BGH, Urteil vom 27.10.1978 – I ZR 30/77
1. Ein Verlust des Gutes im Sinne des CMRG Art 17 Abs 1 kann auch dann gegeben sein, wenn der Frachtführer das Gut nicht an den frachtbriefmäßigen Empfänger ausgeliefert hat, dieser aber das Gut bei einem Dritten auffindet und an sich bringt.
2. Finden auf den Frachtvertrag die Vorschriften der CMRG Anwendung, so ist gleichwohl ein Schadensersatzanspruch aus dem Gesichtspunkt der positiven Vertragsverletzung nicht ausgeschlossen, soweit die CMRG den Anspruch nicht abschließend regelt, dieser also nicht eine Folge von Verlust und Beschädigung des Gutes sowie einer Lieferfristüberschreitung ist.
3. Auf einen Anspruch wegen positiver Vertragsverletzung aus einer den Vorschriften der CMRG unterliegenden Beförderung ist die Verjährungsvorschrift des CMRG Art 32 anzuwenden.
(Leitsatz des Gerichts)
Tatbestand
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Die Klägerin nimmt die Beklagte zu 1 und deren persönlich haftenden Gesellschafter, den Beklagten zu 2, auf Zahlung von Frachtlohn in Höhe von 3.963,90 DM in Anspruch.
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Die Beklagte rechnet mit Schadensersatzansprüchen auf, die sie aus Falschauslieferungen herleitet. Dazu ist folgender Sachverhalt unstreitig: Im Mai 1974 beförderte die Klägerin im Auftrag der Beklagten Saatgut von Holland nach Belgien. Bei diesem Transport kam es zu einer Falschauslieferung verschiedener Sorten Buschbohnen bei den belgischen Firmen G. in Gi. und B. in A. . Die Klägerin sollte 4.000 kg Buschbohnen der Sorte P 3 bei der Firma G. abliefern. Stattdessen erhielt diese Firma 3.050 kg P 3, 900 kg Filetto und 50 kg Plutina. Die Firma B. erhielt statt 2.000 kg der Sorte Filetto und 500 kg der Sorte Plutina 1.100 kg Filetto, 450 kg Plutina und 950 kg P 3.
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Die Beklagten haben ihren Schaden zunächst auf 2.622,50 DM berechnet. Das Landgericht hat der Klage bis auf einen Teil der Zinsen stattgegeben und dazu ausgeführt, den Beklagten stehe nach den Vorschriften der CMR die zur Aufrechnung gestellte Forderung nicht zu.
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Im zweiten Rechtszug haben die Beklagten einen Teil der Frachtforderung in Höhe von 180,– DM bestritten; diesen Betrag hat das Berufungsgericht der Klägerin aberkannt; dieser Posten ist in der Revisionsinstanz nicht mehr anhängig.
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Im übrigen berechneten die Beklagten ihren Schaden wie folgt. Die an die Firma B. ausgelieferten 950 kg der Sorte P 3 habe die Beklagte zu 1 nicht mehr zu dem mit der Firma G. vereinbarten Preis von 385,– DM je 100 kg absetzen können. Die Saatbohnen hätten erst im nächsten Frühjahr 1975 als Vorjahressaat zu einem Preis von 350,– DM je 100 kg verkauft werden können. Das ergebe einen Schaden von 332,50 DM. Wegen der Falschauslieferung an die Firma G., für welche die Klägerin eine Schadensersatzleistung abgelehnt habe, habe die Firma G. ihre Geschäftsverbindung zu der Beklagten zu 1 abgebrochen. Daraus sei ein Gewinnausfall für 1975 und 1976 von über 15.000,– DM entstanden.
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Die Klägerin hat die Einrede der Verjährung erhoben. Das Berufungsgericht hat das Urteil des Landgerichts in Höhe von 3.783,90 DM bestätigt und die Revision zugelassen.
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Mit der Revision verfolgen die Beklagten ihren Antrag aus der Berufungsinstanz, die Klage in vollem Umfang abzuweisen, weiter. Die Klägerin bittet, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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I. 1. Das Berufungsgericht führt aus, einen Anspruch für den Gewinnverlust in Höhe von 232,50 DM, weil 950 kg der Sorte P 3 nur als Vorjahressaat mit einem geringeren Erlös hätten verkauft werden können, stehe der Beklagten nach den Vorschriften der CMR nicht zu.
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Zu einem Verlust der Saatbohnen sei es nicht gekommen, weil der Beklagte zu 2 die für die Firma G. bestimmten Saatbohnen bei der Firma B. habe ausfindig machen können. Es brauche daher nicht entschieden zu werden, ob auch die Auslieferung des Gutes an einen Nichtberechtigten als Verlust anzusehen sei.
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Einem Anspruch aus einer Überschreitung der Lieferfrist stehe Art 30 Abs 3 CMR entgegen. Danach könne Schadensersatz wegen Überschreitung der Lieferfrist nur gefordert werden, wenn binnen 21 Tagen nach dem Zeitpunkt, an dem das Gut dem Empfänger zur Verfügung gestellt worden sei, an den Frachtführer ein schriftlicher Vorbehalt gerichtet werde. Diese Frist sei im Streitfall nicht eingehalten worden. Die Auslieferung des Saatgutes an die Firmen G. und B. sei am 7. und 8. Mai 1974 erfolgt, die erste Reklamation der Beklagten jedoch erst mit Fernschreiben vom 31. Mai 1974, also 23 Tage nach Auslieferung des Gutes. Schließlich stehe auch einem Anspruch aus positiver Vertragsverletzung, der nach den Vorschriften der CMR nicht grundsätzlich ausgeschlossen sei, die Fristversäumung des Art 30 Abs 3 CMR entgegen; die entsprechende Anwendung sei geboten, um die Haftungsbegrenzungen der CMR nicht auszuhöhlen und praktisch aufzuheben. Die Regeln der KVO seien auf den Fall nicht anzuwenden, da die Beförderung nur im Ausland (Holland-Belgien) erfolgt sei (§ 1 KVO vgl auch Guelde-Willenberg, KVO, 2. Aufl Rdn 70, 71 zu § 1).
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2. Diese Ausführungen werden von der Revision mit Erfolg angegriffen.
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Das Berufungsgericht geht davon aus, ein Verlust des Gutes (hier 950 kg der Sorte P 3) im Sinne der Haftungsvorschrift des Art 17 Abs 1 CMR komme deshalb nicht in Betracht, weil der Beklagte zu 2 die Sendung bei der Firma B. ausfindig gemacht und wieder in seine Verfügungsgewalt gebracht habe.
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Dem kann nicht zugestimmt werden.
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Der Frachtführer hat in diesem Fall die ihm obliegende vertragliche Hauptleistung nicht erfüllt, das ihm übergebene Gut (hier 950 kg Saatgut der Sorte P 3) an den frachtbriefmäßigen Empfänger (die Firma G.) auszuliefern. Er hat vielmehr die Sendung an einen Nichtberechtigten ausgeliefert. Auch nachträglich hat er die Sendung nicht an den berechtigten Empfänger ausgeliefert. Das Gut ist deshalb in Verlust geraten; es kommt nicht darauf an, ob das Gut körperlich noch vorhanden ist und ob der Absender das Gut nachträglich wieder auffinden konnte und in irgendeiner Weise wieder an sich gebracht hat (vgl Schlegelberger-Schröder 5. Aufl, Rdn 3 zu § 429 HGB; Heuer, Die Haftung des Frachtführers nach CMR, S 68, 69, 105; Guelde-Willenberg Rdn 26 zu § 29 KVO Ratz-RGRK HGB 2. Aufl Anm 2 zu § 414 Anm 5 zu § 429; BGHZ 36, 329, 332 = Auslieferung an Nichtberechtigten ist Verlust iS des § 606 HGB; OLG Hamburg VersR 64, 401; BGH VersR 63, 45, 46). Dieser Gesichtspunkt kann im Rahmen der Schadensminderung von Bedeutung sein. Der Begriff des Verlustes des Gutes im Rahmen der frachtvertraglichen Auslieferungspflicht des Frachtführers ist auch in Art 20 Abs 1 CMR dadurch verdeutlicht, daß eine nicht widerlegbare Vermutung des Verlustes zugunsten der Verfügungsberechtigten aufgestellt ist, wenn das Gut nicht binnen 60 Tagen nach Übernahme durch den Frachtführer abgeliefert worden ist; die CMR stellt demnach maßgeblich auf die Nichterfüllung der Auslieferungspflicht ab.
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Die Beklagten können deshalb nach Art 17 Abs 1 CMR wegen Verlustes des Gutes Schadensersatz von der Klägerin verlangen. Bei der Berechnung des Schadens ist, wie bereits erwähnt, zu berücksichtigen, daß der Empfänger die Ware aufgefunden und an sich gebracht hat. Die Höhe der Ersatzleistung richtet sich im übrigen nach Art 23 CMR. Insoweit kann das Revisionsgericht mangels Feststellung der erforderlichen Tatsachen nicht selbst entscheiden.
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Für die erneute Verhandlung ist noch auf Folgendes hinzuweisen: Die Klägerin hat im Verlaufe des Rechtsstreits behauptet, die Falschauslieferungen seien durch mangelhafte Bezeichnungen der Güter verursacht worden; sie macht damit einen Haftungsausschließungsgrund nach Art 17 Abs 4 Buchst e CMR geltend; danach ist der Frachtführer von seiner Haftung befreit, wenn ua der Verlust durch ungenügende oder unzulängliche Bezeichnung oder Numerierung der Frachtstücke entstanden ist. Das Berufungsgericht wird, falls solche Unzulänglichkeiten festgestellt sein sollten, sich weiter mit dem Vortrag der Beklagten auseinanderzusetzen haben (Berufungsbegründungsschrift vom 7.7.76), wonach die Beklagten in zwei getrennten Auftragsschreiben vom 22.4. und 24.4. Abholung, Transport und Auslieferung der später teilweise falsch ausgelieferten Güter genau beschrieben hätten, und die Verwechslung dadurch entstanden sei, daß die Klägerin beide Aufträge in einem Transport zusammengefaßt habe. Nach diesem Sachvortrag hätte die Klägerin die ihr nach den Aufträgen obliegenden Sorgfaltspflichten verletzt und könnte sich daher auf die Haftungsbefreiung nach Art 17 Abs 4 Buchst e CMR nicht berufen.
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Auf die vom Berufungsgericht angestellten Erwägungen zu einem Anspruch auf Schadensersatz aus einer Überschreitung der Lieferfrist kommt es nach allem nicht an.
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Das Berufungsgericht wird sich auch mit der von der Klägerin erhobenen Einrede der Verjährung befassen müssen, die sich nach Art 32 CMR richtet. Insoweit berufen sich die Beklagten auf die Hemmungsvorschrift des Art 32 Abs 2 CMR (Berufungsschrift v 7.7.76).
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II. 1. Hinsichtlich des Anspruchs auf Ersatz des durch den Abbruch der Geschäftsbeziehungen mit der Firma G. verursachten entgangenen Gewinnes führt das Berufungsgericht aus (BU 17), auch dieser Schaden sei letztlich die Folge einer Lieferfristüberschreitung hinsichtlich der versehentlich an die Firma B. ausgelieferten 950 kg Buschbohnen der Sorte P 3, welche für die Firma G. bestimmt gewesen seien. Denn wenn die Verwechslung vor der Aussaat entdeckt worden wäre, hätten der Firma G. die Fehlmengen nachgeliefert werden können und ein Schaden durch eine Aussaat vermischter, später und früher Bohnensorten, wäre vermieden worden.
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Im übrigen gehe der geltendgemachte Schaden weit über den nach Art 23 Abs 5 CMR festgesetzten Höchstbetrag hinaus. Aber auch ein auf die Frachtkosten begrenzter Schaden könne nicht mehr geltendgemacht werden, weil die Rügefrist des Art 30 Abs 3 CMR nicht eingehalten worden sei. Dieser Gesichtspunkt sei auch entscheidend, wenn der geltendgemachte Anspruch nur unter dem Gesichtspunkt der Falschauslieferung betrachtet werde.
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2. Dem kann nicht gefolgt werden.
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Nach dem Vortrag der Beklagten (Berufungsbegrschrift v 7.7.76) ist ihnen ein weiterer Schaden dadurch entstanden, daß die Firma G. die Geschäftsbeziehungen zu ihnen abgebrochen habe; die Folge sei ein Gewinnausfall in den folgenden Jahren gewesen; Grund für den Abbruch der Geschäftsbeziehungen sei gewesen, daß durch die Lieferung von 3.050 kg P 3, 900 kg Filetto und 50 kg Plutina statt 4.000 kg P 3 bei der Aussaat die Sorten vermischt worden seien, der Firma G. dadurch ein Schaden durch Ertragsausfall (es handelte sich um frühe und späte Sorten) entstanden sei und die Klägerin sich geweigert habe, den Schaden zu ersetzen. Der Schaden ist, die Richtigkeit des Vortrags unterstellt, demnach durch die Auslieferung von nicht für die Firma G. bestimmten Sendungen an diese entstanden. Anspruchsbegründender Tatbestand ist nicht der Verlust des beförderten Gutes, sondern Auslieferung nicht für die Firma G. bestimmter Güter und ein durch diese verursachter Schaden, also ein Fall von positiver Vertragsverletzung, der in der CMR nicht geregelt ist. Nach allgemeiner Meinung sind von der CMR nicht geregelte Ansprüche nicht ausgeschlossen, vielmehr ist insoweit auf die nationalen Rechtsvorschriften zurückzugreifen, soweit die CMR die vertragliche Haftung des Beförderers nicht abschließend regelt (vgl Heuer aaO S 183 mwN; Helm, Haftung für Schäden an Frachtgütern 1966 S 173, 175; Precht-Endrigkeit 3. Aufl, Anm 10 zu § 12 CMR; Muth, Leitfaden zu CMR 3. Aufl Vorbemerkung zu Art 17 aE S 72). Im Streitfall ist, wie bereits dargelegt, der Schaden nicht die Folge des Verlustes oder der Beschädigung von Gütern oder einer Lieferfristüberschreitung – diese Folgen sind in Art 17ff CMR abschließend geregelt -. Die Grundsätze über die Folgen einer positiven Vertragsverletzung sind daher anzuwenden.
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Bei der Prüfung des Anspruchs der Beklagten ist jedoch weiter zu berücksichtigen, daß auch die Beklagten ihrerseits eine Bedingung für die Entstehung ihres Schadens gesetzt haben könnten, wenn nämlich die Firma G. einen vertraglichen Schadensersatzanspruch gegen sie gehabt haben sollte, den zu erfüllen sie sich geweigert hätten. Selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, so bedarf das Verhalten der Beklagten einer Prüfung unter dem Gesichtspunkt des § 254 BGB, nämlich es unterlassen zu haben, den Schaden abzuwenden durch Zahlung des Schadensersatzes an die Firma G. . Dieser Betrag käme auch als Schadensersatzleistung der Klägerin an die Beklagten in Betracht. Bei seiner Berechnung wäre allerdings auch der Vortrag der Klägerin (wiederum im Rahmen des § 254 BGB) zu berücksichtigen, bei der Verteilung des Saatgutes bei der Firma G. habe man nicht auf die auf den Säcken angebrachten Sortenbezeichnungen geachtet; wäre dies geschehen, dann sei nicht gemischt ausgesät und vermindert geerntet worden.
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Hinsichtlich der Höhe des Schadensersatzbetrages ist darauf hinzuweisen, daß die Vorschriften der CMR über den Umfang der zu leistenden Entschädigung auf vertragliche Ansprüche nach allgemeinem Recht keine Anwendung finden; Art 28 CMR betrifft nur die Anwendung auf außervertragliche Ansprüche (vgl Loewe, Erläuterungen zur CMR, Europäisches Transportrecht II/1976 Nr 215 zu Art 28 S 574; Heuer aaO S 187). Dagegen wird das Berufungsgericht sich auch in diesem Zusammenhang mit der von der Klägerin eingewendeten Verjährung zu befassen haben; Art 32 Abs 1 CMR gilt für Ansprüche des Frachtführers und gegen den Frachtführer (vgl BGH v 28.2.75 – I ZR 35/74 – NJW 75, 1075) „aus einer diesem Übereinkommen unterliegenden Beförderung“; damit sind nicht nur Ansprüche erfaßt, die in der CMR geregelt sind, sondern auch solche Ansprüche, die aus den heranzuziehenden allgemeinen nationalen Vorschriften hergeleitet werden; Voraussetzung für die Anwendung des Art 32 CMR ist, daß die Ansprüche aus einer der CMR unterliegenden Beförderung, also aus einem bestimmten tatsächlichen Vorgang entstanden sind (vgl Loewe, ETrR 76/II Nr 257, 238); so hat der erkennende Senat den Anspruch des Absenders auf Rückgewährung zuviel gezahlter Fracht der Vorschrift des Art 32 Abs 1 CMR unterworfen mit der Begründung, es fehle nicht an einem Zusammenhang zwischen einer der CMR unterliegenden tatsächlichen Beförderung und dem geltend gemachten Anspruch (Urteil v 18.2.72 – I ZR 103/70 – NJW 72, 1003; ähnlich OLG Nürnberg NJW 75, 501: Erstattung verauslagter Umsatzsteuer: OLG Düsseldorf NJW 76, 1594: Ansprüche aus unerlaubter Handlung). Die im Streitfall in Betracht kommenden Ansprüche aus einer positiven Vertragsverletzung stehen ebenfalls in einem sachlichen Zusammenhang mit der der CMR unterliegenden Beförderung und unterliegen damit der Verjährungsvorschrift des Art 32 CMR.
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3. Der vom Berufungsgericht auch insoweit herangezogene Gedanke des Art 30 Abs 3 CMR, wonach Schadensersatz wegen Überschreitung der Lieferfrist nur gefordert werden kann, wenn binnen einundzwanzig Tagen nach dem Zeitpunkt, an dem das Gut dem Empfänger zur Verfügung gestellt worden ist, an den Frachtführer ein schriftlicher Vorbehalt gerichtet wird, ist nur auf den damit geregelten Sonderfall anwendbar und nicht erweiterungsfähig. Der Sicherung einer kurzfristigen Erledigung von Beanstandungen dient die Verjährungsvorschrift des Art 32 CMR.
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III. Nach allem war das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.