgeführte Beweisaufnahme hat ergeben, daß die Beklagte ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt hat, weil der Zeuge K. die Kontrollstelle der Zeugin Z. passieren konnte und von ihr nicht zurückgewiesen wurde, obwohl er die deutlich sichtbaren beiden Flügel, den Rumpf und den Funksender des Segelflugmodells mit sich führte. Wenn die Zeugin Z. die notwendige Maßnahme zur Abwehr von Gefahren für Benutzer des Strands und der von der Beklagten zu sichernden öffentlichen Straßen, Wege und Plätze unterließ, ergibt sich daraus zumindest der Vorwurf der Fahrlässigkeit. …
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Dem Verkehrssicherungspflichtigen gereicht es zum Verschulden, wenn er, wie in diesem Fall, eine gefährliche Praxis gekannt hat oder hätte kennen müssen und sie geduldet bzw. nicht abgestellt hat (BGH, v. 23.10.1990 – VI ZR 329/89, MDR 1991, 327 = VersR 1991, 341, 342). Sowohl Ziffer 21 der Dienstanweisung der Beklagten als auch die übereinstimmenden Aussagen der Zeugen, sie hätten niemand mit einem auseinandergebauten Modellflugzeug ihre Kontrollstelle passieren lassen, zeigen, daß die möglichen Gefährdungen anderer aufgrund der Benutzung von Segelflugmodellen, die ohne große Schwierigkeiten zusammengebaut und im Strandbereich aufsteigen gelassen werden können, erkennbar waren. Der Beklagten, die am Ende der öffentlichen Straßen in Richtung Strandbereich ohnehin Kontrollstationen unterhielt, um die Kurkarten der Gäste zu kontrollieren, war es zumutbar, bei dieser Gelegenheit zumindest eine Sichtkontrolle, durch die das Mitführen gefährlicher Gegenstände verhindert werden konnte, durchzuführen. Derartige Kontrollen lassen weder eine unzumutbare Arbeitsbelastung für das Personal der Beklagten noch eine Störung des Verhältnisses zum Kurgast erwarten, weil ein regelndes Eingreifen zum Schutz anderer bei der Ansammlung einer Vielzahl von Menschen üblich ist und zudem Ziffer 21 der Dienstanweisung der Beklagten entsprechende Hinweise an den Kurgast vorsieht, die ohne Sichtkontrollen nicht denkbar sind.