OLG Dresden, Urteil vom 12. April 2019 – 4 U 557/18
Keine Gefahrerhöhung durch das Aufbewahren des Fahrzeugscheins im Handschuhfach
1. Durch das Aufbewahren des Fahrzeugscheins im Fahrzeug wird der Schadensfall regelmäßig weder vorsätzlich noch grob fahrlässig herbeigeführt.(Rn.9)
2. Die auf Überforderung des Versicherungsnehmers beruhenden Falschangaben zu Nachschlüsseln und weiteren Nutzern eines gestohlenen PKW stellen abhängig von den Umständen des Einzelfalles einen mittleren Grad von Fahrlässigkeit dar, der eine Leistungskürzung um 50% rechtfertigen kann.(Rn.11)
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 23.03.2018 – Az.: 3 O 3243/12 – abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag von 5.630,49 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 21.11.2011 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
III. Die Kosten des Rechtsstreits in erster und zweiter Instanz werden gegeneinander aufgehoben.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Beschluss:
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 11.410,98 € festgesetzt.
Gründe
1
(abgekürzt gemäß §§ 540 Abs. 2; 313a Abs. 1 ZPO)
I.
2
Die zulässige Berufung der Klägerin hat teilweise Erfolg.
1.
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Der Klägerin steht gegenüber der Beklagten dem Grunde nach ein Anspruch auf Auszahlung einer Versicherungsleistung aus der zwischen den Parteien geschlossenen Kfz-Kaskoversicherung wegen des Diebstahls ihres Fahrzeuges in der Nacht vom 16. auf den 17.12.2010 zu.
a)
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Die Klägerin hat den von ihr zu führenden Entwendungsnachweis in erster Instanz mit Hilfe von Zeugen geführt. An den Versicherungsnehmer werden wegen der ansonsten drohenden Entwertung des Versicherungsschutzes grundsätzlich keine strengen Anforderungen hinsichtlich der Beweisführung gestellt. Seine Redlichkeit wird vermutet und es genügt auf der ersten Stufe der sogenannten Drei-Stufen-Theorie des BGH, dass er Tatsachen vorträgt, aus denen sich das äußere Bild eines Diebstahls mit hinreichender Wahrscheinlichkeit schließen lässt (st. Rspr. BGH, Urteil vom 05.10.1983, IVa ZR 19/82). Dies erfordert, dass er ein Mindestmaß an Tatsachen vorträgt, die nach der Lebenserfahrung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Schluss auf eine Entwendung zulassen. Das Mindestmaß ist in der Regel erfüllt, wenn der Versicherungsnehmer vorträgt und beweist, dass er oder eine andere zum Gebrauch befugte Person das Fahrzeug an einen bestimmten Ort zur einer bestimmten Zeit abgestellt und später nicht mehr vorgefunden hat (Brockmöller in ZfS 17, 184, 185 m.N. auf die BGH-Rechtsprechung). In erster Instanz haben sowohl die Zeugin B., die Tochter der Klägerin als auch die Zeugin M., Nachbarin der Klägerin, widerspruchsfrei und plausibel bekundet, dass das Fahrzeug am Abend vor der Tatnacht im Innenhof des Anwesens der Klägerin abgestellt worden und am Morgen danach unauffindbar gewesen sei. Anhaltspunkte für eine etwaige Unglaubwürdigkeit der Zeuginnen sind nicht ersichtlich und sind auch von keiner Seite vorgebracht worden. Gestützt wird die Annahme des äußeren Bildes eines Diebstahls zudem dadurch, dass nach der polizeilichen Ermittlungsakte die Kennzeichen des Fahrzeuges im Großraum L. im Nachgang gefunden wurden, nachdem sie offenbar vom Kfz abgeschraubt und weggeworfen worden waren und dass ferner beim später tatverdächtigen Zeugen R. persönliche Dinge und Schulsachen der Tochter der Klägerin gefunden wurden, die diese nach eigenem Bekunden in der Tatnacht im Auto gelassen hatte.
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Der Annahme des äußeren Bildes eines Diebstahls stehen auch nicht nach dem behaupteten Diebstahl am nächsten Morgen nicht vorhandene Schneespuren am Tatort entgegen. Zum einen setzt nach der Rechtsprechung das äußere Bild eines Diebstahls keine „stimmigen“ Einspruchsspuren voraus (vgl. Brockmüller, a.a.O., S. 187 m.w.N.), zum anderen ließe sich diese vermeintliche „Ungereimtheit“ auch damit erklären, dass der Schneefall erst nach der Tat eingesetzt hatte, so dass keine Reifenspuren des Wagens der Klägerin zu sehen waren.
b)
6
Ist danach auf der ersten Stufe dem Versicherungsnehmer der Beweis des äußeren Bildes eines Diebstahls gelungen, kann der Versicherer den Gegenbeweis dadurch führen, dass er konkrete Tatsachen nachweist, die die Annahme der Vortäuschung eines Versicherungsfalles zumindest mit erheblicher Wahrscheinlichkeit nahelegen (vgl. BGH, Urt. v. 13.01.1991 – IV ZR 74/90). Allein dass der Versicherungsnehmer nicht lückenlos schlüssige Angaben macht – wie hier beispielsweise zu den Schlüssel- und Nutzungsverhältnissen – und dabei möglicherweise auch eine Aufklärungsobliegenheit verletzt, kann für sich genommen diese erhebliche Wahrscheinlichkeit nicht nahelegen, wenn nicht noch weitere Verdachtsmomente im Hinblick auf die Vortäuschung einer Straftat vorliegen (BGH, Urt. v. 17.05.1995 – IV ZR 279/94 und Brockmüller, a.a.O., S. 189). Derartige Verdachtsmomente kann der Senat in der Gesamtschau dem Vorbringen der Beklagten nicht entnehmen. Auch die beigezogene Ermittlungsakte 252 Js 41908/11 der Staatsanwaltschaft Leipzig gibt hierfür nichts her. Im Ergebnis der persönlichen Anhörung hält der Senat die Angaben der Klägerin zudem für glaubhaft.
7
Daher ist im Ergebnis vom Diebstahl des Fahrzeugs der Klägerin und damit von einem versicherten Ereignis auszugehen.
2.
8
Von der danach eingetretenen grundsätzlichen Leistungspflicht ist die Beklagte zwar nicht vollständig aber teilweise leistungsfrei geworden.
a)
9
Von einer Gefahrerhöhung durch das Aufbewahren des Fahrzeugscheins im Handschuhfach des klägerischen Autos ist allerdings nicht auszugehen. Gemäß § 81 VVG i.V.m. Ziffer A.2.16 der AKB 2008 entfällt der Versicherungsschutz bei vorsätzlich herbeigeführten Schäden, im Falle grob fahrlässiger Herbeiführung kommt eine verhältnismäßige Kürzung des Anspruchs in Betracht. Eine Leistungsfreiheit wegen vorsätzlicher Herbeiführung scheidet aus. Hierfür genügt es nicht, dass die Klägerin den Kfz-Schein „vorsätzlich“ im Handschuhfach hatte liegen lassen. Vielmehr muss der Vorsatz sich auch auf den Versicherungsfall selbst beziehen (Prölss/Martin, VVG, 29. Aufl. AKB 2008, A.2.16 Rz. 3). für letzteres ist nichts ersichtlich.
10
Auch eine Kürzung wegen grober Fahrlässigkeit kommt insofern nicht in Betracht. Denn mag sich auch im Nachgang zu einem Diebstahl das In-den-Händen-halten des Kfz-Scheins für den Dieb als vorteilhaft erweisen so ist das Belassen des Kfz-Scheins im Auto in aller Regel nicht – und so auch hier nicht kausal für die Entwendung (BGH, Urteil vom 06.03.1996 – IV ZR 383/94, Orientierungssatz 1; Urteil vom 18.05.1995 – IV ZR 279/94 – jeweils zitiert nach juris).
b)
11
Die Beklagte ist allerdings teilweise leistungsfrei wegen der fahrlässigen Verletzung einer Aufklärungsobliegenheit. Hierbei ist zwar nicht von Arglist auszugehen, wohl aber von einer gesteigerten Fahrlässigkeit. Buchstabe E.1.3 der unstreitig zwischen den Parteien vereinbarten Allgemeinen Versicherungsbedingungen verpflichtet den Versicherungsnehmer „alles zu tun, was zur Aufklärung des Schadensereignisses dienen kann“. Hiernach ist der Versicherungsnehmer verpflichtet, die ihm vom Versicherer gestellten Fragen zu den Umständen des Schadensereignisses wahrheitsgemäß und vollständig zu beantworten sowie nach E.1.4 bei Eintritt des Schadensereignisses nach Möglichkeit für die Minderung des Schadens zu sorgen. Da der Versicherer in der Kaskoversicherung die Kosten einer etwaigen Schadensbeseitigung zu zahlen hat, hat er ein berechtigtes besonderes Interesse an der Schadensaufklärung, weshalb der Versicherungsnehmer im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nach E.1.3 nicht nur sämtliche als feststehend angenommenen Umstände anzugeben hat, sondern auch Verdachtsmomente, soweit sie über bloße Spekulationen oder Vermutungen hinausgehen (BGH, Urt. v. 21.01.1998 – IV ZR 10/97; Prölss/Martin, a.a.O., E.1 AKB 2008, Rz. 14). Die Klägerin ist unstreitig von der Beklagten auch auf die nach § 28 Abs. 1 bis 3 VVG möglichen Folgen bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Anzeigenpflichtverletzung hingewiesen worden.
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Im Anschluss an die Beweisaufnahme des Landgerichts und die ergänzende Anhörung der Klägerin steht zur Überzeugung des Senats fest, dass sie sowohl im Hinblick auf die Schlüsselverhältnisse als auch im Hinblick auf die Frage, durch wen und in welchen Zeiträumen das Fahrzeug außer ihr persönlich noch genutzt wurde, Falschangaben gemacht hat. So hat sie einerseits gegenüber der Versicherung bei ihrer Schadensanzeige vom 17.12.2010, obwohl ausdrücklich nach weiteren Nutzern gefragt worden war, den Zeugen und Tatverdächtigen R. noch nicht erwähnt. Weiter hat sie objektiv widersprüchliche Angaben zu den Schlüsselverhältnissen gemacht, die teilweise nicht mit der Wahrheit übereinstimmten. Im Schadensfragebogen der Beklagten vom 17.02.2011 hat sie die Frage 28 ausdrücklich damit beantwortet, dass sie beim Erwerb nur einen Schlüssel erhalten habe, während sie tatsächlich – und so im weiteren Verlauf auch von ihr dargestellt – zwei Schlüssel erhalten hatte. Schwer nachvollziehbar waren obendrein ihre Angaben zum Zeitraum des Verlustes eines Schlüssels und zur Reparatur bzw. zum Austausch eines defekten Schlüssels. Der Senat hat die Klägerin unter dem Gesichtspunkt der Aufklärungsobliegenheitsverletzungen nochmals persönlich angehört. Danach hat er sich zwar nicht die Überzeugung bilden können, dass die Klägerin im Zusammenhang mit den Falschangaben arglistig gehandelt hat. Die Arglist verlangt für § 28 Abs. 3 Satz 2 VVG über das Wollen der Obliegenheitsverletzung hinaus, dass das Verhalten des Versicherungsnehmers zumindest bedingt vorsätzlich darauf gerichtet ist, dem Versicherer einen Nachteil zuzufügen (Prölss/Martin, a.a.O., § 28 VVG, Rz. 197 m.w.N.). Auch wenn Angaben „ins Blaue hinein“ unter Umständen den Arglistvorwurf begründen können (Prölss/Martin, a.a.O., § 22 Rz. 9), zumindest aber müssen aber zumindest Ansatzpunkte für die Absicht vorhanden sein den Versicherer davon abzuhalten, an sich gebotene Ermittlungen über die Berechtigung des Anspruches anzustellen oder die Regulierung zu beschleunigen. Erforderlich ist stets eine Würdigung aller Einzelfallumstände. Nach dem Eindruck, den der Senat von der Klägerin gewonnen hat, war sie mit der Situation schlicht überfordert, insbesondere wegen unübersichtlicher organisatorischer Verhältnisse im Bereich ihrer vielfältigen geschäftlichen Aktivitäten. Es erscheint angesichts dessen wahrscheinlicher, dass die Klägerin schlicht unsorgfältig und durcheinander war, als dass sie den Versicherer durch vorsätzliche Falschangaben beeinflussen wollte, zu einem schnellen Ende der Ermittlungen und zur Vornahme der Regulierung zu kommen. Die Klägerin hatte zum fraglichen Zeitpunkt einen Pizza-Bringdienst mit 13 Kraftfahrzeugen, von denen das Streitgegenständliche privat genutzt wurde, sowie weiteren Fahrzeugen zum Ausbau ihres privaten Objektes, in dem sie zusätzlich eine Pension betrieb und ausbaute. Zum gleichen Zeitpunkt fanden auch umfangreiche Renovierungsarbeiten an ihrem Haus mit externen, polnischen Bauarbeitern statt und war sie alleinerziehende Mutter eines schulpflichtigen halbwüchsigen Kindes. Dies lässt es nicht unplausibel erscheinen, dass ihre nachlässigen Falschangaben, von denen der Senat überzeugt ist, dass sie bei gehöriger Sorgfaltsanwendung so nicht passiert wären, schlicht auf Überforderung oder Gedankenlosigkeit beruhten. Eine Überzeugung von subjektiven Momenten, die einen Arglistvorwurf begründen könnten, ließ sich demgegenüber nicht gewinnen. Allerdings bleibt die Überzeugung, dass es der Klägerin trotz ihrer seinerzeitigen mannigfaltigen Verpflichtungen und der Unübersichtlichkeit ihrer Verhältnisse bei Einhaltung der in einem solchen Falle gebotenen gehörigen Sorgfalt möglich gewesen wäre, von vornherein zutreffende Angaben zu machen. Dies wertet der Senat als Fahrlässigkeit, die sich an der Grenze zwischen einer groben und einer einfachen Fahrlässigkeit bewegt. Es ist nicht auszuschließen, dass die konkreten Ermittlungen dahingehend anders verlaufen wären, wenn man sich von vornherein auf den Verlust eines Schlüssels, mögliche Kopierspuren an dem Schlüssel und auf den Tatverdächtigen R. konzentriert und dies zu einem anderen Ermittlungsergebnis geführt hätte. Für einen von der Klägerin zu führender Kausalitätsgegenbeweis nach § 28 Abs. 3 Satz 1 VVG ist bei dieser Sachlage kein Raum.
13
Vielmehr ist die Beklagte zur angemessenen Leistungskürzung nach § 28 Abs. 2 VVG berechtigt. Bei der Festlegung der Quote geht der Senat nach Abwägung aller Umstände und insbesondere im Ergebnis der Anhörung der Klägerin von einem mittleren Grad an Fahrlässigkeit aus, der eine Leistungskürzung in Höhe von insgesamt 50 % rechtfertigt.
3.
14
Diese Leistungskürzung hat von einem Gesamtschadensbetrag in Höhe von 11.410,98 € zu erfolgen. Als hinreichend sichere Grundlage für eine Schätzung nach § 287 ZPO dient dabei dem Senat das eigene Schadensgutachten der Beklagten, auf das auch die Klägerin ihre ursprüngliche Klageforderung gestützt hat. Weder hat die Beklagte im Nachgang ihre eigene Schadensfeststellung substantiiert entkräftet, noch haben sich im Verlaufe des Rechtsstreites die von ihr zur Diskussion gestellten Vorschäden des Fahrzeuges bestätigt, vielmehr haben sowohl die Zeuginnen B. als auch M. bekundet, das Auto sei gepflegt und frei von Kratzern oder sonstigen Schäden gewesen. Danach errechnet sich die zuzusprechende Summe aus einem vom Sachverständigen der Beklagten selbst festgestellten Wiederbeschaffungswert in Höhe von 11.560,98 € abzüglich unstreitiger Selbstbeteiligungsbetrag von 150,00 €, was der zugesprochenen Summe von 5.630,49 € entspricht.
15
Die Beklagte befand sich mit der Zahlung der Versicherungsleistung ab dem 21.11.2011 in Verzug. Auch wenn das Verfahren gegen den Tatverdächtigen R. zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen war, hat sie zu diesem Zeitpunkt durch die mit Schreiben vom selben Tage ausgesprochene endgültige Leistungsablehnung (Anl. K 3) den Verzug herbeigeführt, vgl. § 14 VVG.
16
Verzugszinsen schuldet die Beklagte aus §§ 286 Abs. 2 Ziffer 2, 288 BGB.
II.
17
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
18
Der Streitwert wurde nach § 3 ZPO festgesetzt.
19
Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 543 ZPO nicht vorliegen.